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Hass hoch zwei

Es werden ganze Wagenladungen von Papier sein, die zum Thema "Achtundsechzig" beschrieben worden sind. Doch die Fülle des Materials kann nicht darüber hinweg täuschen, dass es halbwegs überzeugende wissenschaftliche Bilanzen des großen Umbruchs nicht gibt, vom Mangel literarischer Bewältigung ganz abgesehen. Die Erklärung ist einfach: Die Generation "Achtundsechzig" ist nicht nur in Regierungen und Parlamenten zahlreich vertreten, sie sitzt auch hinter vielen wichtigen Schreibtischen der Feuilletons und des ganzen Kulturbetriebs und wirkt hier, wie es in der Sprache der Kommunikationswissenschaft heißt, als eine Art "Gatekeeper" oder Türsteher, die sorgsam darüber wachen, was an Lesart über ihre Aktivistenzeit entsteht.

Günter Müchler |
    Da die Sachlage für eine Glorifizierung nicht genug hergibt, steht Verhütung im Focus der Wächterarbeit. Ein anschauliches Beispiel lieferte vor wenigen Jahren die sogenannte Fischer-Kontroverse, die sich an einem unzeitgemäßen Foto des amtierenden Außenministers entzündete, und statt zur Erhellung beizutragen, mit dem unangreifbaren amtsärztlichen Zeugnis "Jugendsünden" gleich wieder beendet wurde. Einen ähnlichen Verhütungsreflex erleben wir zur Zeit bei der Beschäftigung mit der Stasi-Westarbeit in Gestalt der Rosenholz-Akten, die womöglich reiche Aufschlüsse über die macht-ethischen Standards manch führenden Achtundsechzigers zu Tage fördern könnte, aber nicht soll.

    Einer, der beharrlich den Fuß in die Tür setzt, ist Gerd Koenen. Koenen war einst Funktionär des Kommunistischen Bundes Westdeutschland, kommt also gewissermaßen aus dem Mustopf, und hat sich des Thema "Achtundsechzig" als Historiker in eigener Sache angenommen. Mit dem "Roten Jahrzehnt" legte er 2001 ein spannendes Buch über die Jahre nach dem Ende des SDS und der antiautoritären Phase der Bewegung vor. Ein Buch, geschrieben ohne den unangenehm hohen Ton der Renegaten-Literatur, vielmehr voller Ironie, was ihm von Seiten früherer Weggenossen allerdings keine Nachsicht eingetragen hat, hassen doch, frei nach dem Wort von Joseph Conrad, Frauen, Kinder und Revolutionäre nichts so sehr wie Ironie, weil sie das tief Gefühlte verletzt. Nun hat Koenen mit "Vesper, Ensslin, Baader" ein neues Achtundsechziger-Buch geschrieben, eine Biographie dreier Protagonisten der Zeit, dreier höchst unterschiedlicher Persönlichkeiten, in der Zusammenschau aber so einleuchtend wie ein Triptychon.

    Beginnen wir mit Andreas Baader. Er ist der Schattenlose der RAF-Generation, dabei der große Krawallmacher, Aufschneider, Gescheiterte, der nie versuchte, seine Taten kunstvoll zu rechtfertigen, und damit wohl auch überfordert gewesen wäre. Baader liebt leidenschaftlich PS-starke Gefährte. Seine erste Haftstrafe sitzt er ab, nachdem er mit einem gestohlenen Motorrad durch den Englischen Garten in München gerast war. Warum, fragt Koenen, machte Baader mit seiner Verrücktheit für schnelle Autos und Motorräder nie den Führerschein?

    War es nur das immer längere Strafregister, das ihn hinderte, oder der reine Mangel an Geld und Zeit? Oder zeichnete sich darin bereits ein Grundmuster ab, das seine jugendliche narzistische Störung in einen auswuchernden Konflikt mit dem ‚repressiven’ Regelwerk der Gesellschaft überführte, der schließlich ins Politische überhöht wurde? Jedenfalls hat Andreas Baader es offenkundig zeit seines Lebens als Kränkung seines omnipotenten Selbstbildes empfunden, sich irgendeiner Lehr- und Prüfungssituation auszusetzen - und wäre es nur die einer Fahrschule.

    In die revolutionäre Hierarchie bombte sich Baader durch die Beteiligung am Frankfurter Kaufhausbrand hinein. Damit hatte er sich als Tatmensch bewiesen, im Unterschied zu den vielen Leuten, die nur kämpferisch redeten. Doch obwohl sich die Brandstifter auf dilettantische Art und Weise schnappen ließen und Baader später in Berlin der Polizei wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung in die Falle ging, wurde er - der selbsternannte, ruhmlose Guerillachef - mit seiner Festnahme zur großen Nummer. Wie? Mit Hilfe von Gudrun Ensslin.

    Die RAF entstand als eine ‚Befreit-Baader-Guerilla’, und das blieb sie bis zu ihrem faktischen Ende im ‚deutschen Herbst’ 1977, bevor sie sich vollends in ein Phantom verwandelte. Und diejenige, die das ursprüngliche Befreiungsunternehmen sofort und mit aller Energie in die Wege leitete, war Gudrun Ensslin, wer sonst.

    Gudrun Ensslin: Sie ist die Frau zwischen zwei Männern - Bernward Vesper, ihrem Verlobten und Vater des gemeinsamen Sohnes Felix; dann Geliebte und Begleiterin von Andreas Baader. Koenen nennt sie, die aparte Pfarrerstochter von der Schwäbischen Alb, "die sphinxhafte Ikone der RAF-Zeit". Ihr Weg vom Pfarrhaus in den Untergrund und zur mordbereiten Rebellin ist immer noch rätselhaft. Obschon Gudrun Ensslin dazu neigt, sich mit den Zielen ihrer jeweiligen Partner total zu identifizieren, erscheint sie als die eigentlich energievolle, treibende Kraft im Prozess der Radikalisierung, auch im Vergleich zu Ulrike Meinhof, die erst spät zur Gruppe stößt und nur zögernd die Brücken hinter sich abbricht.

    Dass nach der Baader-Befreiung die Fahndungsplakate vor allem Ulrike Meinhof zeigten, war in der Tat eine groteske Verkennung der Situation seitens der Staatsschutzbehörden. Aus der zögernden, unpraktischen Helferin wurde die überlebensgroße Inspiratorin und Organisatorin des Terrors, und aus der Mahler-Baader-Ensslin-Gruppe, um die es sich, wenn schon, handelte, eine ominöse Baader-Meinhof-Bande.

    Bekannt sind die Eifersüchteleien zwischen den beiden Frauen, sie entluden sich noch im Stammheimer Hochsicherheitstrakt in wilden gegenseitigen Beschuldigungen. Für die stärkere Persönlichkeit hält Koenen eindeutig Gudrun Ensslin. Hingegen ist Ulrike Meinhof, immerhin, die intellektuell anspruchsvollere, auch wenn sich das nicht unbedingt in ihren programmatischen Eruptionen niederschlägt, dann, als sie den Rubikon überschritten hat. Doch es sind eben Äußerungen wie die folgende, die ihr in der nach Parolen des Unbedingten lechzenden Szene die Gloriole der Führerin verleihen:

    Der Typ in Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden. Und natürlich kann geschossen werden.

    Die Ent-Menschlichung des Feindes als notwendige Enthemmung vor Mord und Massenmord - sie ist auch aus anderen historischen Bezügen bekannt. Waren die Achtundsechziger, oder jedenfalls ihr militantester Kern, in mehrdeutiger Weise "Hitler’s Children", um den Titel eines bekannten Buches zu zitieren? Koenen ist hier wie andernorts zurückhaltend mit finalen Urteilen. Er zieht es vor, das ambivalente Verhältnis der Generation, die mit ebenso viel Entschiedenheit wie Selbstgerechtigkeit über ihre Eltern zu Gericht saßen, aus Lebensläufen zu destillieren. Vor allem aus dem von Bernward Vesper.

    Vesper ist Autor des fragmentarischen, posthum gedruckten Buches "Die Reise", das vielen als das Buch der Achtundsechziger-Generation gilt. Er gehörte nicht zur RAF, endete in Wahnsinn und Selbstmord, verwirklichte nie seinen Traum, ein großer Schriftsteller zu werden. Was man über ihn weiß, ist die fatale Losung "Schafft zwei, drei, viele Kaufhausbrände..."; außerdem, dass er der Verlobte einer RAF-Terroristin und der Sohn eines Nazi-Dichters war. Brillant arbeitet Koenen die schillernde Vater-Sohn-Konstellation heraus. Bernward, der den Vater Will Vesper wie einen Gottvater verehrt und fürchtet zugleich, der ihm nacheifert und sich an ihm abarbeitet. In Koenens Buch erfährt man eine Menge über das völkische Milieu der Nachkriegszeit. Der junge Bernward wächst in diesem Milieu heran. Er bewundert Hans Grimm und begegnet Winifred Wagner. Er engagiert sich für die rechtsextreme Reichs-Partei vor ihrem Verbot und betreibt, was Koenen "Jugendopposition von rechts" nennt.

    Es ist ein langer Weg bis zum enragierten Linksradikalen, den andere rückwärts genommen haben, Horst Mahler zum Beispiel, einer der RAF-Anwälte. Bei Bernward Vesper erfolgt der Umschwung frappierend spät. Noch Anfang der sechziger Jahre versucht er, zusammen mit Gudrun Ensslin Will Vespers gesammelte Werke herauszugeben; er korrespondiert mit dem Herausgeber der deutschnationalen "Soldaten-Zeitung", Gerhard Frey, und bietet ihm die Mitarbeit an. Das sind bizarre Gratwanderungen. Sie kennzeichnen nicht nur die Existenz Vespers, es gibt Entsprechungen auch im überindividuellen Raum der Achtundsechziger. Am 9. November 1969 wird ein Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindezentrum Berlin und die Teilnehmer an einer Gedenkveranstaltung der sogenannten "Reichskristallnacht" verübt. Die Bombe zündet nicht. Das Attentat, das den Beginn der Guerilla in Deutschland markieren soll, wird von Berliner Kommunarden geplant. Dieter Kunzelmann verteidigt es in einem "Brief aus Amman gegen den", wie er schreibt, "hilflosen Antifaschismus" seiner linken Genossen. Das Misslingen des Anschlags beweise "die Vorherrschaft des Judenkomplexes" in Deutschland, heißt es wörtlich in dem Pamphlet.

    Weil Koenen so nah an den Quellen bleibt, kann er ein Bild der Achtundsechziger entfalten, das vielschichtiger und widersprüchlicher ist als das Bild fröhlicher Sex-Befreiung und jugendlichen Unangepasstseins, das die in Amt und Würden befindlichen Türsteher zulassen. Wie konnte es dazu kommen, dass eine antiautoritäre Kult-Zeitschrift wie "konkret" sich mit Stasi-Geld über Wasser halten ließ? Wie konnte es zu der ungeheuren Selbstüberschätzung der RAF und ihres Umfelds kommen? Und vor allem: Wie erklärt sich, was Vesper die "Einsteinsche Formel Energie gleich Erfahrung mal Hass hoch zwei" nannte?

    So viel gab es in dieser windstillen Bonner Republik gar nicht zu erleben, um eine hasserfüllte Bewegungsenergie zu begründen und auszufüllen, wie jene von Vesper dräuend ins Feld geführte Krankheit und Exzentrizität, die Zerstörungen zur Folge haben musste oder sollte, gegen die Nagasaki und Hiroshima lächerlich erscheinen würden.

    Gerd Koenen liefert hier bestenfalls Annäherungen. Eine Antwort hat auch er nicht.

    Gerd Koenen
    Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus
    Kiepenheuer & Witsch, 365 S., EUR 22, 90