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Hartz-IV-Gesetzentwurf für EU-Bürger
"Das Soziale bleibt in der EU auf der Strecke"

Der neue Gesetzentwurf von Arbeitsministerin Andrea Nahles zur Hartz-IV-Regelung für EU-BürgerInnen widerspräche grundsätzlich der europäischen Idee, sagte die Sprecherin der Linken-Fraktion, Sabine Zimmermann, im DLF. Die Freizügigkeit und Mobilität von Europa müsse auch sozial abgesichert werden. Sie rief zu einer Debatte über die sozialen Standards in der EU auf.

Sabine Zimmermann im Gespräch mit Jochen Spengler | 28.04.2016
    Die sächsische Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke, Sabine Zimmermann
    Die sächsische Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke, Sabine Zimmermann (Jan Woitas/dpa )
    Jochen Spengler: Menschen aus anderen EU-Ländern, die in Deutschland noch nie gearbeitet haben, sollen nach einem Gesetzentwurf der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles erst nach einem fünfjährigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Anspruch haben auf Hartz IV-Leistungen. Derzeit beziehen vor allem Einwanderer aus Bulgarien und Rumänien überdurchschnittlich häufig Sozialleistungen.
    Wir wollen das Thema vertiefen mit Sabine Zimmermann, der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Linken im Bundestag. Guten Abend.
    Sabine Zimmermann: Guten Abend.
    Spengler: Jeder EU-Ausländer, der hier ein halbes Jahr in einem Minijob gearbeitet hat, der erwirbt auch künftig einen Anspruch auf Hartz IV-Leistungen. Was soll verkehrt daran sein, Frau Zimmermann, dass jemand, der hier noch nie gearbeitet hat und vielleicht auch gar nicht die Absicht hat, hier jemals zu arbeiten, einen solchen Anspruch auf Sozialleistungen auch weiterhin nicht hat?
    Zimmermann: Prinzipiell widerspricht ja das Streichen der Sozialleistungen für EU-Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich der europäischen Idee. Denn wenn die Bundesregierung die Freizügigkeit und die Mobilität innerhalb von Europa möchte - und ich denke, das will sie ja auch -, muss das auch sozial abgesichert werden.
    Deswegen ist es natürlich wichtig, wenn die Menschen zu uns kommen, sie wollen arbeiten, sie haben die Möglichkeit, einen Job zu machen und ihre Familien zu ernähren. Und wenn sie dann in Arbeitslosigkeit fallen, ist es einfach wichtig, dass sie dann auch eine gewisse soziale Absicherung haben.
    "Wir haben ein europäisches Fürsorgeabkommen für alle Bürger"
    Spengler: Aber das haben sie ja, solange sie gearbeitet haben. Ein halbes Jahr reicht für den Bezug von Sozialhilfe. Ein Jahr reicht, um ständig Anspruch zu haben. Sie wären ja abgesichert.
    Zimmermann: Ja! Es ist ja auch ein Grundrecht. Wir haben ein Grundrecht in Deutschland auf eine Sicherung des Existenzminimums. Deshalb, glaube ich, ist es wichtig, dass das nicht ignoriert werden kann. Wir haben natürlich auch ein europäisches Fürsorgeabkommen, das natürlich den Zugang zu Sozialleistungen für die Bürgerinnen und Bürger dort garantiert.
    Spengler: Aber der Europäische Gerichtshof selbst hat ja geurteilt, dass es möglich ist, EU-Ausländern die Sozialhilfe nur unter Einschränkungen zu geben.
    Zimmermann: Ich glaube, dass daran die EU schon lange krankt, dass wir hier die wirtschaftlichen Interessen in den Vordergrund stellen, und das Soziale bleibt hier auch auf der Strecke. Ich glaube, wir müssen eine Debatte führen, was sind soziale Standards innerhalb der EU, und das trägt natürlich auch dazu bei, dass wir eine soziale Einheit wieder bekommen innerhalb der Europäischen Union.
    "Da muss natürlich schon viel passieren, um seine Heimat zu verlassen"
    Spengler: Frau Zimmermann, wäre es denn nicht ein Fehlanreiz für viele Menschen in Osteuropa, wenn man ihnen hier mehr Sozialhilfe fürs Nichtstun bezahlen würde, als sie mit ihrer eigenen Arbeit in ihrer Heimat bekommen?
    Zimmermann: Ich glaube, das ist auch eine falsche Debatte, weil man immer von vornherein gleich unterstellt, dass diejenigen, die hier herkommen, dann nur unsere Sozialsysteme plündern wollen. Es sind wenige, die hier herkommen und wirklich in den Sozialsystemen gefangen sind. Es sind die meisten, die hier herkommen, die arbeiten und natürlich auch dadurch Geld verdienen.
    Spengler: Aber es ist doch ein Anreiz. Wenn hier die Sozialhilfe wirklich höher ist im Monat als zum Beispiel ein Lohn in Bulgarien, das ist doch dann ein Anreiz für einen Bulgaren, hierher zukommen, nicht zu arbeiten, die Sozialhilfe zu bekommen, statt irgendwo in Bulgarien zu bleiben und dann auch weniger Geld zu haben.
    Zimmermann: Ich glaube nicht, dass das ein Anreiz ist. Wer verlässt schon seine Heimat? Da muss natürlich schon viel passieren, um seine Heimat zu verlassen, und deswegen glaube ich, wenn wir die Kirche im Dorf lassen, dürfen wir die Diskussion nicht so herum führen.
    Spengler: Sie befürchten keine massenhafte Einwanderung in das deutsche Sozialsystem?
    Zimmermann: Nein, überhaupt nicht. Das ist eigentlich jetzt im Moment eher so: Frau Nahles macht so ein bisschen den Seehofer, um Stimmen einzufangen für die nächsten Wahlen, aber das ist der verkehrte Weg.
    "Es werden immer welche dabei sein, die das Sozialsystem ausnutzen"
    Spengler: Ist es denn nicht ungerecht gegenüber den hart arbeitenden Niedrigverdienern hier, wenn Menschen Leistungen einstreichen, ohne etwas zu leisten?
    Zimmermann: Es ist so, dass wir in Deutschland ein Grundrecht haben auf eine Sicherung des Existenzminimums, und das können wir nicht ignorieren. Das ist so und es werden immer welche dabei sein, die vielleicht das Sozialsystem ausnutzen. Aber im Grunde kann man nicht davon ausgehen, dass die Leute hier herkommen und von vornherein erst mal davon ausgehen, dass sie hier im Sozialsystem sich reinhängen.
    Spengler: Würden Sie denn Frau Nahles recht geben, die da sagt, Deutschland und Europa bietet das Recht, überall in der EU oder eben auch in Deutschland eine Arbeit aufzunehmen, aber nicht das Recht, den Ort der Sozialhilfe frei auszuwählen?
    Zimmermann: Ich finde, das ist falsch gesagt von der Frau Nahles. Wir bieten die Möglichkeit mit der Freizügigkeit, innerhalb von Europa überall zu arbeiten. Und wenn man diese Möglichkeit der Freizügigkeit bietet und der Mobilität, dann muss man natürlich auch dafür die soziale Absicherung bieten. Das ist einfach so herum der Weg.
    Spengler: Aber doch nur jenen, die hier wirklich sich um Arbeit bemüht haben und auch gearbeitet haben. Es ist ja so: Wenn einer ein halbes Jahr hier gearbeitet hat, dann hat er die Absicherung.
    "Die Leute, die hier herkommen, wollen arbeiten"
    Zimmermann: Ja und ich gehe davon aus, dass die Leute, die hier herkommen, nicht darauf aus sind, ins Sozialsystem reinzufallen, sondern wirklich hier zu arbeiten. Die Zahlen sprechen eigentlich dagegen, dass es wenige sind, die dort im Sozialsystem in der Statistik drin sind.
    Spengler: Aber was machen wir mit jenen, die hier hergekommen sind und noch keinen einzigen Handschlag gearbeitet haben?
    Zimmermann: Ich denke mal, wenn Sie die rausfischen wollen und rauspicken wollen, das ist natürlich ein Aufwand und eine Unterstellung, glaube ich. Die können Sie dort nicht leisten. Die können auch die Sozialbehörden bei uns nicht leisten.
    Spengler: Aber wer sich hier nicht um Arbeit bemüht und keine bekommt, der bekommt ja durchaus eine Nothilfe, so hat es Frau Nahles heute gesagt, eine Grundsicherung für einige Wochen, und dann auch noch ein Darlehen für die Rückreise in die Heimat. Da kann er dann Sozialhilfe beantragen.
    Zimmermann: Er wird dann abgeschoben und nichts anderes.
    Spengler: Soweit die Ansicht von Sabine Zimmermann von der Linken, mit der wir früher am Abend gesprochen hatten.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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