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Hänsel und Gretel in der Zone

Arnold Thünkers zweiter Roman spielt in den 60er- oder frühen 70er-Jahren und handelt von Menschen, die durch den eisernen Vorhang getrennt sind.

Eine Besprechung von Eva Pfister | 10.08.2009
    Paul fährt mit seiner jüngeren Schwester Vera in den wilden Osten. Die beiden Geschwister wohnen ganz im Westen, am Rhein, und wie jedes Jahr besuchen sie ihre Tante in der DDR. Aber so würden sie es nicht sagen: In die Zone fahren sie, mit dem Interzonenzug, den man schon an seinem eigenen Geruch erkennt. Die Mutter lässt sie zum ersten Mal allein fahren und bereitet sie auf das Abenteuer vor: Sie sollen sich von niemandem ausfragen lassen, die Papiere nur an der Grenze vorzeigen und dort aufpassen, dass ihnen die Koffer nicht abhanden kommen.

    Die Reise dieses Geschwisterpaars wird zu Beginn fast märchenhaft erzählt, aus der naiven Perspektive des Jungen, der gerade in die Pubertät kommt. Wie Hänsel und Gretel in den finsteren Wald schickt Arnold Thünker Paul und Vera in das andere Deutschland, wo ihnen alles fremd ist. Die Hexe treffen sie schon an der Grenze. Dort wird Veras Teddybär aufgeschlitzt, weil der Metalldetektor angeschlagen hat. Danach brummt der Bär nicht mehr.

    Die Schwester der Mutter lebt in einem kleinen Dorf in der DDR; ihre Wut über die Zwangskollektivierung ist noch nicht verflogen, immer wieder rammt sie Pfähle in den Boden, um das abzustecken, was ihr eigenes Land gewesen ist. Sie hetzt die Schweine, auf deren Rücken die Buchstaben SED aufgemalt sind, vor das Kulturhaus, wenn dort die Bonzen tagen, sie betreibt die Renovierung der Kirche und sie jagt ihre Tochter aus dem Haus, als diese sich mit einem Bezirkssekretär zusammentut.

    Leider verfliegt die anfängliche Faszination des Romans rasch. Über den Alltag in der DDR erfährt man einige schön groteske Details, aber im Großen und Ganzen nichts, was nicht vom westdeutschen Feindbild her schon sattsam bekannt ist. Und dieses schimmert auch immer wieder durch Pauls naive Perspektive hindurch. Arnold Thünkers Erstling "Keiner wird bezahlen" überzeugte gerade dadurch, dass er ganz in der Innenansicht des Protagonisten bleibt. So ist es dem Autor gelungen, anschaulich und packend die harte Jugend eines Wirtssohns und seine pubertären Gefühlsverwirrungen zu schildern.

    Thünkers neues Buch hat vom Titel her zwei Protagonisten: Anne und Paul. Aber erst in der zweiten Hälfte des Buches taucht Anne auf. Sie sitzt im Rollstuhl und schielt. Paul fürchtet die Begegnung mit ihr und ist doch fasziniert von dem lebhaften Mädchen, das gerne viel erzählt und erotisch die Initiative ergreift. Aber auch in den Schilderungen dieser Beziehung verschiebt sich immer wieder irritierend die Perspektive: So wird der Junge wohl kaum festgestellt haben, was der Autor schreibt: "Anne spricht eine glasklare Sprache, ein bisschen Bibel, ein bisschen Fabel, jeder Satz hat einen Punkt."

    Interessant wird die psychologische Konstellation im Schlusskapitel, wenn ein erwachsener Paul, viele Jahre später, wieder in den kleinen Ort in der ehemaligen DDR fährt, zur Beerdigung der unbeugsamen Tante. Die Veränderungen dort halten sich in Grenzen, die jungen Menschen von damals sind Eltern oder schon Großeltern geworden, und Anne so erfährt Paul, befindet sich in einem Pflegeheim. Dort besucht er sie. Anne ist blind und bettlägerig, und die letzte Begegnung der Beiden ist seltsam vertraut. Allerdings finden sich am Ende ein paar so erhabene Sätze, dass einem fast Coelho-hafte Schauder über den Rücken laufen.

    Arnold Thünker, Anne und Paul. Roman.
    Kiepenheuer & Witsch Köln 2009. 159 S., 16,95 Euro