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Hilferuf aus dem sowjetischen Sektor

Nach dem 13. August 1961, dem Tag, an dem die SED Ost-Berlin abriegelte, versuchten viele Studenten zu flüchten. Dabei halfen ihnen die Kommilitonen im Westen. Manchmal glückte die Flucht, doch oft ging sie schief.

Von Rainer Brandes |
    Berlin-Charlottenburg, im West-Teil der Stadt, 13. August 1961. Hier erfährt der 23-jährige Anglistikstudent Eberhard Bolle in der Wohnung seiner Eltern von der Abriegelung Ost-Berlins. Der Sender Freies Berlin und der RIAS verkünden die erschreckende Nachricht. Nach dem ersten Schock gehen die Gedanken des Studenten der Freien Universität zu seinen Kommilitonen aus Ost-Berlin. Was wird nun aus ihnen werden? Und tatsächlich: Nur wenig später erhält Eberhard Bolle einen Hilferuf eines Freundes aus Köpenick im sowjetischen Sektor der Stadt.

    "Ich erhielt dann von meinem Freund am Freitag nach dem Mauerbau, das war dann also der Freitag, der 18. August, eine Karte. Auf dieser Karte stand also die Bitte: Besuch mich doch bald, möglichst bald. Und das hab' ich dann also an demselben Freitag auch getan."

    Für West-Berliner war das kein Problem. Eberhard Bolle zeigt am S-Bahnhof Friedrichstraße seinen West-Ausweis vor und steigt in den nächsten Zug Richtung Köpenick. Dort warten sein Freund und dessen verzweifelte Eltern, die nicht wissen, was nun aus ihrem Sohn werden soll, der doch kurz vor dem Examen steht. An den Freund aus West-Berlin haben sie nur eine Bitte:

    "Also, es hieß dann sehr bald, er braucht einen Ausweis. Haben Sie einen Ausweis dabei? Ich sagte: Ja, ich hab' meinen Personalausweis dabei. – Nein, er braucht einen Ausweis. Er muss einen West-Ausweis haben, damit er über die Grenze kann."

    Zurück in Charlottenburg wendet sich Eberhard Bolle an zwei Kommilitonen. Einer der beiden sieht dem Freund aus Ost-Berlin recht ähnlich und stellt seinen Ausweis zur Verfügung. Mit dem Ausweis in der Tasche fährt Bolle am nächsten Tag wieder in den Osten. Doch diesmal geht die Passkontrolle nicht so glatt wie am Vortag.

    "Damit hatte ich nicht gerechnet. Zunächst mal war die Kontrolle wie am Tag vorher auf dem Bahnsteig, also, ich würde sagen normal und schnell vorüber, bin dann die große Treppe runtergegangen zum Erdgeschoss und dann kam von der Seite ein Uniformierter auf mich zu: Kommen Sie mit!"

    Jahrzehnte später wird Eberhard Bolle in seiner Stasiakte lesen, er habe auf die Beamten einen sehr aufgeregten Eindruck gemacht. Vielleicht kontrollieren sie ihn deshalb genauer. Jedenfalls kommt der zweite Ausweis zum Vorschein und nach stundenlangen Verhören legt der junge Student schließlich ein Geständnis ab. Das Urteil: zwei Jahre Gefängnis, von denen er 20 Monate absitzen muss. Damit ist er der erste verurteilte studentische Fluchthelfer überhaupt. Sein Freund wird zu acht Monaten verurteilt. Bis heute fragt sich Eberhard Bolle: Hat sich sein Engagement gelohnt?

    "Die beste Antwort habe ich eigentlich deshalb behalten, weil sie jemand anderes gefunden hat. Nämlich meine Frau hat gesagt, du wärest, wenn du gekniffen hättest, auch nicht glücklich geworden."

    Es hat in den Tagen nach dem Mauerbau unzählige solcher spontanen Fluchthilfeversuche von Studenten gegeben. Manchmal glückten sie, oft gingen sie schief. Umgekehrt versuchten viele Ost-Berliner Schüler und Studenten, auf eigene Faust in den Westen zu fliehen. So wie Roland Exner, der außerhalb Berlins in der DDR lebte, aber in West-Berlin kurz vor dem Abitur stand. Noch in der Nacht vom 13. auf den 14. August 1961 will der durchtrainierte Leichtathlet mit ein paar Klassenkameraden über eine schlecht gesicherte Friedhofsmauer türmen. Doch weil sich der 19-Jährige nicht einfach so mit der Abriegelung Ost-Berlins abfinden möchte, nimmt er am Nachmittag noch an einer Spontandemonstration vor dem Brandenburger Tor teil - zu viel Provokation für die DDR-Staatsmacht. Polizisten versuchen, ihn festzunehmen.

    "Ja, und da hab' ich dann, wie ich so vom Sport kannte, so'n Fallstart gemacht, dann Trillerpfeifen, dann kamen sie irgendwie von allen Seiten. Ja, ich weiß nicht, wie lang das war, also so 1500, 2000 Meter. Kurz vor dem S-Bahnhof Schönhauser bin ich dann gegriffen worden."

    Die Konsequenz der tollkühnen Aktion: Drei Jahre Zuchthaus in Bautzen wegen staatsgefährdender Hetze. Roland Exner wird einer der Ersten sein, die die Bundesregierung freikauft. Aus diesen gescheiterten spontanen Fluchtgeschichten zogen andere Studenten die Konsequenz und organisierten professionellere Fluchthilfen. Zu ihnen gehörte auch Hans Lechermann, der zuvor selbst erfolgreich in den Westen geflohen war. Seine Gruppe überbrachte im großen Stil gefälschte österreichische Pässe an Fluchtwillige. Dazu war Phantasie gefragt.

    "Wir hatten Zahnmedizinerstudenten, die waren in der Lage Prägestempel zu fälschen. Man nimmt einen Abdruck aus einer Plastikmasse, wie man sie für die Zähne nimmt, macht daraus das Negativ und hat einen wunderbaren Prägestempel und zwar genau mit dem Ausschnitt, der auf dem Passbild des Österreichers war."

    Auf diese Weise, aber auch durch monatelang und mühevoll gegrabene Tunnel verhalfen die Fluchthelfer der Freien Universität im Lauf der Jahre insgesamt 800 Ost-Kommilitonen zur Flucht.