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Grenzüberschreitendes UNESCO-Weltkulturerbe

Das erste was dem Besucher im Nationalpark Neusiedlersee auffällt ist das Schilf. Bis zu vier Kilometer erstreckt es sich zwischen Wasser und Land, ein nahezu undurchdringliches Dickicht. Ein Eldorado für die unzähligen Wasservögel, ein Ärgernis für alle Landbewohner.

Von Susanne Lettenbauer | 06.08.2003
    Seit vor 10 Jahren der Nationalpark feierlich eröffnet wurde sind deshalb Gegenmaßnahmen beschlossen worden. Imposant gehörnte Graurinder aus Ungarns Steppe stutzen den einst weitaus breitere Schilfgürtel gemeinsam mit jenen weißen Esel mit hellwasserblauen Augen, die einst von Gutsbesitzern in der Monarchie gezüchtet worden waren.

    Sieht man diese beeindruckenden Herden wie auch die gut 100 belockten Wollschweine in einem Gehege unweit der weisschimmernden Salzwiesen, dann versteht man die Nationalparkleitung, dass sie viel Energie in die Erhaltung der imposanten alten Haustierrassen steckt. Seit Jahrhunderten wurde die Steppenlandschaft mit großen Herden dieser Haustierrassen beweidet. Durch den Siedlungsdruck nach dem zweiten Weltkrieg gab man die "Hutweiden” - auf ungarisch puszta - aber auf.

    Entscheidend in der Geschichte des Nationalparks war das Jahr 1971, als die österreichische Regierung quer über den See eine Brücke spannen wollte. Der Kampf gegen dieses umstrittene Großprojekt gilt heute als der Startschuss für den 22 Jahre später Realität gewordenen Nationalpark Neusiedlersee.

    Der österreichische Nationalparkdirektor Kurt Kirchberger bezeichnet die Entwicklung des Nationalparks deshalb nur mit einem Wort - eine "Erfolgsstory” sei es, nach einem schwierigen Anfang:

    Als wir begonnen haben in einer Landschaft, wo sehr viele Nutzungsdrucke draufgelegen haben, weil jeder Quadratzentimeter Privateigentum ist, musste ein sehr schwieriger Prozess zunächst vonstatten gehen, das heißt diese Privatinteressen waren zu entflechten, um den Nationalpark zu etablieren.

    Noch immer gehören die rund 100 Quadratkilometer Nationalpark auf österreichischer Seite mehr als 1200 Familien, die dem Nationalpark jedoch volles Zugriffsrecht auf die Flächen gewähren. Ungarn hatte es da 1993 mit seinen 230 Quadratkilometer Nationalpark wesentlich leichter - aufgrund der ehemaligen kommunistischen Planwirtschaft.

    Auf österreichischer Seite dürfen sogar Weizen und Wein in dem eigens deklarierten Kulturlandschaftsteil angebaut werden. Rund 1000 Weinbauern sind es, halb so viel wie vor fünf Jahren:

    Wenn man sich die großen geschlossen Flächen anschaut und nicht Botaniker ist, dann sieht man keinen wirklichen Effekt. Wenn man aber weiß, dass da drinnen 400 bis 600 Hektar Ackerland bis vor fünf Jahren waren, dann ist das einfach eine Sukzession in der wir uns befinden, die noch keineswegs am Ende ist. Aber ein gewisser Weinbauanteil wird in dieser Landschaft immer bleiben. Ich denke es ist auch gut so.

    Der Begriff "Nationalpark” bekommt am Neusiedlersee eine pikante Note. Was ist daran eigentlich national, wenn er doch binational, in Ungarn und Österreich existiert. Für Nationalparkdirektor Kurt Kirchberger ist ein Nationalpark etwas, worauf eine Nation stolz sein kann und auf ihren Nationalpark Neusiedlersee sind die Ungarn ebenso stolz wie die Österreicher. Auch wenn er und seine Mitarbeiter vom WWF nicht einfach über den See schippern können zu ihren ungarischen Kollegen. Im grenzüberschreitenden Nationalpark gelten noch immer dieselben Formalitäten wie für andere Grenzübergänge. Trotzdem sehen sich die beiden Naturparkdirektionen diesseits und jenseits des Sees regelmäßig, mit dabei WWF-Vorsitzender in Österreich Günter Lutschinger:

    Das ist ganz wichtig, dass wir hier zusammenarbeiten im Sinne des gemeinsamen europäischen Naturerbes. Wir dürfen nicht glauben, dass etwa in Osteuropa der Naturschutz keinen Stellenwert hat. Sie haben in vielen Bereichen sogar Leadership-Wirkung gezeigt, indem sie zuerst große Wildnisgebiete ausgewiesen haben, wenn ich an Polen oder an Ungarn denke, das haben sie uns voraus. Da gibt es noch die großen Naturräume, aber jetzt, wo die politischen und wirtschaftlichen Änderungen in diesen Ländern passieren sind diese Naturjuwele natürlich auch bedroht.

    Sein ungarischer Kollege Antal Festetics:

    Wir Ungarn können natürlich auch etwas den Österreichern zurückgeben, zum Beispiel Erfahrungen und neue Ideen aus den osteuropäischen Staaten. Wie können wir das Einzigartige der pannonischen Region bewahren. Nehmen Sie die Großtrappe. Die Mehrzahl der grenznah lebenden Population ist hier in Ungarn.

    Bereits 1978 hatte der Österreichische Naturschutzbund seinen Naturschutztag unter das Motto "Nationalpark Neusiedler See - Modell zwischenstaatlicher Zusammenarbeit" gestellt. Mit dem so genannten Mattersburger Manifest wurde damals nicht nur auf den zunehmenden Nutzungsdruck durch Siedlungen, Landwirtschaft und Tourismus reagiert, sondern erstmals die Notwendigkeit einer grenzüberschreitenden Nationalparkplanung festgehalten.

    Den Titel "einziger grenzüberschreitender Nationalpark Europas” musste der Neusiedlersee mittlerweile aufgeben, denn seit August 2001 macht ihm der neue tschechisch-österreichische "Inter”-Nationalpark "Thayatal - Podyji" Konkurrenz. Konkurrenzlos steht der Neusiedlersee aber noch immer da als "Unesco-Weltkulturerbe” - ein beflügelnder Begriff für Kirchberger und seine ungarischen Kollegen. Beflügelnd, dass man so weitermacht wie bisher zum Beispiel bei der Beobachtung des Wasserpegels:

    Seit zwei Jahren sinkt der Wasserstand des Neusiedler Sees deutlich. Besitzer von großen Segelbooten haben schon ihre Probleme mit dem Tiefgang. Aber austrocknen, versprechen die Experten, wird er nicht. Obwohl das ein ganz natürlicher Vorgang wäre. Denn der Neusiedler See ist - als westlichster Steppensee Europas - dem Wasserhaushalt der Steppenseen unterworfen und der hängt einzig von den Niederschlägen ab. Künstliche Zuflüsse zu schaffen aus der Donau, Raab und Rabnitz ist ein Projekt, das derzeit noch geprüft wird. Damit könnte verhindert werden, was zuletzt Mitte des 19. Jahrhunderts passierte. Von 1866 bis 1872 war der See trocken. Mit bösen Konsequenzen - zumindest für Gourmets:

    Die Botrytis, der Edelschimmel beim Wein, trat nicht mehr auf und verhinderte die Produktion der weltberühmten Edelsüßen.