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Hermann Weber, Bernhard H. Bayerlein (Hg.): Der Thälmann-Skandal. Geheime Korrespondenzen mit Stalin

Thälmann und Thälmann vor allem / Deutschlands unsterblicher Sohn / Thälmann ist niemals gefallen/ Stimme und Faust der Nation ...

Wolf Dietrich Fruck |
    Das Thälmann–Lied von Eberhardt Schmidt mit einem Text von Kurt Bartel war in der DDR Pflichtprogramm im Musikunterricht der Schulen. Ausdruck einer glorifizierten Heldenverehrung, zeigte es symptomatisch die Sichtweise der herrschenden Partei auf ihre Geschichte und die damit verbundenen Repräsentanten. Ob im Kinderbuch, in Filmen oder anlässlich zu begehender Gedenktage – Ernst "Teddy" Thälmann stand bei der Zelebrierung des Personenkults in einer Reihe mit Marx, Engels, Lenin und, bis zum XX. Parteitag der KPdSU, Stalin. Dass der KPD-Vorsitzende der Weimarer Republik elf Jahre in Nazihaft saß und schließlich im KZ Buchenwald ermordet wurde, sichert ihm auch heute noch Respekt. Von Stalin zu dieser Zeit längst fallen gelassen, war es jedoch eben dieser Kreml-Herr gewesen, der Thälmann zum unumstrittenen "Führer" der KPD machte. Dabei war das Jahr 1928 ein Schlüsseljahr in der Geschichte der KPD, nicht zuletzt bestimmt durch die sogenannte Wittdorf–Affäre.

    Am 26. September 1928 beschloss das Zentralkomitee der KPD, dass Ernst Thälmann - formal auf seinen eigenen Antrag hin - seine Funktion als Vorsitzender des ZK der KPD ruhen lassen solle, da er die Unterschlagung von Parteigeldern durch John Wittorf, den Politischen Leiter des Parteibezirkes Wasserkante, dem ZK gegenüber verschwiegen und damit gedeckt habe. Das Politbüro der KPD missbilligte das Verhalten des Parteivorsitzenden als einen die Partei schwer schädigenden Fehler. Selbst Wilhelm Pieck, später erstes Staatsoberhaupt der DDR, stimmte damals gegen Thälmann.

    Während der Vorbereitung des 6. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale war es in der Führung der KPD bereits vor der Wittdorf–Affäre zu erheblichen taktischen Meinungsverschiedenheiten gekommen, die mehrheitlich zugunsten der von Thälmann vertretenen politischen Thesen entschieden worden waren. Als nun die Unterschlagung von Wittdorf durch die Revisionskommission aufgedeckt und dem Zentralkomitee durch Hugo Eberlein mitgeteilt worden war, wurde gegen Thälmann der Vorwurf erhoben, durch sein Taktieren in dieser Finanzfrage der Partei Schaden zugefügt zu haben. Am nächsten Tag machte das Parteiorgan "Rote Fahne" sein politisches Ende als KPD-Vorsitzender bekannt. Zu voreilig, denn im Zentralkomitee hatten die fraktionellen Gegner Thälmanns keineswegs die Mehrheit.

    Außerdem hatte der Beschluss zwei Schönheitsfehler. Erstens war Thälmann auch Bundesvorsitzender des formal von der KPD unabhängigen und ihr gegenüber etwa zehnfach mitgliederstärkeren Rotfrontkämpferbundes, der "Parteiarmee" der KPD, und zweitens hatten am 26. September sechs ZK-Mitglieder, darunter Walter Ulbricht, gefehlt, die noch auf dem Rückweg vom 6. Weltkongress der Kommunistischen Internationale waren. Mit einem Eiltelegramm aus Moskau an das ZK der KPD legten Ulbricht und Fritz Heckert ihr Veto ein

    Nach Bericht Eberlein erklären Einverständnis mit Ausschluss Wittdorf. Protestieren aufs Schärfste gegen Methode und Resolution des Zentralkomitees vom 29.9. – Sofort Mitglieder des Zentralkomitees von unserem Protest informieren.

    Außerdem protestierten neun KPD-Bezirksleitungen sowie die Bundesleitung des Rotfrontkämpferbundes. Resultat: der Beschluss vom 26. September wurde am 7. Oktober 1928 wieder aufgehoben.

    Im Hintergrund hatte allerdings Stalin bereits seine Fäden gezogen. Er wollte und konnte auf Thälmann, der, wie Molotow an Stalin schrieb, "überall mit ungewöhnlicher Begeisterung aufgenommen" wurde, nicht verzichten. In einem Chiffre-Telegramm an Molotow schreibt Stalin am 1. Oktober 1928:

    Erstens, Thälmann hat einen groben Fehler begangen, als er das Vergehen des Hamburger Sekretärs dem ZK vorenthielt ... Zweitens, die Veröffentlichung des Beschlusses, noch dazu ohne Wissen der Kommunistischen Internationale, ist ein feindseliger Akt gegen die Partei..., die nur den Kapitalisten und der Sozialdemokratie nützt.

    Und so sprach das Präsidium des Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale am 6. Oktober Thälmann "das volle politische Vertrauen" aus. Das Präsidium entschied nach einer langen Diskussion, dass Thälmanns Verhalten zwar falsch gewesen war, dass aber kein Grund vorlag, ihn von der Parteiführung abzuberufen. Sein Motiv sei es lediglich gewesen, zu diesem Zeitpunkt Schaden von der Partei abzuwenden. Daraufhin zogen 19 ZK-Mitglieder am 7. Oktober ihre Zustimmung zum Beschluss vom 26. September zurück. Die Rolle rückwärts las sich so:

    Die Unterzeichnenden erklären nach Kenntnisnahme neuer Tatsachen, dass der aus Anlass des Ausschlusses von Wittdorf veröffentlichte Beschluss des Zentralkomitees vom 26. September ein Fehler war . Ein Block der rechten und versöhnlerischen Gruppe benutzte den Hamburger Fall ... zu einem entscheidenden Angriff zur Änderung der politischen und innerparteilichen Linie der Partei...

    Die "neuen Tatsachen" waren die in Moskau gefällten Entscheidungen.

    Nun gingen Stalin, Thälmann und die "Linken" im ZK zum Gegenschlag über, und die Ausschlüsse begannen. Personalpolitisch hatte die KPD bereits unter der Führung von Arcady W. Maslow und Ruth Fischer mit der Herausdrängung der alten, erfahrenen Arbeiterfunktionäre des Spartakusbunds aus der KPD und ihre Ersetzung durch junge, aufstrebende, daher dem Apparat gefügige Funktionäre begonnen. In Folge der "Wittdorf–Affäre" kam es so unter anderem Ende 1928 zur Gründung der KPD-Opposition durch ehemalige Mitglieder der Partei. Zehn der Gründungsmitglieder der KPD-O hatten am Gründungsparteitag der KPD 1918 teilgenommen und waren zwischenzeitlich aus der KPD ausgeschlossen worden. Allerdings gelang es dieser Splitterpartei nicht, nennenswerten Einfluss zu erlangen.

    Unbestritten bleibt, dass die von Stalin machtpolitisch zugunsten Thälmanns bereinigte "Wittorf-Affäre" sich bruchlos in den Prozess der Stalinisierung einfügte. Die auch als "Bolschewisierung" etikettierte Stalinisierung der Partei wurde allerdings bereits spätestens seit 1924 betrieben. Sie bedeutete die völlige Unterordnung der KPD unter die Bedürfnisse des innersowjetischen Fraktionskampfes, den die Stalinfraktion gegen Trotzki, Sinowjew und Kamenew sowie alle weiteren Oppositionsgruppen führte, sowie unter die staatlichen, militärischen und geheimdienstlichen Bedürfnisse der sowjetischen Politik. Hierzu zählt auch das Geheimabkommen zwischen der sowjetischen und der deutschen Delegation beim Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale vom Februar 1928, künftig die "rechte Gefahr" als Hauptgefahr anzusehen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass Duldsamkeit ihr gegenüber, dem sogenannten "Versöhnlertum", ausgeschlossen wird. Im August/September 1928 wurde diese neue Linie vom 6. Kongress der Kommunistischen Internationale als für die Weltbewegung verbindlich erklärt und mit der Legende von einer "dritten Periode" verbunden. Ihr zufolge stand die proletarische Revolution unmittelbar bevor, zugleich war der "Sozialfaschismus" - die Sozialdemokratie und vor allem ihr linker Flügel - das wichtigste Hindernis auf dem Weg dorthin. Hinter den Kulissen wurde beim Kongress bereits gegen Stalins nächstes Opfer, Nikolai Bucharin, intrigiert. Diese KPD-Generallinie sollte sich für die Weimarer Demokratie verhängnisvoll auswirken.

    Andererseits blieb der KPD zu dieser Zeit nur die Alternative, als Juniorpartner der SPD bei gemeinsamen Aktionen zu agieren. Bei der Reichtagswahl 1928 erreichte die KPD zwar 10,6 % aller Stimmen, die SPD aber fast dreimal so viel. Ganz abgesehen davon, dass die rechten Parteiführer der SPD keineswegs daran interessiert waren, mit den Kommunisten zusammenzugehen. Dank der Archivöffnung in Russland können die Innen- und Außenwirkungen des Politskandals nach 75 Jahren nun erstmals detailliert dargestellt werden. Bis vor kurzem geheime Dokumente fügen sich zu einem Bild des diktatorischen Systems Stalins, das letztlich mittels eines Geflechts geheimer persönlicher Beziehungen funktionierte. Zahlreiche erstmals veröffentlichte Briefe von Stalin, Thälmann, Molotow, Clara Zetkin, Ulbricht, Bucharin und anderen decken dabei die Verstrickungen der KPD-Führer auf. Die Unterordnung unter die Politik Stalins sicherte Thälmann das politische Überleben. Pragmatisch erkannte Stalin, dass es zu diesem Zeitpunkt keine personellen Alternativen zu Thälmann in der KPD-Spitze gab. Thälmann war populär, was ihm die Zustimmung der Parteimitglieder sicherte, und darüber hinaus war nicht zu befürchten, dass Thälmann eigene Ambitionen hegte, theoretische Diskussionen über die Strategie der KPD zu führen. Somit war für Stalin gesichert, dass er in Thälmann einen willigen Vollstrecker seiner Politik fand.

    Die Auswahl der Dokumente vom Juni 1927 bis zum März 1929 geht über die reine "Wittorf–Affäre" hinaus. Klar zeigen die Autoren auf, welche politischen Auseinandersetzungen die KPD beherrschten und wie es gelang, die "Thälmannsche" Linie, also die Linie Stalins, in der KPD durchzusetzen. Die ausschließliche Verwendung der Original–Dokumente macht das Buch dabei zu einer spannenden Lektüre. Ein umfangreiches Personenregister und die ausführlichen Anmerkungen zu den Dokumenten ergänzen die Publikation dabei vortrefflich. Für alle, die sich mit der Geschichte der kommunistischen Bewegung in Deutschland beschäftigen, liegt somit ein neues, unverzichtbares Standardwerk vor.