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Helen Levitt

Die Arbeiten der 1913 in New York geborenen und noch heute dort lebenden Fotografin Helen Levitt sind bis vor kurzem in Europa kaum bekannt gewesen. Erst durch die auf der "documenta X" gezeigten Bilder wurde das Interesse an dieser Künstlerin geweckt, die sich in der Tradition von Henri Cartier-Bresson und Walker Evans vor allem und auf vollendete Weise dem Genre der "Straßenfotografie" gewidmet hat. Ihre Aufnahmen sind ausschließlich in East Harlem und der Lower East Side von Manhattan entstanden, also in den - neben Brooklyn - klassischen, von Schwarzen und Italienern bewohnten Armenvierteln New Yorks. Aber es sind gerade keine sozialen oder psychologischen Dokumente der anderen Seite des amerikanischen Reichtums, was jetzt in der ersten umfassenden Ausstellung ihrer Fotoarbeiten zu sehen ist. Die schonungslose, aber szenarisch aufgeladene Exposition der Armseligkeit des Lebens fernab von den Schauplätzen des American dream sind zutiefst gebrochen durch einen lyrischen Charakter - wie James Agee in einem Vorwort zur ersten Buchpublikation der Fotos von Helen Levitt (A Way of Seeing) 1965 schrieb. Die große Kunst von Levitts Aufnahmen besteht darin, daß sie das fotografische Medium mit seiner grausamen Präzision der Aufzeichnung dazu nutzt, gerade durch diese technische Sicherung scheinbar flüchtiger Spuren "die ästhetische Realität innerhalb der tatsächlichen Welt wahrzunehmen und eine ungestörte und getreue Aufzeichnung des Augenblicks zu machen, in dem die Bewegung der Kreativität ihre ausdrucksstärkste Kristallisation erreicht."

Michael Wetzel | 18.12.1998
    Angesichts der Bilder von Helen Levitt - mit ihren Szenen des in den tristen Straßen der Großstadt sich abspielenden Lebens und vor allem der zwischen Autos und vor Häusereingängen spielenden Kinder - fühlt man sich sofort von dieser doppelten Botschaft ergriffen: Mit Roland Barthes gesprochen, steht der denotative Aspekt des Fotografischen außer Zweifel, haben doch alle Bilder den Charakter von Schnappschüssen, von augenblickshaften, zufälligen Aufnahmen beliebiger Straßenszenen oder austauschbaren Alltagssituationen; einmal im Bild erstarrt oder eingefroren, erstrahlt aber die Konstellation von Menschen und Dingen, von bruchstückhaften Momenten und passageren Posen in einer konnotativen Aura, deren poetische Phantasmatik an Goethes "zarte Empirie" denken läßt. Der festgehaltene Augenblick einer Situation lädt sich auf mit einer situativen Vieldeutigkeit, die nachgerade zur Versenkung in die Bilder auffordert, um in dem einen sichtbaren Bild die latenten Geschichten vieler anderer Bilder zu lesen.

    Helen Levitt hat ihre Bilder nicht inszeniert. Ihre frühere Zusammenarbeit mit Walker Evans legt allerdings nahe, daß sie dessen Verfahren des "editing" übernahm, das heißt der Auswahl des "fruchtbaren Augenblicks" aus einer Reihe von Momentaufnahmen. Dennoch bleibt die Echtheit der "wahren" Aufzeichnung, die das allegorische, das "anderssagende" Bedeuten des Bildes im Vorgefundenen entdeckt. Agee spricht deshalb auch vom "glücklichen Zufall" in der Fotografie, dem, was man in zeitlicher Hinsicht auch kairos nennt. In diesem Sinne glückt es Helen Levitt, selbst die Brutalität mancher Motive mit ihren sozialen Indikationen von Elend und Gewalt in eine zum Teil spielerische Ironie aufzuheben (die oft auch sexuelle Komponenten betrifft - zum Beispiel bei dem Arbeiter mit dem zum Fenster heraushängenden Rohr, den Burschen, der sich an den aufspritzenden Feuerwehrhydranten drückt, oder das Mädchen, das die beiden Milchflaschen vor den Bauch hält).

    Das Grausame wohnt dabei nicht nur in den Gesten der Menschen, sondern stärker noch in der trostlosen Stadtlandschaft, in der sie agieren. Aber auch angesichts der morbiden Mauern und schmutzigen Straßenfluchten gelingt es den Fotos, eine Leichtigkeit des Seins hervorzuzaubern, die auch bei den oft auftauchenden Grafittis und Kinderzeichnungen auf Wänden oder Trottoirs eine comic-hafte Verfremdung bewirkt. Überhaupt ist das Komische ein Schlüssel zum Verständnis der Arbeiten von Helen Levitt. Nicht von ungefähr sind es meist spielende Kinder, die das Szenarium der Bilder beherrschen, aber nicht idealisierte Kinder als Gegenutopie einer Welt der Entfremdung, sondern als Protagonisten eines Jenseits von Gut und Böse, die im Spiel grausam und in ihrer Grausamkeit spielerisch sein können. Dieses infantil Burleske beherrscht den Kamerablick, ähnlich wie in den unmöglichen Momentaufnahmen eines Lartigue, aber zugleich so gnadenlos wie in der Welt der Kids eines Larry Clark. Genau genommen enthält sich Helen Levitt beider Extreme, sowohl der kindlichen Verspieltheit des Blicks als auch der gespielten Kindlichkeit des Angeblickten. Ihre Bilder halten inne in einer Zwischenwelt, die nicht mehr nur Spiel und noch nicht Ernst ist. Wenn Agee in seinem Essay zur musikalischen Metapher des Jazz greift, so wird er wohl diesen Effekt eines doppeldeutigen Thrill gemeint haben, wie er sich bei der Improvisation als unendliches Wiederholen eines Themas bei unendlicher Variation einstellt.