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Herausforderungen bei einem Epochenwechsel

Syrien steht vor derselben Aufgabe wie die Staaten Osteuropas nach 1989 oder Südafrika nach 1990: Die Bürger müssen ein ganz neues Selbstverständnis entwickeln, eine Kultur der Zivilgesellschaft, die sie über 40 Jahre lang verlernt haben. Darüber haben Experten bei der Stiftung Wissenschaft und Politik diskutiert.

Von Kersten Knipp | 29.08.2012
    Wir verarbeitet man 40 Jahre Diktatur? Über 40 Jahre lang lebten die Syrer unter der eisernen Faust von Hafez und Baschar al-Assad, arrangierten sich mit einem System, dessen absoluter Machtfülle sie ohne jeden Schutz ausgesetzt waren. Die Diktatur, erläutert die Anthropologin Afra Jalabi, war überall im Land gegenwärtig. Sie hing wie ein Verhängnis über den Syrern, das ausnahmslos jeden treffen konnte - und oft genug auch traf.

    "Man trifft in Syrien kaum jemanden, der nicht Verwandte hätte, die getötet wurden oder eine gewisse Zeit im Gefängnis verbrachten. Aus meinem Umfeld kenne ich einen Fall, in dem ein Mann 31 Jahre im Gefängnis verbrachte. Als er ins Gefängnis ging, war sein Sohn ein Jahr alt. Als er raus kam, war dieser Sohn 32. So gibt es viele Gefangene - ebenso wie viele Verschwundene. Wahrscheinlich sind sie tot. Aber eindeutig wissen wir es nicht. "

    Der Übergang in eine andere Epoche wird die Bürger vor erhebliche Anforderungen stellen. Im Grunde sind sie gefordert, eine ganz neue politische Kultur zu entwickeln - eine gewaltige Aufgabe angesichts der Verheerungen, die das Assad-Regime angerichtet hat. Die Syrer, erläutert Rami Nakhla, der Gründer der oppositionellen Internet-Seite "Syria News", hätten nicht nur unter der Gewalt des Regimes zu leiden gehabt - ebenso
    hätten sie auch erfahren müssen, dass unter dem Gesetz längst nicht alle gleich waren.

    "In Syrien unter Assad wusste jeder, dass es keine Gesetzesherrschaft gab. Wenn man gut vernetzt war, wenn man Macht und Geld hatte, dann stand man nicht unter dem Gesetz. Darum sollte unserer Vorstellung nach die Herrschaft des Gesetzes ein durchgängiges Prinzip werden. Ob arm oder reich, bekannt oder unbekannt: das Gesetz soll für alle Syrer als Staatsbürger das gleiche sein."

    Syrien steht vor derselben Aufgabe wie die Staaten Osteuropas nach 1989 oder Südafrika nach 1990. Die Bürger müssen ein ganz neues Selbstverständnis entwickeln, eine Kultur der Zivilgesellschaft, die sie über 40 Jahre lang verlernt haben. Seine Landsleute, erläutert der Ökonom Emad Tiawi, fürchteten den Staat - und hätten sich angewöhnt, nichts von ihm zu erwarten. Mental und psychologisch passten sie sich einem System an, an dessen Vorgaben sie nichts ändern konnten. Umso wichtiger sei nun, dass über die Reform des wirtschaftlichen Beziehungsgeflechts auch ein Mentalitätswechsel gelinge.

    "Es kommt darauf an, Korruption und Vetternwirtschaft zu bekämpfen. Ebenso auch die willkürliche Vergabe von Chancen. Alle Syrer sollen fortan eine Chance zur wirtschaftlichen Teilhabe haben - und nicht nur die Mitglieder einer bestimmten Familie, eines Stammes, Clans oder einer politischen Partei. Ebenso kommt es darauf an, den Zentralismus abzuschaffen, um so den Leuten größere Chancen für wirtschaftlichen Erfolg zu ermöglichen. "

    Ihr Land, erklärt Afra Jalabi, müsse nun Distanz zur eigenen Vergangenheit schaffen. Das sei aber nicht möglich, indem man nach Ende der Revolution einfach zur Tagesordnung übergehe. Überwinden ließen sich die Folgen der Diktatur nur, indem man sie offen diskutiere.

    "Wir empfehlen etwa den Einsatz einer Historiker-Kommission, die auch die Verbrechen jenseits der Revolutionszeit aufarbeitet. Die Syrer erlebten eine 42 Jahre lang andauernde Serie von Brutalität und Willkür. Sprechen müssen wir etwa über die bis zu 80 000 Personen, die während der 80er Jahre, nachdem Assad die Rebellion ausmerzte, verschwanden. Danach praktizierte Assad Kollektivstrafen gegen die Bevölkerung. Darunter litten auch viele Unschuldige."