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Harte Zeiten für die Liebe

Georg Büchners Geschichte von den zwei Königskindern Leonce und Lena, die sich unerkannt ineinander verlieben, zählt als melancholischer Abgesang auf deutsche Romantik längst zum Kanon des Theaters. Als Saison-Auftakt nicht besonders originell, aber am Hamburger Thalia Theater ist Dimiter Gotscheff der Regisseur und der hat Neues versucht.

Von Michael Laages |
    Wieder hat Heiner Müller das erste (und nach gut zwei Stunden auch das letzte) Wort. Genauer: zweieinhalb kurze Sätze - "Was ist? Spielen wir weiter?" mahnt die Marquise Merteuil; und "Spielen wir?" fragt sehr grundsätzlich der Vicomte Valmont zurück - und so stellen sich Kathrin Wichmann und Ole Lagerpusch, er ganz müder Dandy und sie Paris Hilton beunruhigend ähnlich gestylt, noch vor Beginn ihrer Rollen als Lena und als Leonce, und also noch vor Beginn jeder möglichen Liebesgeschichte, als Lemuren an deren Ende vor. Der Schlusspunkt als vor jedem Beginn - da ist dann wieder mal klar, dass mit einem "normalen" Büchner-Blick wohl hier und heute und jetzt nicht zu rechnen ist.

    "Hier und jetzt", in jedem Fall "heute" - mit dieser Orts- und Zeitangabe, im Detail leicht variiert, markiert das Hamburger Erfolgstheater ziemlich programmatisch alle Eröffnungsstücke; wie mit einem dezent versteckten Motto. Möglichst viel Zeitgenossenschaft und Gegenwart also in überwiegend historischem Material - Gotscheffs Büchner liegt da selbstverständlich gut im Kurs. Schon weil ihm die Bühnenbildnerin Katrin Brack wieder eine dieser Fundamental-Fantasien zugeliefert hat, aus der es nach Aufführungsbeginn kein Entrinnen mehr gibt - kein Bühnenbildner, keine Bühnenbildnerin kann das so wie sie; Risiken und Nebenwirkungen inklusive. Hier in Hamburg hat sie die Grundmotive der Leere und der Langeweile zu einem Stillleben verdichtet - bühnenfüllend auf eine Schräge drapiert, liegt hier bunt durcheinander gescheckt Schlafsack neben Schlafsack; die meisten scheinen und einige sind tatsächlich auch bewohnt. Der Staat des nunmehr auftretenden Königs Peter vom Reiche Popo - ein Nachtasyl für Winterschläfer. Dazu hat der Musiker Sir Henry das einzige Erbe des einstigen Hamburger Innensenators und Krawall-Populisten Ronald Schill zu Bühnenreife geführt - seit Schills Zeit nämlich wird der örtliche Hauptbahnhof aufs Grauenhafteste mit "Klassik light" beschallt; wie dieser Schill-Schall klingt jetzt beinahe abendfüllend der Soundtrack.

    Prima Bedingungen also für eine Entschleunigungsübung in Christoph Marthalers Sinn - doch jenseits dieser leichten perspektivischen Verwirrung will Gotscheffs Team dann ganz woanders hin. Erst wird nur die Verwandtschaft des prächtig fahrigen Peter-Männchens auf dem Popo-Thron mit heutig Herrschenden beschworen - in dem Peter Jordan weiträumig, und über dem immer präsenten Schlafsack- und Penner-Haufen auch ziemlich effektvoll komisch, aus der legendären "Ruck"-Rede des einstigen Bundespräsidenten Roman Herzog zitiert. Später allerdings macht sich ein überaus angestrengt klassenkämpferischer Ton breit in Gotscheffs Büchner-Bild; ganz so, als habe der Autor des "Hessischen Landboten" für "Leonce und Lena" noch einmal die Hasskappe der ganz frühen Jahre aufgesetzt: Friede den Hütten, Krieg den Palästen; auch in den hier zu betrachtenden Kleinstkönigreichen Popo und Pipi, sowie sicher auch in den anderen (schöne Wortschöpfung!) "Fäkal-Fürstentümern" Pupu, Papa, Pepe, Pöpö und Püpü.

    Da darf später die Gouvernante der Prinzessin Lena allerlei treudeutsches Stammtisch-Geseier über den Arbeitswillen von Hartz-4-Empfängern absondern und dem in der Tat recht plebejischen Leonce-Helfer Valerio "Proletenschwein!" hinterher rufen; kurz nachdem der ihr einen sehr flotten Quickie im Stehen beschert hat. Da gerät der Abend schon ziemlich aus den Fugen; kein Wunder, dass schließlich auch das komplette Finale gestrichen wird: die Auftritte der durch glückliche Komödienfügung vereinten Königskinder als unglückliche Automatenmenschen sowie sämtliche Schlaraffenland-Träume von zerschlagenen Uhren, immerwährendem Spaghetti-Genuss und einer "kommoden" Religion. Alles weg - zu Gunsten eines weiteren Hass-Anfalls (vielleicht aus dem "Landboten", das muss zu Hause nachgeschlagen werden) über die Kontinuität der allgegenwärtigen Ausbeutung und Unterdrückung auch unter neuen, jugendlichen Herrschern.

    Schön und gut, und wahrscheinlich historisch sogar weithin richtig. Nur: Büchners Stück hält das nicht aus. Kein Wunder darum auch, dass sich die zentralen Protagonisten, Lena eben und Leonce, in dieser Aufführung ziemlich quälen müssen, um inhaltlich überhaupt vorzukommen. Und es hilft auch nur bedingt, dass Gotscheff sie viele Texte, auch im grandios misslingenden Selbstmord, gemeinsam sprechen lässt - um (zu Recht) zu markieren, dass hier zwei aus gleichem, politischen Grunde keine Lust mehr haben aufs Erbe ihrer Väter und Mütter. Noch so ein Ansatz, der eine komplette Interpretation getragen hätte - interessanter als Gotscheffs Hasskappen-Version wär' die allemal gewesen. Unter deren Herrschaft wirkt der Abend eher wie eine vertane Chance.