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Hannah Arendt: Denktagebücher 1950 - 1973 (Zwei Bände)

Hannah Arendt ist in den vergangenen Jahren wieder ein wenig in Mode gekommen. Nicht selten wird sie bloß in Anspruch genommen, vor allem von denen, die ihre Totalitarismus-Theorie als Legitimation des Antikommunismus, schlimmer noch: der Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus missbrauchen. Hannah Arendt kann sich dagegen nicht mehr wehren; bei näherer Beschäftigung mit ihrem Denken aber fällt schnell auf, dass derartige Indienstnahme ihren politischen wie philosophischen Grundsätzen zuwiderläuft. Schon als Studentin erlebte sie, wie es ihr Lehrer Martin Heidegger ausdrückte, wie...

Bernd Leineweber | 02.12.2002
    ...Denken als reine Tätigkeit, und das heißt weder vom Wissensdurst noch vom Erkenntnisdrang getrieben, zu einer Leidenschaft werden kann, die alle anderen Fähigkeiten und Gaben nicht so sehr beherrscht als ordnet und durchherrscht.

    Doch die Zeit war dem 'reinen Denken’ nicht hold, sie erforderte es, dass Widerstand ein Thema wurde, das Arendt Zeit ihres Lebens beschäftigte, die Möglichkeiten eines Widerstands in Zeiten, in denen alle moralischen Maßstäbe um einen herum sich auflösten. Nun sind im Piper Verlag Hannah Arendts Denktagebücher, geführt zwischen 1950 und 1973, in zwei Bänden mit umfangreichem editorischen Anhang erschienen.

    Die politische Philosophie von Hannah Arendt hat dazu beigetragen, dass man sich nicht nur eine Vorstellung von den Ursachen machen konnte, die zu den Problemen, den Katastrophen und Leiden des vergangenen Jahrhunderts geführt haben, sondern auch von Möglichkeiten des Denkens und Handelns, mit denen ihnen etwas entgegenzusetzen war. Was fernerhin ihren Ruhm begründete, ist eine ungewöhnliche Konstellation von Eigenschaften: Sie war Frau, Jüdin, Antifaschistin, unabhängig, unbestechlich und unerschrocken, eine Philosophin, die sich in der intellektuellen Männerwelt behaupten und bewähren konnte, eine Löwin unter Wölfen.

    Der Titel "Denktagebuch" mag überraschen. Er ist nur durch mündliche Äußerungen von Hannah Arendt belegt. Ob sie an eine Veröffentlichung dieser Notizen dachte, die sie immerhin selbst für ihren Nachlass ordnete, ist nicht bekannt. Für eine solche Annahme muss auch nicht die Tatsache sprechen, dass sie in fast druckreifer Form abgefasst sind und Korrekturen und Streichungen in den 28 Schreibheften fast völlig fehlen. Die Passagen, die oft mehrere Seiten füllen, manchmal aber auch nur aus einem Satz bestehen, sind zumeist gut durchdachte, in sich runde Erörterungen thematisch angezeigter Probleme der Philosophiegeschichte. Sie haben einen deutlichen Bezug zu den laufenden Arbeiten und Veröffentlichungen der Autorin. Dreiviertel der Hefte stammen aus den Jahren 1950 bis 1958, das heißt bis zum Erscheinungsjahr ihres Buches Vita activa oder Vom tätigen Leben, das von vielen Kritikern trotz des großen Erfolgs des 1951 erstmals erschienenen Buches Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft als ihr Hauptwerk betrachtet wird. Viele Einträge verweisen auch auf ihr anderes großes Werk Vom Leben des Geistes, das 1978, drei Jahre nach ihrem Tod, erschien.

    Trotz der sachlichen Zusammenhänge mit den zur Veröffentlichung bestimmten Arbeiten kommt dem "Denktagebuch" aber eine Eigenständigkeit zu, die seine Veröffentlichung vollkommen legitimiert. Es kann gelesen werden wie die Pensées des von Hannah Arendt hochgeschätzten Pascal, die den unsystematischen, fragmentarischen Typ der philosophischen Meditation in der europäischen Literatur heimisch machten. Das "Denktagebuch" ist nicht nur ein Arbeitsjournal, sondern ein Stundenbuch für philosophische Meditationen, ein Brevier für den bios theoretikós, jene Einstellung, die das Denken über das Leben als ein Leben im Denken begreift und daraus Folgerungen zieht für Inhalt, Aufbau und soziopolitische Funktion der Philosophie.

    Denn - und darin war Hannah Arendt mit ihrem Lehrer Martin Heidegger grundsätzlich einer Meinung - das Zeitalter hatte Grundvorstellungen vom Leben und Lebenswerten dermaßen erschüttert, dass die Philosophie eine prinzipielle Revision ihrer Prämissen vornehmen und die Rolle, die sie im Verhältnis zu den Wissenschaften und den politischen Mächten einnahm, neu definieren musste. Denken hieß auch für sie, hinter das Prinzip der Philosophie, d.h. ihren Anfang in der griechischen Antike zurückzugehen. Um den Anfang der Philosophie dreht sich denn auch in immer wieder neuen Anläufen ein großer Teil der Eintragungen im "Denktagebuch". Anders als es in fortlaufenden diskursiven Texten möglich ist, bietet sich mit dem Genre des konkursiven, im Fragmentarischen verbleibenden Tagebuchs die Möglichkeit zum Mitdenken durch den sanften Druck, den die Lektüre immer neuer und anderer Anfänge auf den Leser ausübt, um ihn schließlich vor die Frage zu stellen: Womit machst du den Anfang deines Philosophierens? Das "Denktagebuch" enthält wenig im landläufigen Sinne Privates. Neben theoretischen Fragestellungen und philologischen Analysen finden sich Gedichte, auch eigene, sowie, überraschenderweise, Eintragungen, die Todesfälle von Freunden betreffen. Selten ist von dem Problem des Anfangs in dem unmittelbaren Sinn die Rede, wie es sich ihr bzw. ihrer Generation stellte.

    Marxismus war der Versuch, mit den Mitteln der großen Tradition der neuen Fragen Herr zu werden. Darum war die Oktober-Revolution die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts, und darum ist die Tatsache, dass auch dieser Weg im Totalitären endete, die wesentliche Enttäuschung des Zeitalters. 1. Welchen Weg man auch einschlug; wer zur Sache selbst redete und nicht in frommen Belanglosigkeiten liberaler oder konservativer Art, endete im Totalitarismus. 2. Die große Tradition selbst führte dahin, also musste etwas fundamental Falsches in aller politischen Philosophie des Abendlandes stecken.

    Diese prinzipielle Frage an die Tradition, die von Friedrich Nietzsche in die philosophische Diskussion eingebracht worden war und mit der Heidegger durch sein "fundamentalontologisches" Fragen nach dem "Sinn von Sein" in die akute Krise nach dem Ersten Weltkrieg, alle bis dahin gültigen Denkgewohnheiten herausfordernd, eingriff, ist die Kernfrage der Arendtschen Philosophie. Damit setzte sie sich nicht nur in einen Gegensatz zur linken und antifaschistischen Intelligenz, die zu großen Teilen marxistisch eingestellt war und die europäische Geschichte im Horizont einer glänzenden Zukunft und der endlichen Erfüllung ihrer großen Menschheitsversprechen begriff. Sondern sie setzte auch von vornherein einen anderen Akzent als ihr Lehrer Heidegger.

    Dessen konservative und kulturpessimistische Grundhaltung verstand sie zwar und teilte sie bis zu einem gewissen Grad. Aber sie war mehr an einem Konzept des Widerstands interessiert, das, wie sie entgegen ihren Neigungen einzusehen gezwungen war, den Herausforderungen der Zeit entsprechend politisch formuliert werden musste. Damit geriet sie in den Bannkreis des Marxismus, dem sie auch im "Denktagebuch" umfangreiche Studien widmet, die in ihr Buch Vita activa eingegangen sind. Im Ansatz zu ihrer eigenen politischen Philosophie blieb sie Heidegger treu. Diese Konstellation war fruchtbar: als "linke Heideggerianerin" konnte sie die Falle des unpolitischen Denkens vermeiden und dem Vorwurf der "Feigheit", den sie selbst nach dem Krieg gegenüber Heidegger erhob, entgehen und zugleich eine Grundlegung der Philosophie aus einem neuen, nichtmarxistischen Geist in Angriff nehmen.

    Dafür war freilich noch der andere große Einfluss nötig, der von ihrem zweiten wichtigen Lehrer und lebenslangen Freund ausging, von Karl Jaspers, bei dem sie 1928 mit einer Arbeit über den Liebesbegriff bei Augustin promovierte. In ihren 1948 erschienenen Sechs Essays stellte sie beide den von Hegel und Nietzsche und den von Immanuel Kant herkommenden Existenzphilosophen, einander gegenüber:

    Jaspers zufolge ist "die Existenz keine Form des Seins [wie bei Heidegger], sondern eine Form der menschlichen Freiheit, [in welcher] der Mensch als Möglichkeit seiner Spontaneität sich gegen sein bloßes Resultatsein wendet... Die Mitmenschen sind nicht (wie bei Heidegger) ein zwar strukturell notwendiges, aber das Selbstsein notwendig störendes Element der Existenz; sondern umgekehrt nur in dem Zusammen der Menschen in der gemeinsam gegebenen Welt kann sich Existenz überhaupt entwickeln.

    Ausgehend von diesen Prämissen, entwickelte Hannah Arendt den Grundgedanken ihrer Philosophie. Im "Denktagebuch" formuliert sie ihn so:

    "Der Mensch - die Menschen: In den totalitären Regimen erscheint deutlich, dass die Allmacht des Menschen der Überflüssigkeit der Menschen entspricht. Darum entspringt aus dem Glauben, dass alles möglich sei, unmittelbar die Praxis, die Menschen überflüssig zu machen, teils durch Dezimierung und generell durch die Liquidierung der Menschen qua Menschen. Wenn der Mensch allmächtig ist, dann ist in der Tat nicht einzusehen, warum es so viele Exemplare gibt, es sei denn, um diese Allmacht ins Werk zu setzen, also als reine objekthafte Helfer. Jeder zweite Mensch ist [aber] bereits ein Gegenbeweis gegen die Allmacht des Menschen, eine lebendige Demonstration, dass nicht alles möglich ist. Es ist primär die Pluralität, welche die Macht der Menschen und des Menschen eingrenzt. Die Vorstellung der Allmacht und des Alles-ist-Möglich führt notwendigerweise zu der Einzigkeit. Von allen traditionellen Prädikaten Gottes ist es die Allmacht Gottes und das `bei Gott ist kein Ding unmöglich`, das Vielgötterei ausschließt. Es wäre denkbar, dass die europäischen politischen Theorien deshalb in reinen Macht-Theoremen geendet haben, weil die europäische Philosophie von dem Menschen ausging und von dem Einen Gott.

    Der Eine Gott, der nach seinem Ebenbild den Menschen schuf. Hannah Arendt macht wiederholt darauf aufmerksam, dass sich die europäische Tradition in der Hauptsache auf den zweiten Schöpfungsbericht, Genesis 2, bezieht, in dem der Mensch, d.h. der Mann, geschaffen und erst nachträglich ihm aus seinem Fleisch ein zweiter Mensch, die Frau, beigegeben wird. Dagegen konnte der erste Schöpfungsbericht, Genesis 1, in dem es pluralistisch heißt: "als Mann und Weib erschuf er sie", keine starke Tradition ausbilden. Denn die Vorherrschaft des Einen vor den Vielen ist auch das Muster, mit dem die griechische Philosophie angetreten ist. Bei Platon ist die Idee, das sinnlich nicht erfahrbare Wesen der Dinge, der Ort des Wahren, Schönen und Guten. Die Ideenlehre begründet den Vorrang der kontemplativen Wahrheit vor der doxa, der bloßen Meinung, die auf den Straßen und Plätzen den Ton angibt, den im Christentum dann religiös sanktionierten Vorrang des Logischen vor dem sinnlich Wahrnehmbaren und der Philosophie vor der Politik. Auf diesen beiden Grundpfeilern der christlichen Tradition, dem Monotheismus und dem Platonismus, beruht auch noch die politische Philosophie der Neuzeit. In Hannah Arendts Generation, die wie keine andere den Vorrang der Nation, der gesellschaftlichen und politischen Ordnung und des Staates vor dem Privatleben und den Bedürfnissen der einzelnen Menschen und gesellschaftlichen Gruppierungen erlebt hat, wurde aufs Heftigste über die Vorzüge und Nachteile von Gesellschaftssystemen und Verfassungen diskutiert und gestritten - fast immer im Namen einer in ihren Grundzügen idealistischen Philosophie. In diesen Debatten nahm Hannah Arendt in zwei wichtigen Punkten eine höchst originelle Position ein, die über sie hinausweist und bis heute gültige Anregungen für ein neu zu denkendes Verhältnis zwischen Philosophie und Politik im nachtotalitären, pluralistischen und demokratischen Zeitalter bietet.

    Erstens wies sie darauf hin, dass an der Bereitschaft zu totalitärer Politik ein Zuviel und nicht ein Zuwenig an Idealismus beteiligt gewesen und daher eine rigorose Trennung zwischen Philosophie und Politik notwendig sei, die eine radikale Kritik des philosophischen Idealismus in allen seinen Spielarten, zu denen auch der parteikommunistische Marxismus gehört, zur Folge haben müsse. In der Deutlichkeit dieser Position ist sie nur mit dem Katholiken Carl Schmitt oder dem Marxisten Georg Lukács zu vergleichen, die ebenso dezidiert den gegenteiligen Standpunkt eines theologisch oder philosophisch angeleiteten Politikverständnisses vertraten und totalitären Politikkonzepten Vorschub leisteten. Und zweitens gehörte sie zu den ganz wenigen, die in den revolutionstheoretischen und verfassungspolitischen Debatten sich nicht auf das mit der Oktoberrevolution scheinbar noch einmal aktuell gewordene Modell der Französischen Revolution beriefen, sondern auf die Amerikanische Revolution und die rechts- und verfassungspolitische Tradition, die von ihr aus- und an Deutschland im wesentlichen vorbeiging.

    Aber auch was den Liberalismus betrifft, ist Hannah Arendt nicht einfach zur Parteigängerin geworden. Sie suchte und fand einen Ansatz für ein in Deutschland vielleicht überzeugenderes liberales Denken, als es die bloße Übernahme politisch-philosophischer Grundüberzeugungen der US-Amerikaner gewesen wäre. Inzwischen wissen wir, dass es nicht notwendig war, die Deutschen von den Vorzügen des liberalen Politikverständnisses mit Gründen zu überzeugen, sondern sie übernahmen es und ließen sich durch sein faktisches Gewicht und seinen Erfolg überzeugen. Ob Hannah Arendt dem Gedanken der reeducation verpflichtet war oder nicht - Überzeugungsarbeit musste sie mindestens für sich selbst leisten. Dazu gehörte auch eine Art Rehabilitation der politisch kompromittierten Heideggerschen Philosophie, der gegenüber sie sich Zeit ihres Lebens als Schülerin verstand. Sie bediente sich der Heideggerschen Daseinsanalyse, um die notwendige Trennung zwischen Philosophie und Politik ontologisch und anthropologisch zu begründen: der Mensch ist Gegenstand des im engeren Sinne philosophischen Denkens, das aus der Einsamkeit des Ichs mit sich selbst kommt und Ideen und Erwartungen der privaten Einzelnen hervorbringt, die sich an die Allgemeinheit richten.

    Politisches Denken trägt dagegen der prinzipiell anders verfassten Wirklichkeit der Pluralität des Miteinander Rechnung, in dem die Menschen sich immer schon handelnd vorfinden und ihre ursprüngliche Spontaneität und Freiheit beweisen, die im Handeln als dem Setzen eines Anfangs erscheint. Was ein Handeln voraussetzt, das wie das Handeln des Sokrates von der Pluralität der Meinungen auf den Straßen und Plätzen und noch nicht wie das seines Schülers Platon von der logisch gebotenen und politisch notfalls mit Zwang durchzusetzenden Idee des Guten ausgeht, ist Hannah Arendt zufolge nicht die Logik einer politischen Theorie, sondern der Gemeinsinn. Was ist Gemeinsinn und wie verhält er sich zum logischen Denken?

    Nichts ist partikularer als sinnliche Erfahrung. Ihr können wir nur trauen, weil sich zu unseren fünf Sinnen ein sechster gesellt, der ... uns allen gemeinsam ist: `common sense`. ... Die Sinne indizieren eine Welt der Objekte, sie indizieren keine Menschenwelt. Was uns mit anderen Menschen verbindet, ist unser `common sense`, der als solcher unser eigentlich politischer Sinn ist." Dagegen ist "Logik ... der subjektivierte `common sense` ... das einzige, was den `common sense` ersetzen kann. Statt eines Sinnes, der die partikularen Sinne ins Gemeinsame führt und so erst die sinnlich erfahrene Welt zu einer gemeinsamen Welt [macht], haben wir jetzt eine subjektive, von aller Erfahrung ganz unabhängige `Fähigkeit`, die in der Tat identisch in allen sitzt. ... Logik setzt identische Pluralität voraus, ohne alle Distinktheit. Für die Logik ist jedes Wesen nur das Exemplar einer Spezies, die fähig ist, logisch zu `denken`.

    Dass für politisches Denken und Handeln ein eigener Sinn maßgebend ist, der so genannte Gemeinsinn, und nicht eine logisch argumentierende politische Theorie oder Moralphilosophie, ist Hannah Arendts große persönliche Entdeckung und wurde zum Kernstück ihrer Philosophie. Mit dem Begriff des Gemeinsinns, einem Grundbegriff des US-amerikanischen Verfassungsdenkens, glaubte sie, eine Alternative zu Denkmodellen gefunden zu haben, die "im Totalitarismus enden". Diese Genese ihres Ansatzes darf man nicht übersehen, auch wenn er im Hinblick auf seine praktische Tauglichkeit problematisch ist und sicher an politischen Fehleinschätzungen von Hannah Arendt wie in der im Eichmann-Prozess einer größeren Öffentlichkeit bekannt gewordenen Frage der Rolle der Judenräte bei den Deportationen beteiligt war. Mit dem Begriff des Gemeinsinns versuchte sie, die daseinsanalytische Bestimmung des In-der-Welt-Seins pluralistisch und unmittelbar politisch zu fassen. Allerdings hat dieses radikaldemokratische Denkmodell im Unterschied zu, wie sie sagt, politisch hochentwickelten Gemeinwesen wie Rom, England, Frankreich und natürlich den USA in der deutschen Philosophie nie eine Rolle gespielt. Mit einer Ausnahme, und diese Ausnahme erschien ihr so gewichtig, dass sie sie zum zweiten Eckstein ihrer liberalen politischen Philosophie machte. In seiner Kritik der Urteilskraft unterscheidet Kant bekanntlich zwischen einer bestimmenden Urteilskraft, die es erlaubt, ein Besonderes unter ein Allgemeines zu subsumieren, und einer reflektierenden Urteilskraft, mit der ein Besonderes auf ein Allgemeines bezogen wird. Das ist im Bereich des Schönen der Fall, wo der Geschmack, ein persönlicher und partikularer Sinn, allgemeine ästhetische Gültigkeit beansprucht. Dass etwas allgemein als schön gelten kann, dazu bedarf es nach Kant der Annahme eines Gemeinsinns.

    Urteilen: Kant: die Unmöglichkeit, das Individuelle zu subsumieren. Das Individuelle kann nur im Urteil getroffen oder verfehlt werden. Darum handelt es sich in der Politik, wo wir immer mit Situationen konfrontiert sind, für die es höchstens Präzedenzfälle, aber keine allgemeinen Regeln gibt. Mit anderen Worten: In der bestimmenden Urteilskraft gehe ich von der Erfahrung des `Ich denke` und der also im Selbst gegebenen (apriorischen) Prinzipien, in der reflektierenden Urteilskraft von der Erfahrung der Welt in ihrer Besonderheit aus. ... die Allgemeingültigkeit des Urteilens ist nicht apriori - lässt sich nicht aus dem Selbst herleiten -, sondern ist abhängig von dem Gemeinsinn, d.h. der Präsenz der Anderen. ... Damit fügt Kant dem Satz des Widerspruchs, der Einstimmigkeit mit sich selbst, den Satz von der Einstimmigkeit mit Anderen hinzu - und das ist in der politischen Philosophie der größte Schritt seit Sokrates.

    Hannah Arendts Vorschlag für ein radikales, die kulturellen Wurzeln des Totalitarismus aufdeckendes Denken ist die Absage an die Metaphysik, den Vorrang des Allgemeinen vor dem Besonderen, des unsinnlichen, fälschlicherweise für übersinnlich gehaltenen logischen und rationalen Denkens vor den sinnlichen Erfahrungen in der vielfältigen Ding- und pluralistischen Menschenwelt. Soll politische Macht davor bewahrt bleiben, in Herrschaft oder gar totale Herrschaft umzuschlagen, muss sie ihren Sitz in der individuell unterschiedlich und gleichzeitig gemeinsam erfahrenen und zu gemeinsamem Handeln auffordernden Welt und nicht in einer idealen Konstruktion des gesellschaftlichen Zusammenlebens haben. Man mag Hannah Arendt ein idealisierendes Demokratieverständnis vorwerfen. Aber sie hat nicht nur den Geist der amerikanischen Verfassung studiert, sondern auch die US-amerikanische Verfassungswirklichkeit erlebt und - wie der berühmte, ihr sehr nahe stehende Amerikareisende Alexis de Tocqueville - eine totalitäre Gefährdung ganz eigener Art wahrgenommen, nämlich die Entpolitisierung des Lebens durch seine Reduktion auf die ökonomische Sphäre.

    Die Reduktion des denkenden, handelnden und herstellenden auf den arbeitenden Menschen, des kreativen Individuums auf das nur mit seiner Reproduktion beschäftigte "Gattungswesen" war der zentrale Punkt ihrer Kritik am Marxismus. In den USA lernte sie eine Gesellschaft kennen, die unter nichttotalitären, liberalen Voraussetzungen zu demselben Resultat gelangt war. "Sklaverei", sagt sie unzensiert im "Denktagebuch". Der Untergang des politischen Handelns, d.h. der Betätigung der Freiheit in einer nur an Arbeit und Konsum interessierten Gesellschaft - mit diesem Problem hat sie der politischen Philosophie eine Aufgabe gestellt, die aktueller ist denn je.

    Bernd Leineweber besprach Hannah Arendts Denktagebücher, erschienen beim Piper Verlag. Die beiden Bände haben insgesamt 1.232 Seiten. Wenn Sie sie zum Beispiel sich selbst oder jemand anders zu Weihnachten schenken wollen, bekommen Sie die Bücher bis Ende des Jahres noch zum Preis für 99 Euro, danach kosten sie 118 Euro.