In seinem Aufsatz "Cantatrix sopranica L." von 1974 untersuchte der französische Autor und Sprachexperimentator Georges Perec die Frage, was passiert, wenn man 107 Sopranistinnen mit Tomaten bewirft. Im Haus der Kulturen der Welt setzte der britische Sänger und Schauspieler Graham F. Valentine Perecs literarisch-wissenschaftlichen Gaga-Text erstmals auf der Bühne um, singend, pfeifend, jauchzend, herrlich prätentiös dozierend über Tomatenwurfgeschwindigkeiten und die Reaktionsmuster seitens der beworfenen Sopranistinnen.
Georges Perecs Experiment warf dabei die durchaus seriöse Frage auf, wie viel Narration in einem wissenschaftlichen Text steckt und wie Wissenschaft und Kunst zusammengehen. Der Komponist und Professor für neue Musik, Wolfgang Heiniger, stellte im Gespräch mit dem Konzeptkünstler Olaf Nicolai dazu am späten Freitagabend fest:
"Musik ist keine Sprache, so wie man sich das vorstellt, auch wenn man ja immer von Musiksprachen spricht, Musik als Sprache der Gefühle et cetera, ist das insofern missverständlich, als dass es ja nicht möglich ist, sich mit Musik ein Bier zu bestellen."
Die Vorstellung, Musik transportiere unmittelbar Inhalte oder auch Gefühle zwischen dem Musiker und seinem Publikum, ist für den Schweizer Komponisten eine Illusion.
"Weil Musik absolut nicht Unmittelbares hat. Wenn ich Musik höre, die mich in irgendeiner Form interessiert, oder berührt, oder was auch immer mit mir macht, und ich reagiere in irgendeiner Art und Weise, ist das etwas, was ich gelernt habe. Und sei es, dass ich nur erkenne, dass es überhaupt Musik ist."
Der Künstler Olaf Nicolai wies auf die Parallele zwischen Musik und Konzeptkunst hin: beide haben keinen Gegenstand, sondern nur eine Idee, das heißt, sie finden im Kopf des Betrachters statt. Meiniger betonte, er wolle mit seiner Musik den Verstehenszusammenhang im Kopf des Zuhörers absichtlich stören, mit Klängen eine eigene, neue Syntax der musikalischen Sprache bauen. Verständigung wird so zu einer immer neuen Herausforderung.
Der Medienwissenschaftler und Verleger Klaus Sander untersuchte im Gespräch mit der Wissenschaftshistorikerin Anke Te Heesen die Erzählbarkeit wissenschaftlicher Untersuchungen. In zahlreichen Interviews hat Sander herausgefunden, dass Geisteswissenschaftler mitnichten die besseren Erzähler sind als Naturwissenschaftler.
"Man ist da sehr viel mit sich selbst, allein zu Hause am Schreibtisch, wendet die Worte ich weiß nicht wie oft hin und her und überarbeitet, bis man für sich den perfekten Ausdruck gefunden hat. Und dann ist auch der Selbstanspruch an die eigene Sprache so hoch, dass man dem in der mündlichen Erzählung oder in einem Interview, das man ad hoc führt, gar nicht gerecht werden kann."
Wer Sanders Aufnahmen hört, in denen eine Virologin über die Frage sinniert, ob Viren lebendig sind oder tot, oder wie ein Ornithologe über den Charakter des Auerhuhns spricht, wird keinen Zweifel daran haben, dass die Kunst des Erzählens und die Vermittlung wissenschaftlicher Inhalte zwei Seiten derselben Medaille sind. Das klassische Radio-Interview vermittle durch den Sprechakt, durch Stimmfärbung, Melodie oder auch Nebengeräusche eine umso intensivere Informationsdichte – nicht zu vergleichen mit einem Text auf dem Papier, so führte Sander aus.
Dagmara Kraus führte in ihren Gedichten in verschiedenen Kunstsprachen vor, wie Lautformung und Stimmführung im Kopf des Zuhörers Empfindungen auslösen können und Wortfetzen zu Inhalten kombiniert werden. Am Ende des Symposiums über Sprache und Wissen entführte der Ornithologe Frank Steinheimer das Publik im Haus der Kulturen der Welt ins Reich der Tiere und legte dar, dass der Kolkrabe in seinem Ruf über eine komplexe Syntax verfüge, mit der er offensichtlich konkrete, detaillierte Informationen an seine Artgenossen vermitteln kann - bisher habe der Mensch diese Rufe aber nur unzureichend entschlüsselt.
Damit war der Bogen auf diesem von Marcel Beyer leider etwas erratisch kuratierten und wirr moderierten, aber streckenweise dennoch sehr lehrreichen Symposium geschlagen: Wissen kann in jeder Sprache vermittelt werden. Es kommt nur darauf an, sie zu verstehen.
