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Heimgesucht - ein Stück Deutschland

Im letzten Jahr fuhr die Theaterkompagnie "Fliegende Fische" in die vier äußersten Gemeinden Deutschlands. Dort suchten sie einen direkten Gedankenaustausch mit ihrem Publikum über Heimat, Tradition und Deutschland und ließen ihr Recherchematerial von der Autorin Katarina Schröter zu einem Stück verdichten. Es heißt "Heimgesucht" und ist am Freitag in Berlin uraufgeführt worden.

Von Oliver Kranz |
    "Es ist dunkel. Die Vereine, die Ureinwohner, ... die Besserverdiener, die Devoten, die Sozialfälle, sie schlafen ... "

    Das Personal des Stücks ist aus dem Hier und Jetzt. Mehrere Monate haben die Fliegenden Fische auf Sylt, in Görlitz, Oberstdorf und Selfkant recherchiert.

    "Die Bulletten-Kati in DDR-zeitlicher Schürze wienert sich den Imbiss-Konkurs aus dem Hirn."

    Fuhrmann: "Wir haben bei unserer Theaterreise durch Indien und Nepal so viel über das eigene Land nachgedacht, dass das eine ganz folgerichtige Idee war, jetzt ein Stück über das eigene Land zu machen."

    "Der Investor aus dem Westen knetet verbissen seinen geschiedenen Schwanz in den scheißeinsamen Hotellaken der frisch von ihm sanierten Stadt."

    Wiegand: "Die vier äußersten Ecken von Deutschland sind ja Görlitz, Oberstdorf, List auf Sylt und der Selfkant im äußersten Westen. Und wir sind in diese Orte gefahren und haben Tischtheater gemacht."

    Tischtheater sind kleine Inszenierungen, die überall gespielt werden können - in Kneipen, Rathäusern oder Büros. Wichtig ist, dass sie mit Fragen enden, sagt Harry Fuhrmann, der Regisseur:

    "Zum Beispiel hat uns das Thema Heimat interessiert. Da ist ein Deutscher seiner Heimat begegnet und hat sich mit ihr unterhalten. Hat sie gefragt, warum er nichts über sie weiß und sich nicht mit ihr identifiziert. Und die Heimat hat darüber gesprochen, dass es daran liegt, dass man sie ignoriert und nicht beachtet als Heimat. Und am Ende fragt dieser Deutsche das Publikum: Kann ich das? Darf ich meine Heimat lieben? Und es entsteht ein Gespräch."

    Und diese Gespräche sind die Basis der Arbeit der Fliegenden Fische. Die Theaterleute wollen ihrem Publikum etwas bringen, aber auch etwas bekommen - Anregungen, Ideen, vielleicht ganze Geschichten. Die Autorin Katarina Schröter hat die Gruppe bei der Recherche begleitet und das Material in fiktiven Biografien zusammengefasst.

    Das Stück erzählt von einer Küchenfrau, die immer der Arbeit hinterher reist, von ihrem Sohn, der dadurch entwurzelt wird und von einer Weltenbummlerin, die sich nach ihrer Rückkehr in Deutschland fremd fühlt. Es tritt ein West-Unternehmer auf, der eine Frau aus dem Osten heiratet und sie mit in sein Heimatdorf nimmt. Die Ehe droht trotz der Liebe der beiden an Mentalitätsunterschieden zu zerbrechen. In einer anderen Episode wird von einem Jungschriftsteller erzählt, der trotz erster Romanerfolge an der Gesellschaft leidet.

    "Poet: Wir sind froh, wenn wir nicht aussortiert werden. Wir haben schreckliche Angst als unbrauchbare Leistungsträger auf dem Müllhaufen der Zeit zu landen. Ich habe Angst, mir meine eigene Existenz nur noch zu glauben, wenn ich meinen Namen in der Zeitung lese. Ich habe angst, verschweißt zu werden, wie ein Supermarkt-Broccoli. Ich will nicht mehr mitmachen bei einem Spiel, das jeder durchschaut und keiner verlässt."

    Der Schriftsteller zieht sich auf ein sogenanntes unbesetztes Gebiet mitten im Wald zurück. Dort versucht er, selbstbestimmt zu leben - ohne ein festes Dach über dem Kopf, ohne elektrischen Strom und vor allem ohne Fernseher.

    "Es gibt diese Menschen, die nach was anderem suchen, als was es gerade gibt, also die schon versuchen auszusteigen, um etwas Neues zu entdecken. Solchen Menschen sind wir begegnet,"

    sagt der Schauspieler Mattes Herre, der den Schriftsteller spielt. Die Recherche der Fliegenden Fische ergab, dass die regionalen Unterschiede zwischen Ost, West, Nord und Süd gar nicht groß sind, wenn es um allgemeine menschliche Fragen geht - um Anpassung oder Rebellion, Egoismus oder Gemeinsinn, Heimatliebe oder Heimatlosigkeit. Von all dem erzählt das Stück.

    Die sechs Hauptfiguren werden vorgestellt und in parallel laufenden Handlungssträngen verfolgt. Man erlebt Schlüsselszenen ihrer Biografien, wobei zwischen den einzelnen Geschichten hin und her gesprungen wird. Der Bühnenboden ist mit Bierdeckeln im Herbstlaubdesign bedeckt und dadurch sehr glatt. Man sieht wie die Figuren unsicher durch ihre Leben staksen. Sie suchen Halt und finden ihn nicht. Gespielt wird mit großer Intensität. Vor allem Sven Hönig, leuchtet aus dem Ensemble hervor, der den entwurzelten Sohn der Küchenfrau spielt. Ohne Arbeitsplatz ist er nichts, nicht einmal in seiner Stammkneipe.

    "Sohn: Bier. Eine Runde.
    Kellnerin: Erst das Geld.
    Sohn: erst das Bier, dann das Geld. So sind die Regeln.
    Kellnerin: Es gibt Ausnahmen."

    Das Deutschlandbild, das die Inszenierung liefert, ist düster. Gezeigt wird ein Land, in dem Menschen vor allem nach ihrem wirtschaftlichen Erfolg bewertet werden. Ob die Lage wirklich so ist, darüber kann man streiten. Doch darauf ist die Inszenierung auch angelegt. Publikumsgespräche gehören zu den Aufführungen der Fliegenden Fische immer dazu.

    Informationen:

    Die Gruppe geht demnächst auf Deutschlandtournee.

    Hier die Termine:

    Ballhaus Rixdorf, Berlin
    28.6., 1., 2., 4., 5. und 6.7.2008 jeweils 20 Uhr
    Gastspieltermine (Stand Juni 08)
    11. 07. Kaltstart Festival Hamburg - 23. 08. August Klappholtal (Sylt) - 24./25.09 im TIF Bremerhaven - 25.10. Eggenfelden - 29.10. Oberstdorf- 4.,5.,6.12. Residenztheater München/Marstall
    Gastspieltermine (zurzeit in Vorbereitung):
    Selfkant, Görlitz, Augsburg, Baden-Baden, Freiburg, Düsseldorf, Göttingen, Bremen Oldenburg, Neustrelitz, Jena, Erfurt, Ilmenau, Weimar, Frankfurt/Oder.

    www.fliegende-fische.com