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Große Namen in kleinem Verlag

Der Berliner herzrasen-Verlag hat sich dem stetig beliebter werdenden Hörbuch verschrieben. Nina Hoss, Philipp Hochmair, Sophie Rois – das Aufgebot an hochkarätigen Schauspielern ist für einen so kleinen Verlag beeindruckend. Und das Andrea Gerk, die den Verlag vor drei Jahren gegründet hat, vom Theater kommt, macht sich in den Produktionen positiv bemerkbar.

Von Tobias Lehmkuhl |
    Bekannt ist Gertrud Kolmar vor allem als Dichterin. Viele ihrer Gedichte zählen zu den Höhepunkten deutscher Lyrik im 20. Jahrhundert. Aber auch Kolmars Prosa ist sprachlich fein gesponnen, durchwirkt von kurzen, schillernden Dialogen. Niemals fasert sie aus; alles ist in ihr auf den Punkt gebracht. Das wird in der Hörfassung der Erzählung "Susanna", die Sophie Rois für den kleinen Verlag herzrasen eingesprochen hat, besonders deutlich:

    "Isst du Honig? Ich esse den etwas bitteren gern, der nach Wachs schmeckt. Er kommt vom alten Schumacher Henzel. Milda hat ihn geholt. Den machen die Bienen. Ich war dabei, das sind keine Träume. Wenn wir Schuhe hinbrachten ging ich immer zu den Stöcken am Zaun und sah wie die Bienen flogen und Gelbes trugen. Der alte Schuster hat uns erzählt von der Königin und von den Drohnen – Du weißt viel von den Tieren, Susanna – Ich bin doch ein Tier – Sie sagte das ohne Lächeln, sie stellte das ruhig fest, wie eine Frau, wenn von Völkern die Rede geht, feststellen würde, Ich bin doch Polin oder Ich bin doch Holländerin. Ihr Gesicht schloss sich zu, schied sich gleichsam von mir, war wirklich nicht mehr eines Menschen."

    Susanna heißt die Hauptfigur in Gertrud Kolmars um 1940 entstandener gleichnamiger Erzählung. Die 20-jährige Waise ist der Obhut eines Vormunds unterstellt. Die Gründe für ihre Unmündigkeit sind unklar, allem Anschein nach hält man sie für verrückt. Aus heutiger Sicht aber scheint Susanna lediglich mit viel Fantasie und einer ordentlichen Portion erotischer Leidenschaft ausgestattet. Letztere kostet sie schließlich das Leben. Viele Jahre nach ihrem Tod erzählt ihr Kindermädchen Susannas Geschichte.

    Sophie Rois nun liest den Text nicht einfach ab. Schauspielerin, die sie ist, setzt sie alles daran, ihn lebendig werden zu lassen. So schlüpft sie in die Rolle des Kindermädchens, und fast erschreckend ist es, wie es ihr gelingt, durch minimale Nuancierung auch den übrigen Figuren jeweils eigenständige stimmliche Gestalt zu verleihen. Darin zeigt sich Sophie Rois' große Kunst: ihr untrügliches Gespür für Dynamik und Tempi und ihre erstaunliche Fähigkeit, Pausen mit Erwartung derart aufzuladen, bis sie nahezu überquellen. Die Trauer des Kindermädchens um den verlorenen Schützling wie das Leid der hoffnungslos verliebten Susanna stellt sie besonders eindrücklich dar:

    "Nein, ach nein, ich, ich bin so allein. - Sie schluchzte zum Herzzerbrechen. Ich beugte mich zu ihr und war erschrocken und streichelte ihre Schläfen, ihr Haar. Sei ruhig, sei ruhig, hör auf. Sie scherzte nicht; sie liebte, sie weinte. – Ach, ich kann nicht, ich kann nicht, ich liege hier und bin krank und er kommt nicht. Er soll doch kommen, einmal nur, ach, ich hab ihn so lieb."

    Wie bei so vielen anderen Verlagen handelt es sich auch beim herzrasen-Verlag, in dem Sophie Rois’ "Susanna"-Aufnahme soeben erschienen ist, um ein Idealistenprojekt. Kaum ein anderer Kleinverlag aber ist von ähnlicher Professionalität geprägt, von vergleichbarer Versiertheit, was schauspielerische und dramaturgische Fragen angeht. Deutlich bemerkbar macht es sich, und das keineswegs zum Nachteil, dass Verlagsgründerin Andrea Gerk vom Theater her kommt. An den Start gegangen ist herzrasen vor drei Jahren mit einer von Philipp Hochmair gesprochenen, rasanten Kurzfassung von Goethes "Werther". Philipp Hochmair, Mitglied im Ensemble des Wiener Burgtheaters, ist ebenfalls alleiniger Akteur auf zwei weiteren herzrasen-CDs, einer zweistündigen Fassung von Franz Kafkas "Prozess", die 2004 für den Deutschen Hörbuchpreis nominiert war, und der jüngst erschienenen, ebenfalls zweistündigen Hörversion von Kafkas "Amerika":

    "Auf dieser Schale lag aber eine halbe, ganz schwarze Wurst, einige dünne Zigaretten, eine geöffnete aber noch gut gefüllte und von Öl überfließende Sardinenbüchse und eine Menge meist zerdrückter und zu einem Ballen gewordener Bonbons. Dann erschien noch ein großes Stück Brot und eine Art Parfumflasche, die aber etwas anderes als Parfum zu enthalten schien, denn Robinson zeigt mit besonderer Genugtuung auf sie und schnalzte zu Karl hinauf. - Siehst du, Roßmann, sagte Robinson, während er Sardine um Sardine hinunter schlang und hier und da die Hände vom Öl an einem Wolltuch reinigte, das offenbar Brunelda auf dem Balkon vergessen hatte, siehst du Roßmann, so muss man sich sein Essen aufheben, wenn man nicht verhungern will."

    Philipp Hochmair kostet die Möglichkeiten heutiger Mikrofontechnik bis ins Letzte aus. Hört man, wie er sich in der Rolle des Robinson das Essen in den Mund schiebt, die Dinge einspeichelt und dann schmatzend auf Karl Roßmann einredet, muss man sich schwer beherrschen, die Lautstärke nicht herunter zu drehen. Man meint zu sehen, wie Robinson das Fett auf den Lippen schimmert, in welcher Backe sich gerade ein Stück Wurst ballt, zwischen welchen Zähnen Sardinenfetzen hängen. Es ist geradezu abstoßend. Und genauso war es wohl auch von Franz Kafka, diesem überzeugten Vegetarier, gemeint.
    Ohnehin ist Robinson eine gemeine und verschlagene Figur, ein krasser Widerpart zum Menschenfreund Karl Roßmann. Doch Philipp Hochmair gelingt es leichter Hand, sowohl den zarten Protagonisten von Kafkas "Amerika" wie auch seine Peiniger Robinson und Delamarche, den Onkel oder den Heizer eindringlich darzustellen. Jede Stimme ist bei ihm genauestens abgemessen, jeder Charakter artikulatorisch exakt durchgearbeitet. Hochmairs Organ ist für diese Vielstimmigkeit besonders geeignet, es klingt zwar jung und beinahe überfein, doch zugleich ist es dehnbar und zäh. Die von ihm gesprochenen Wörter und Sätze schleichen sich selbst bei langsamstem Sprechtempo in die Gehörgänge und beißen sich dort fest. Pausen gibt es nicht, nur gespannte Erwartung.

    "Als der siebzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von New York einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht."

    Neben Goethes "Werther" und den Romanen Kafkas ist es Andrea Gerk mit ihrem herzrasen-Verlag auch immer wieder um Texte zu tun, die zwar unbestreitbar gleichfalls Meisterwerke sind, aus mehr oder weniger rätselhaften Gründen aber kaum wahrgenommen werden. Gertrud Kolmars Erzählung "Susanna" gehört in diese Reihe, genauso wie Friedrich Schlegels Roman "Lucinde", den Nina Hoss in Gerks Fassung und unter ihrer Regie für herzrasen eingesprochen hat:

    "Ich weiß noch recht gut, wie du dieses Büchelchen damals gefunden und genommen hast und fragtest, wie kann man schreiben wollen, was kaum zu sagen erlaubt ist, was man nur fühlen sollte? – Ich antwortete: Fühlt man es, so muss man es wollen, und was man sagen will, darf man auch schreiben können."

    In "Lucinde" hat Schlegel das Ideal einer romantischen Liebe entworfen. So sehr der Roman auf der Notwendigkeit einer Verbindung von Geist und Gefühl pocht, so angefüllt ist er von einer Intensität des Empfindens und einer Schärfe der Gedanken, wie sie einem selten begegnen. "Lucinde" verrät einiges über die Geschlechter, über die Ehe und die Möglichkeiten des Zusammenseins, des Eins-Seins in "geistiger Wollust" und "sinnlicher Seligkeit".
    Nina Hoss’ Vortragweise unterscheidet sich weniger stark als Sophie Rois’ oder Philipp Hochmairs von einer klassischen Lesung. Dieses Etwas aber macht die Qualität des Hörstücks aus. Indem Hoss langsam, leise und tastend an die Satzgebilde und Gedankenbiegungen Schlegels herangeht, indem sie in keinster Weise schauspielert, sondern denkend vorträgt und jedes Gefühl noch gedanklich durchdringt, wird sie "Lucinde" überaus gerecht. Der wissende, fast weise Klang ihrer Stimme führt den Hörer unauffällig durch den fragmentarischen Roman und lässt ihn die Liebeswelt von Julius und Lucinde nachvollziehen. Kein Fehler, keine Schwäche oder Nachlässigkeit unterläuft Hoss. Zurückhaltend, doch vollendet spricht sie dieses Stück, und nicht zuletzt mit betörender "Elektrizität des Gefühls".

    "Alles ist beseelt für mich, spricht zu mir und alles ist heilig. Wenn man sich so liebt wie wir, kehrt auch die Natur im Menschen zu ihrer ursprünglichen Göttlichkeit zurück. Die Wollust wird in der einsamen Umarmung der Liebenden wieder, was sie im großen Ganzen ist: Das heiligste Wunder der Natur. Und was für andere nur etwas ist, dessen sie sich mit Recht schämen müssen, wird für uns wieder, was es an und für sich ist: Das reine Feuer der edelsten Lebenskraft."

    Nina Hoss, Philipp Hochmair, Sophie Rois – das Aufgebot an hochkarätigen Schauspielern ist für einen so kleinen Verlag wie herzrasen beeindruckend. Beeindruckender noch ist das Engagement, mit dem Hoss, Rois und Hochmair an sie Sache gehen. Größtes Engagement ist in diesem Fall gleichwohl nötig, denn auch ein Stück, das nur für die Ohren bestimmt ist, stellt höchste Anforderungen an den Interpreten. Mehr noch: Die Bilder, die ein Schauspieler auf der Bühne mit vollem Körpereinsatz erzeugt, muss er im Studio ganz allein mit seiner Stimme hervorbringen. Dazu reicht nicht bloßes Handwerk aus, dazu muss man tatsächlich mit ganzem Herzen bei der Sache sein.

    "Könntest du mich lieben, wenn ich nicht so brennbar und elektrisch wäre?"