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Großartiger Monolog berührt den Leser

"Moskau – Petuschki", ein Poem von Venedikt Jerofeev, wurde lange Zeit als "hochprozentigste Sauftour der Weltliteratur" missverstanden. Die neue Übersetzung von Peter Urban ist den stilistischen Wechselbädern des Originals gewachsen. So macht er das kunstvolle Geflecht erstmals auch für deutschsprachige Leser kenntlich.

Von Brigitte van Kann |
    "O Vergänglichkeit! O kraftloseste und schändlichste Zeit im Leben meines Volkes – die Zeit vom Morgengrauen bis zum Öffnen der Geschäfte! Wieviele zusätzliche graue Strähnen hat sie uns allen, uns unbehausten und sehnsüchtigen Brünetten ins Haar geflochten. Geh, Venitschka, geh!"

    Venitschka, der trinkende Held, ist in einem fremden Treppenhaus erwacht und macht sich verzweifelt auf die Suche nach dem dringend benötigten ersten Schluck. Erst am Kursker Bahnhof in Moskau bekommt er sein Lebenselixier und besteigt wie jeden Freitag den Zug ins 120 Kilometer entfernte Provinznest Petuschki, in seinem Köfferchen das für die Fahrt erforderliche Alkoholsortiment, Bonbons Marke "Kornblume" für die Geliebte und 200 Gramm Nüsse für den kleinen Sohn.

    Weil in diesem Buch so viel und nach allen Regeln der Kunst getrunken wird, hat man es als "hochprozentigste Sauftour der Weltliteratur", so der alte Klappentext, missverstanden. 1988/89 während Gorbatschows Anti-Alkohol-Kampagne wurde das russische Original zum ersten Mal veröffentlicht – offenbar zur Abschreckung, in einem dubiosen Blättchen mit Namen "Nüchternheit und Kultur".

    Es ist Venitschkas 13. Fahrt nach Petuschki, und der Aberglauben erfüllt sich: Venitschka trinkt, bis seine Wahrnehmung abhebt: König Mithridates trachtet ihm nach dem Leben, eine Sphinx stellt ihm unlösbare Rätsel, Erinnyen hetzen ihn durch den Zug – diesmal erreicht er Petuschki, sein ersehntes allwöchentliches Paradies, nicht. Stattdessen findet er sich von Krämpfen und Entsetzen geschüttelt in Moskau wieder, wo er seinen Todesengeln begegnet. In einem Treppenhaus stellen sie ihr Opfer.

    Als Venedikt Jerofeev sein Meisterwerk 1970 schrieb, verschleierte der Alkoholdunst dessen wahren Gehalt: Es prophezeite nichts Geringeres als den Untergang der kommunistischen Gewaltherrschaft und den Triumph des geschundenen Menschen.

    Der Rausch, die Halluzinationen seines Helden ermöglichten dem Autor erst die poetische Verschlüsselung der gefährlichen Botschaft – sie erlaubten ihm, die Grenzen von Raum und Zeit zu sprengen und Venitschkas so überaus sowjet-alltägliches Martyrium mit der Passion Christi und der Apokalypse zu verschränken.

    An einem Freitag fährt dieser versoffene russische Christus seiner Hinrichtung entgegen, der Fahrplan bestimmt die Stationen seines Leidenswegs. Von Anfang an begleitet ihn das Bild des Kreuzes: wenn er auf der vergeblichen Suche nach dem Kreml Moskau durchquert, "von Nord nach Süd, von Ost nach West". Als Venitschka in Panik erkennt, dass er Petuschki nicht erreichen wird, verfinstert sich der Himmel am hellichten Tag – wie vor Jesu Tod. Der Passion aber folgt die Auferstehung. Nicht zufällig führt Jerofeev seinen Helden im Kreis: Er stirbt, wo er am Morgen erwacht ist. Der Kreis: ein Sinnbild der Vergeblichkeit, aber auch das Symbol des ewigen Lebens!

    Die Zahlen vier und sieben aus der christlichen Mystik verknüpfen Venitschkas Kreuzweg zudem mit der Apokalypse, der Offenbarung des Johannes, die den Sieg über den Satan feiert, "dass er nicht mehr verführen sollte die Völker". Vier Namenlose töten ihn, "durchaus keine Räubervisagen, eher sogar mit einem Anflug von etwas Klassischem". In den vier Todesengeln haben russische Leser vier bekannte Völkerverführer erkannt: die Klassiker des Marxismus-Leninismus. Die Schusterahle, mit der sie Venitschkas Kehle durchbohren, verweist auf Stalin, dessen Vater Schuhmacher war.

    Venedikt Jerofeev hat viele Ebenen in sein Meisterwerk eingezogen, neben dem Buch der Bücher auch die Weltliteratur und den Fundus der russischen Klassiker, die reale sowjetische Alltagswelt und die seelischen und körperlichen Qualen des Trinkers. Jeder Punkt einer jeden Ebene ist mit Punkten anderer Ebenen verlinkt. Eine Computergrafik könnte den Text in seiner ganzen synaptischen Komplexität zeigen. Denn Venitschkas Gehirn ist der eigentliche Ort der Handlung, es produziert den großartigen Monolog, aus dem das ganze Buch besteht und der in der Zwiesprache mit dem Leser eine berührende Nähe herstellt.

    "Moskau - Petuschki" ist dermaßen mit Zitaten und Anspielungen gespickt, dass selbst der russische Kommentar, obwohl bereits auf das Dreieinhalbfache des Texts angewachsen, unvollständig ist. Man bräuchte wohl ein "Dechiffrier-Syndikat" wie im Falle Arno Schmidts. Selbst einem Kenner wie Peter Urban ist, nach eigenem Bekunden, bei der Kommentierung von "Moskau - Petuschki" mulmig geworden.

    Seine Neuübersetzung ist den stilistischen Wechselbädern des Originals gewachsen, das manchmal sogar innerhalb eines Satzes die Tonart wechselt: von der Bibel in die Gosse und zurück. Weil Peter Urban im Dickicht der Zitate und Anspielungen die Orientierung nicht verliert, macht er das kunstvolle Geflecht erstmals auch für deutschsprachige Leser kenntlich.

    Hier lagen die Schwächen der 1978 erschienenen, dürftig kommentierten deutschen Erstübersetzung, in der das Buch dennoch zum Geheimtipp wurde – wenn auch als Schilderung einer "feuchtfröhlichen Zugfahrt", wie der Klappentext versprach. Schon der harmlose Titel "Die Reise nach Petuschki" führte in die Irre. Nun heißt er wie im Russischen knapp, poetisch und fahrplangerecht: "Moskau – Petuschki".

    Nicht ohne Grund hat Venedikt Jerofeev seinen Text als Poem bezeichnet, eine Verneigung von Nikolaj Gogol, der seine "Toten Seelen" ebenfalls ein Poem nannte. "Und wenn es keinen Gogol gegeben hätte", hat Jerofeev einmal gesagt, "dann gäbe es auch den Autor Jerofeev nicht." Auch ohne diese Referenz versteht man, dass sein Meisterwerk unmöglich eine Erzählung oder gar ein Roman genannt werden kann – dazu ist die Kompression, der Verdichtungsgrad zu hoch.

    Seinem Helden Venitschka (vertraut-familiär für "Venedikt") schenkte der Autor seinen Namen und seine Identität. Wie Venitschka arbeitete Venedikt Jerofeev eine Zeit lang bei der Fernkabelverlegung, ein bekennender Trinker, ein verkanntes Genie, ein Outcast und Gelehrter, der die Bibel auswendig kannte und unter dem Kreuz des Sowjetkommunismus litt: "Ich habe viel erlebt, viel getrunken und durchdacht – und weiß, was ich sage."