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Grundmotiv Tod

Der chinesische Dichter Yang Lian schreibt klar und konzentriert zu Politik und Geschichte, zu Kunst und Poesie und zu den Bedingungen des Schreibens jenseits kultureller Festlegungen. Von den 66 Gedichten sind 16 von Wolfgang Kubin kongenial neu übersetzt worden.

Von Martin Zähringer | 04.03.2010
    Den Begriff Dissidentendichter mag Yang Lian gar nicht. Er wird zwar nicht müde, auf seinen Lesereisen die politische Lage Chinas zu diskutieren, verweist aber entschieden auf die Dynamik in seinem künstlerischen Leben. Er sei kein in der Rückschau verharrender Exilant, sondern ein Dichter, der sich und vor allem das Schreiben entsprechend seinen Erfahrungen wandelt. Die Verlaufskurve von seiner frühen experimentellen zu einer neoklassischen Schreibweise will er nach Möglichkeit in den Übersetzungen seiner Werke wiederfinden.

    Der deutsche Sinologe, Übersetzer und Dichter Wolfgang Kubin erfüllt diesen Anspruch, indem er seine Übersetzungen immer wieder umarbeitet. Diese Kongenialität ist ein Glücksfall für Yang Lian. Allerdings wird der Übersetzer hier definitiv zum Zweitautor, der die eigentliche Autorschaft infrage stellt. Somit befindet sich der Status dieser Gedichte in einem Zwischenzustand, der eine sichere Zuschreibung und Verantwortung der Autorschaft schwierig macht.

    Das editorische Konzept des Suhrkamp-Bandes stammt jedoch von Yang Lian allein. Erstmals begleiten hier in einem modernen chinesischen Gedichtband - im Teil "Reflexionen"- elf instruktive Prosatexte des Dichters seine Gedichtsammlung. Yang Lian schreibt sehr klar und konzentriert zu Politik und Geschichte, zu Kunst und Poesie und zu den Bedingungen des Schreibens jenseits kultureller Festlegungen. Das einfühlsame Nachwort von Uwe Kolbe rundet den erklärenden Teil ab. Von den 66 Gedichten sind 16 neu übersetzt, so auch die "Aufzeichnungen eines glückseligen Dämons". In diesem Langgedicht kommt eine grundsätzlich existenzialistische Haltung zum Ausdruck, zugleich die radikalste formale Zuspitzung in dieser Sammlung. Dieser "glückselige Dämon" umspielt in bewusst spröden Wort- und Sprachbildern und abstrakten Metaphern die Grundkoordinaten des Seins. Am Anfang stehen Ekel und Vergängnis:
    Es tropft aus Augenhöhlen. Der Hund, halbgehäutetes / Hundefell ziehend, rennt. Das Weichbild fliegt mit einem Spatz, in den Ofen / gesperrt, / um die Wette. / Eine Berührung mit Schnee, da ist wie immer die Hälfte / verwest.
    Ein Grundmotiv fast aller Gedichte ist der Tod. So auch im Dämonengedicht. Es variiert eine unabschließbare Metaphorik des Nicht-Seins. Das ist eine etwas bedrückende Ansprache. Weder ein woher, noch ein wohin sind zu erkennen, und die metaphysischen Metaphern des Todes stehen ohne semantische Verbindung im Text:
    Die Welt fürchtet keine Rückkehr in traute Vergangenheit, / da Krähen Erde ausheben, das Tote sickert.
    Was lebendig ist, ist ohne Kraft zum Leben.
    In einem Stilleben des Todes gibt es kein Gestern, / ganz so wie es kein Heute gibt.
    Totes / riechen, / den Geruch, verblieben im Schal. / Riechen, plötzlich erinnert man die Tage von einst.


    Eine innere Linie der poetischen Denkbilder ist schwer zu ermitteln. Der Dichter legt es bewusst auf eine maximale Abstraktionshöhe an. Für den Leser ist das oft schwer nachvollziehbar, was hier nicht nur an der fehlenden Kenntnis kultureller oder historischer Kontexte liegt. Der deutsche Dichter Uwe Kolbe erklärt sich die poetische Todesnähe bei Yang Lian in seinem engagierten Nachwort so:

    Yang Lian hat aus dem Purgatorium der Erkenntnis, sich vorantastend im Halb- und Schlagschatten der Geschichte, ein poetisches Exerzitium abgeleitet. Es bringt, wie wir sehen, gewisse Rituale mit sich. Dazu gehören die unvermeidliche Anwesenheit des Todes wie das Schauen eines Steins und das Glück des Vergessenwerdens. Dazu gehört, dass ein sehr konkreter, zum Greifen naher Fluss ein drittes Ufer erhält, nein: hat, wo die Toten stranden, nein: weiterleben.
    Der Dichter Yang Lian wird es gern hören. Er selbst setzt die Intensität des Todes in den Gedichten konkret mit jenem Politikum in Verbindung, das die westlichen Debatten um das neue China noch immer beherrscht, mit der blutigen Räumung des Platzes des Himmlischen Friedens am 4. Juni 1989. Am Anfang der Sammlung steht das Gedicht "1989", in dem Yang Lian die Hoffnung für Chinas demokratischen Aufbruch begraben hat. Es war auch ein Ende für ihn, denn sein Exil begann an jenem Tag, als er erfuhr, dass seine Bücher verboten wurden:

    "Ich habe wirklich das Gefühl, dass hier die Poesie anstelle des Poeten sterben musste. Das war also ein Neuanfang aus dem Nichtmöglichen. Der Tod, das klingt nach Ende des Lebens. Hier meint der Tod die besondere Situation von 1989. Doch Poesie bedeutet immer, sich selbst so tief wie möglich zu befragen. Somit bezieht sich das Gedicht '1989' nicht nur auf den Tod des Jahres 1989. Die letzte Zeile des Gedichtes lautet ja: Dies war zweifellos nur ein normales, ein ganz normales Jahr. Als ich das geschrieben hatte, schrien meine Freunde auf: Wie kannst du nur sagen, 1989 ist nur ein ganz normales Jahr. Aber meine Frage ist, wo wir doch so überrascht vom Tod waren: Wo war damals die Erinnerung an das Sterben und den Tod aus der Zeit davor? Wenn wir keine solchen Erinnerungen hatten, wie können wir dann unseren Tränen und der Überraschung von heute trauen? Wie können wir sicher sein, dass auch diese Erinnerung nicht vergehen wird, während sich das große Weinen im nächsten Akt schon ankündigt? In all diesen Fragen reflektiert sich der Unterschied von politischem und poetischem Schreiben. Für das politische Schreiben sind die kollektiven Gefühle entscheidend, die Unterstützung eines Anliegens und so weiter. Aber die poetische Leidenschaft fordert eine extreme Selbstbefragung bis zu den äußersten Grenzen der Erkenntnis und ist eine Herausforderung an das gesamte uns mögliche Verstehen."

    Die hermeneutische Herausforderung ist durchaus eine große. Die Reflexionen dagegen lesen sich leicht. Hier zeigt sich der Dichter als klarer und eleganter Denker. Der Essay mit dem Titel "Chinesisch von innen" ist eine vorzügliche Wegleitung in die Lektüre dieser Gedichte und in die chinesische Dichtung überhaupt. Aufschlussreich sind die Gedanken zur Differenz zwischen europäischer und chinesischer Sprache. Es ist dieser gewisse Unterschied in der sprachlichen Struktur, der Yang Lians Gedichte für europäische Leser so schwer verständlich macht. Das chinesische Verb ermöglicht eine Struktur der Zeitlosigkeit. Yang Lian spricht von einer "wunderbaren Magie dieser unflektierten Verben, die unberührt von Zeit und Person jederzeit ihre ursprüngliche Form behalten". Zudem muss man ohne lyrisches Ich oder Du und ganz ohne Erzählungen auskommen. Nichts ist adressiert. Sätze, Sprachbilder und Metaphern stehen ungerichtet im Raum des Textes. Sie beschreiben keine Handlungen, sondern Zustände. Von Wortskulpturen ist einmal die Rede. Jede Zeile kreiert ein Bild und diese Bilder wiederum korrespondieren in einem verborgenen Code. Diese Gedichte sind also eher meditativ zu erschauen als analytisch zu verstehen, obwohl sie komplex konstruiert sind. Aber weil Yang Lian eben nicht für das Ideal einer reinen Poesie eintritt, besteht die Chance, dass man auch durch dieses hohe ästhetische Tor zu einem sinnhaften lyrischen Erlebnis gelangt. Allerdings ist da jenes Wachsen aus der Tradition, das Yang Lian als Voraussetzung der lyrischen Kunst betrachtet. Wer Yang Lians Gedichte zu entziffern gedenkt, müsste sich für die lyrische Tradition Chinas also schon interessieren.

    Yang Lian: "Aufzeichnungen eines glückseligen Dämons". Gedichte und Reflexionen.
    Aus dem Chinesischen von Karin Betz und Wolfgang Kubin. Nachwort von Uwe Kolbe. Suhrkamp 2009, 287 Seiten. 29,80 Euro