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Herfried Münkler: Die neuen Kriege

Der 11. September 2001 hat in der herrschenden konservativen Klasse der USA das Vokabular des Krieges wieder hoffähig gemacht. In den simplen, markigen Phrasen des us-amerikanischen Präsidenten Bush dominiert die Sprache der Gewalt gegen alle, die er als Feinde der politischen, kulturellen und militärischen Hegemonie der Vereinigten Staaten ausgemacht hat. Das Jahr 2002 werde im Zeichen des Krieges stehen, hatte er verkündet, ob es nur bei diesem Jahr bleiben wird, darf angesichts des mit Macht betriebenen Kreuzzuges gegen den einst gehätschelten und dann zur Inkarnation des Bösen beförderten Diktators Saddam Hussein bezweifelt werden. Der Krieg, schon jetzt verheerender Alltag für Millionen Menschen abseits des reichen Nordens, konnte von den Bewohnern der Sonnenseite der Erdkugel seit mehr als 50 Jahren ignoriert und verdrängt werden, selbst dann noch, wenn die eigene Politik oder Wirtschaft darin auf die eine oder andere Weise verwickelt waren. Spätestens seit dem Balkankrieg ist die mörderische militärische Variante politischer und wirtschaftlicher Konflikte wieder näher gerückt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich Intellektuelle aller möglicher Fachrichtungen zunehmend mit diesem Thema auseinandersetzen. Zu ihnen zählt der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler, der in kurzem Abstand gleich zwei Bücher zum Krieg veröffentlicht hat. "Die neuen Krieg"’ und "Über den Krieg".

Hans Martin Lohmann |
    Lange Zeit war der Krieg kein Thema, und der Totalpazifismus hatte in Deutschland beträchtliche Konjunktur. Krieg galt vielen nicht nur nicht als letzte Option, sondern als überhaupt keine. Spätestens die jüngsten Balkankriege haben aber gezeigt, dass die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts versprochene Friedensdividende verbraucht war, ehe sie überhaupt ausgezahlt werden konnte. Der Krieg in Afghanistan und der von den USA angedrohte militärische Schlag gegen den Irak zwingen ein sich demokratisch-friedfertig dünkendes Europa dazu, sich mit einer Realität zu befassen, die es ein für allemal hinter sich gelassen zu haben glaubte. Nicht zuletzt eine Flut von Büchern, die in den letzten Jahren zum Thema Krieg erschienen sind – pars pro toto seien die von Barbara Ehrenreich, Michael Ignatieff und Martin van Creveld genannt –, zeigt unübersehbar an, dass uns der Krieg viel näher gerückt ist, als wir gerne wahrhaben wollen.

    Der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler stellt in seiner Studie über "Die neuen Kriege" die keineswegs rhetorisch gemeinte Frage nach dem "Wesen" jener Kriege in Südostasien, Zentralafrika, Lateinamerika und anderswo, die uns zunehmend beunruhigen: Werden diese Kriege noch diesseits oder bereits jenseits von Clausewitz geführt – gehorchen sie also einer letztlich politischen Logik oder haben sie sich grundsätzlich aus der Fesselung durch die Politik befreit? Und wenn das Letztere zutrifft: Zeigen uns diese sozusagen trans-clausewitzischen "neuen" Kriege ein Bild vom Krieg, das auch die Zukunft Europas bestimmen wird? Das sind zugegebenermaßen schwierige Fragen, und das Erste, wofür man Münkler zu danken hat, ist, dass er den Leser nicht mit simplen Antworten abspeist.

    Carl von Clausewitz, auf den sich alle Militärtheoretiker von Friedrich Engels bis Mao Tse-tung berufen haben, postulierte auf dem Höhepunkt der europäischen Staatenkriege im frühen 19. Jahrhundert bekanntlich den subalternen Charakter des Krieges gegenüber der Politik. Diese hatte sich, im Zuge der neuzeitlichen Staatenbildung in Europa, den Krieg als Instrument gefügig gemacht, und nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges setzte sich der Staat als Monopolist des Krieges endgültig durch.

    Zu dieser Entwicklung trug, wie Münkler einleuchtend darlegt, nicht zuletzt der Umstand bei, dass an die Stelle leichter, handlicher und billiger Waffen solche traten, die von Einzelnen nicht mehr zu handhaben und zu finanzieren waren – das betraf vor allem die Neuerungen im Artillerie- und Befestigungswesen, die sich nur ein starker (Steuer)Staat leisten konnte. Ansonsten ist festzuhalten, dass die staatliche Monopolisierung des Krieges bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert dazu führte, dass bestimmte Regeln des Krieges zumindest im Großen und Ganzen eingehalten wurden (wenn es auch Ausnahmen gab): die Regeln der militärischen Strategie, der politischen Rationalität und der völkerrechtlichen Legitimität. Weil sich alle beteiligten Parteien auf diese Regeln einigten, kann man von einer grundsätzlichen Symmetrisierung des Krieges sprechen.

    Demgegenüber zeigen sich die neuen Kriege gänzlich unbeeindruckt von derartigen Regeln und Rücksichtnahmen. Überwiegend finden sie in Gegenden statt, in denen der Staat einem unaufhaltsamen Zerfallsprozess ausgesetzt bzw. in denen die Staatsbildung so fragil ist, dass die staatstragenden Eliten nicht in der Lage sind, das Gewaltmonopol an sich zu ziehen. Weder werden die neuen Kriege formell erklärt noch formell beendet, wie man etwa an den "endlosen" militärischen Konflikten in Angola, im Kongo, im Kaukasus oder in Afghanistan sehen kann, d.h. es gibt keine klare Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden. Und so wenig der neue Krieg eine übersichtliche Freund-Feind-Definition zulässt, so wenig respektiert er territoriale Grenzen.

    Zu den furchterregendsten Seiten der neuen Kriege zählt zweifellos die Tatsache, dass die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nonkombattanten, welche die klassischen Staatenkriege wenigstens cum grano salis auszeichnete, gänzlich aufgehoben ist. Das Massaker an der Zivilbevölkerung, die systematische Vergewaltigung von Mädchen und Frauen, die Ausplünderung und Verheerung ganzer Dörfer und Regionen – all das war Kriegsalltag im zerfallenden Jugoslawien und ist es in vielen Ländern Zentralafrikas und Südasiens. Damit ist auch die Grenze zwischen zulässiger und unzulässiger Gewalt verwischt: Der neue Krieg macht keinen Unterschied zwischen militärischem Handeln und Gewaltkriminalität.

    Wie kein anderer Autor, der sich mit dem komplexen und sensiblen Thema Krieg befasst, forciert Münkler den ökonomischen Aspekt der neuen Kriege. Vielfach werden diese Kriege heute so geführt, als seien sie eine Form privater Erwerbstätigkeit. Für den modernen Übervölkerungskrieger, Produkt der demographischen Entwicklung in der Dritten Welt, d.h. für den jungen Mann, der in einer Gegend lebt, die von Armut und struktureller Arbeitslosigkeit geplagt ist, mag die einzige Lebenschance darin liegen, sich als Söldner zu verdingen. Nicht umsonst wird die Zahl der Kindersoldaten von der UNO weltweit auf 3oo.ooo geschätzt. Diese jungen Leute sind ohne weiteres imstande, mit dem modernen leichten Kriegsgerät fachgerecht umzugehen. Unter dem Gesichtspunkt der Gewinnträchtigkeit des Krieges, bei der es nicht zuletzt um private Profite für die lokalen Milizenführer und warlords geht, ist es für die kriegführenden Parteien geradezu widersinnig, den Krieg zu beenden. Während sich für die Demokratien des reichen Nordens der Krieg immer weniger lohnt, lohnt er sich für die privaten "Gewaltunternehmer" des armen Südens, die auf ein Reservoir billiger Kindersoldaten und auf ebenso billige Waffen zurückgreifen können, um so mehr. Münkler schreibt:

    Die gefürchteten Teschetniks etwa, jene paramilitärischen Gruppen und Banden, die in den jugoslawischen Staatszerfallskriegen als Freiwillige für die serbische Sache gekämpft haben, taten dies in vielen Fällen primär aus wirtschaftlichen Gründen: Die Beute, die ihnen in den Wohnungen und Häusern der Vertriebenen und Ermordeten in die Hände fiel, erlaubte ihnen zeitweilig eine Art der Lebensführung, von der sie als Zivilpersonen nur träumen konnten.

    Der Krieg, so das Resümee Münklers,

    wird zur Lebensform: Seine Akteure sichern sich ihre Subsistenz durch ihn.

    Dies bedeutet in der Tat die totale "Enthegung des Krieges", wie man sie aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges kennt.

    Waren die alten zwischenstaatlichen Kriege symmetrisch, so muss man die neuen Kriege, auch low intensity wars oder "Kleine Kriege" genannt, als asymmetrisch bezeichnen, weil sich in ihnen Parteiungen gegenüberstehen, von denen immer eine Seite als prinzipiell nicht satisfaktionsfähig betrachtet werden muss. Dies gilt zumal für den modernen Terrorismus, dem Münkler ein eigenes Kapitel gewidmet hat. Der Angriff auf Pentagon und World Trade Center vor einem Jahr war ein strategisch geplanter Schlag, bei dem die attackierten USA nicht den Hauch einer Chance zur Gegenwehr hatten, von den zivilen Opfern zu schweigen. Vergleichbares kann man im low intensity war zwischen Israel und den Palästinensern beobachten: Ein Blutbad im Herzen Jerusalems, angerichtet von palästinensischen Selbstmordattentätern, lässt sich von israelischer Seite so wenig verhindern wie umgekehrt palästinensische Zivilisten etwas gegen die Gewalt israelischer Panzer und Artillerie ausrichten können.

    Im abschließenden Kapitel seines Buches diskutiert der Autor die Risiken und Nebenwirkungen militärischer Interventionen seitens der demokratischen Gesellschaften des Westens zur Durchsetzung der Menschenrechte in Gegenden, die Schauplatz der neuen Kriege sind. Dabei macht er mindestens drei gravierende Einwände gegen eine Interventionspolitik namhaft: erstens sei sie viel zu kostspielig, als dass sie überall und langfristig exekutierbar wäre; zweitens stehe sie permanent unter dem politischen und moralischen Vorbehalt, dass der Einsatz ihrer Hightech-Waffen zu höchst unerwünschten Resultaten, so genannten Kollateralschäden, führt, siehe Afghanistan; drittens seien bewaffnete Interventionen mit der "postheroischen Mentalität" der Gesellschaften des reichen Nordens immer weniger vereinbar. Die schönen Vorstellungen von Jürgen Habermas und Ulrich Beck, das Zeitalter globaler Menschenrechtspolitik stehe ins Haus, hält Münkler zurecht für völlig unrealistisch.

    Die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten unübersehbar dabei sind, trotz solcher Einwände den Weg einer weiteren Asymmetrisierung des Krieges zu beschreiten und damit seine europäischen Verbündeten, die wie im Fall des Irak auf ein Minimum an symmetrischer Politik drängen, abzuhängen, dürfte darauf hinweisen, dass dem Einsatz asymmetrischer Gewalt in Gestalt von Terrorismus, Bürgerkriegen, Massakern und organisierter Gewaltkriminalität, aber auch in Form eines Staatsterrorismus, dessen Noam Chomsky die USA zeiht, seine Blütezeit erst noch bevorsteht.

    Falls die USA den eingeschlagenen Weg weiterverfolgen, werden Sie den Irak ... wohl angreifen. Das würde dem jetzigen Völkerrecht den Todesstoß versetzen. Ein anderes Völkerrecht dürfte dann an seine Stelle treten. Und das wäre keines zwischen prinzipiell Gleichen, sondern ... zutiefst asymmetrisch. Auch das Konzept des Dschihad, des Heiligen Krieges, ist asymmetrisch. Es handelt sich um die Ideologie blockierter Staatlichkeit. Misslingt die Auflösung dieser Blockade, werden Asymmetrien zur weltpolitischen Signatur.

    Selten hat man ein gescheiteres und konziseres Buch über die Kriege der Zukunft in der Hand gehalten als dieses. Zum Zwecke historischer Vertiefung des Themas lese man Münklers Studien u.a. über Thukydides, Machiavelli, Fichte, Clausewitz, Engels und Carl Schmitt, die er in einem zweiten Band versammelt hat und die bestens geeignet sind, jene Theorien des Krieges lebendig werden zu lassen, die, wie es scheint, gegenwärtig rapide altern.

    Freilich, auch er weiß keine Antwort auf die Frage, ob die Heraufkunft der neuen Kriege ein Fanal dafür ist, dass der Krieg, in Europa für kurze drei Jahrhunderte mühsam gebändigt, nunmehr wieder in seiner reinen und ursprünglichen Gestalt, d.h. als Subjekt, als eigenständige Lebensform, als Akt gesteigerter männlicher Selbstexpression, triumphiert. Als Politikwissenschaftler und homo politicus wird sich Münkler gegen jede Anthropologisierung des Krieges sträuben, wie sie etwa Martin van Creveld betreibt, und ihn in jenes Prokrustesbett zwängen wollen, das Clausewitz’ politische Instrumentalisierung des Krieges bedeutet. Indes spricht, leider, einiges dafür, dass der Krieger als Held, Marodeur und Vergewaltiger unsterblicher ist als der politisch gehegte Soldat.

    Herfried Münkler: "Die neuen Kriege", erschienen im Rowohlt Verlag, hat 288 Seiten und kostet 19.90 Euro. "Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion" ist im Verlag Velbrück Wissenschaft erschienen, hat 293 Seiten und kostet 29 Euro.