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Hilflose Giganten:

Im Herbst musste der Notarzt kommen. Der Patient, das deutsche Gesundheitswesen stand kurz vor dem Kollaps. Die Krankenkassenbeiträge waren auf die Rekordhöhe von durchschnittlich 14,4 Prozent gestiegen, ohne dass damit ihre Ausgaben gedeckt wären. Das belastete nicht nur die Versicherten, sondern - als Lohnnebenkosten – auch die Betriebe. Hohe Lohnnebenkosten aber gelten derzeit als Jobkiller Nummer Eins. Vor wenigen Wochen zog die Politik die Notbremse.

Von Reiner Scholz | 27.11.2003
    Der Bundestag beschloß eine Gesundheitsreform, die die Ausgaben reduzieren und neue Einnahmequellen erschließen wird, vor allem zu Lasten der Versicherten. Jeder Besuch beim Arzt oder im Krankenhaus kostet sie künftig mindestens fünf Euro extra, Zahnersatz müssen die Beitragszahler selbst versichern. Taxifahrten, rezeptfreie Arzneimittel, Sterbegeld oder Brillen werden nicht mehr oder nur noch eingeschränkt bezahlt. All diese Maßnahmen – und noch einige mehr - sollen den Kassen bereits im nächsten Jahr eine Entlastung von 10 Milliarden Euro bringen.
    Die Politik hofft, die Kassen-Beiträge von 14,4 auf 13,6 Prozent senken zu können. Doch diese Prognose, so urteilten vor wenigen Tagen die fünf Wirtschaftsweisen, sei viel zu optimistisch. Und selbst wenn sich anfangs ein Spareffekt einstellt – die strukturelle Krise wäre damit noch nicht behoben. Dies aber, so die Experten, sei dringend nötig, denn das gesamte System befinde sich in Schieflage. Gerade die Giganten der Branche wie die großen Ersatzkassen und die Allgemeine Ortskrankenkasse, die ihren Mitgliedern die höchsten Beiträge abfordern, weil sie viele chronisch Kranke unter ihren Mitgliedern haben, schwächeln. Allein die AOK-Hamburg müsse pro Jahr mehr als 2.000 Versicherte ziehen lassen, bedauert Vorstandsvorsitzende Karin Schwemin:

    Die AOKs haben bundesweit in den letzten Jahren so zwischen ein und zwei Prozent verloren. Ersatzkassen inzwischen noch mehr. Aber die Verschiebung der Mitgliederanteile geht natürlich ausschließlich an diese mobilen Betriebskrankenkassen wegen des Preises. Und das sind jüngere Versicherte, ist auch völlig legal und aus deren Sicht auch verständlich.
    1997 durften sich unter dem Stichwort "Mehr Wettbewerb" die Betriebskrankenkassen der Allgemeinheit öffnen. Sie waren, teilweise mit Beiträgen unter 12 Prozent, konkurrenzlos billig, weil ihre bisheriges Klientel, Menschen in Lohn und Brot, vergleichsweise wenig Kosten verursachten. Die Versicherten liefen den billigen Betriebskrankenkassen nur so zu – auch wenn viele von ihnen kaum einen Service boten und häufig über wenig mehr als einen Telefonanschluß und ein paar Verwaltungsräume in einer Firma verfügten. So konnte beispielsweise die BKK Mobil Oil mit Sitz in Hamburg ihre Mitgliederzahl von 5.400 im Jahr 1999 auf derzeit mehr als eine Million steigern.
    Viele Betriebskrankenkassen konnten ihre Beiträge nur so niedrig halten, weil sie – wie 1991 ausgehandelt - an die Ärzte pro Quartal für jeden ihrer Patienten nur eine geringe Kopfpauschale zahlen müssen. Das führe nun zur Erosion des gesamten Systems, beklagt Michael Späth von der "kassenärztlichen Vereinigung" Hamburg. Mittlerweile gehen bereits Ärzte dazu über, Patienten von sogenannten Billigkassen am Ende eines Quartals einfach nicht mehr zu behandeln:

    Uns geht es um Billigkassen, sprich solche Kassen, die einen sehr niedrigen Beitragsatz haben und die entsprechend wenig Geld für die ambulante, ärztliche Behandlung zur Verfügung stellen. Das sind dramatische Unterschiede. Ich gehe jetzt mal von dem Stand der Ersatzkassen aus. Durchschnittlich nehmen wir mal die BEK, 135 Euro im Quartal als Kopfpauschale. Und wenn ich dann die niedrigste Billigkasse nehme, dann kommen wir auf 56 Euro. Also, es ist teilweise noch unter 50 Prozent dessen, was bei Ersatzkassen gezahlt wird und damit kann man Versorgung nicht mehr gestalten.

    So weit ist es also mit unserem Gesundheitssystem gekommen. Deutsche Krankenkassen, das eherne Herzstück der stolzen Sozialversicherung, gelten nicht mehr durchgängig als kreditwürdig. Die Solidargemeinschaft, die Grundidee der 1883 von Bismarck geschaffenen Sozialversicherung, wonach die Reichen viel in die Kasse bezahlen und die Armen wenig, im Krankheitsfalle aber allen gleichermaßen geholfen wird, droht zu zerbrechen.

    Wirtschaftlich sind Deutschlands Versicherungen und Krankenkassen Giganten. Allein die gesetzlichen Krankenkassen haben über 70 Millionen Mitglieder – 90 Prozent der Bevölkerung - und setzen im Jahr mehr als 140 Milliarden Euro um, die privaten Krankenkassen teilen sich die restlichen zehn Prozent. Doch von ihrer Gestaltungsmacht sind die Krankenkassen Zwerge. 95 Prozent der von ihnen erbrachten Leistungen sind gesetzlich vorgeschrieben. Mehr noch: Zusammenschlüsse von Krankenkassen sind nur in engen Grenzen erlaubt, innerhalb des eigenen Segments, gesetzliche Kassen mit gesetzlichen, Ersatzkassen mit Ersatzkassen.

    An diesem starren Korsett hat auch die jüngste Gesundheitsreform wenig geändert. Die Politik schreibt den Kassen sogar vor, wie sie das ersparte Geld einsetzen sollen. Eine schizophrene Situation nennt dies Stefan Edgeton von der Bundesverbraucherzentrale in Berlin:
    Einerseits sagt der Gesetzgeber, ihr sollt in den Wettbewerb gehen, ihr sollt Euch auf dem Markt bewähren. Wir als Verbraucherschützer haben das durchaus begrüßt, weil das den Versicherten mehr Macht gibt, zum Beispiel die Möglichkeit des Kassenwechsels. Auf der anderen Seite wird den Kassen vorgeschrieben, dass sie einen bestimmten Anteil der Beitragseinsparungen in Beitragssenkungen umlegen müssen. / und es wird ihnen angeboten, auch die Schulden, die sie haben, nicht sofort zu tilgen, sondern zu strecken. All das setzt die Kassen von Seiten des Gesetzgebers unter einen Druck, der im Grunde dem Wettbewerb widerspricht und auch nicht dem Versicherten-Interesse entspricht, denn aus Versicherteninteresse wäre es sinnvoll, zunächst mal die Schulden zu tilgen.
    Bis in die siebziger Jahre waren die Konten der gesetzlichen Versicherungen noch prall gefüllt. Heute betragen die Schulden mehr als 2,4 Milliarden Euro. Viele Krankenkassen würden wie in den guten alten Zeiten über ihre Verhältnisse leben, lautet denn auch eine gängige Kritik. Die mehr als 350 gesetzlichen Kassen, die über 150.000 Mitarbeiter beschäftigen, geben im Jahr über acht Milliarden Euro für ihre Verwaltung aus. Machte dies 1991 im Durchschnitt noch 94 Euro pro Jahr und Mitglied, so sind die Verwaltungskosten derzeit auf 157 Euro im Schnitt angewachsen.
    Zu den schärfsten Kritikern der Kassen gehören die Ärzteverbände. So bezeichnet der Verband der niedergelassenen Ärzte, der "Hartmannbund", die Versicherungen gern als "monströse Futterkrippen". Die "Kassenärztliche Vereinigung" in Hamburg prangert unter anderem die große Zahl der Kassen an:

    Zunächst einmal brauchen wir keine 350 Krankenkassen in Deutschland, das hat selbst die Ministerin Schmidt gesagt: Mit 50 wären wir immer noch sehr gut bedient. Die Gesetzgeber sollten den Weg freimachen, dass Kassen fusionieren können, ich glaube, man könnte dadurch viele Kosten einsparen. Der Wettbewerb wäre bei 50 Kassen immer noch absolut gewährleistet, und wir bräuchten dann auch nicht mehr über die ständig steigenden Verwaltungskosten der Krankenkassen zu klagen, das sind Steigerungsraten von vier, fünf Prozent pro Jahr.
    Im einzelnen gibt es allerdings große Unterschiede: Während die Ortskrankenkassen 5,4 Prozent für die Verwaltung aufwenden, bringen es die Angestelltenkassen schon auf 6,5 Prozent. Besonders stolz sind die Betriebskrankenkassen auf ihre geringen Eigen-Kosten von 4,3 Prozent.
    Zu ihrer Verteidigung verweisen gerade die großen Kassen auf ihre Sparbemühungen: So schloß die Barmer Ersatzkasse jüngst 169 Geschäftsstellen und entließ 1.330 Mitarbeiter. Doch es bleiben Fragen. Etwa: Ist es nötig, dass die Versicherten sieben Krankenkassen-Bundesverbände und diverse Landesverbände finanzieren müssen mit entsprechender Verwaltung und teuren Vorständen.

    Doch sind die Verwaltungskosten, entgegen der landläufigen Auffassung, nur der kleinere Teil des Problems. Würden die Kassen alle Beschäftigten entlassen und alle Filialen schließen, dann sänke der durchschnittliche Mitgliedsbeitrag der Versicherten lediglich von derzeit 14,4 auf 13,6 Prozent.

    Doch eine Verschlankung der Verwaltungen stößt bald an ihre Grenzen. Denn den Kassen werden mit jeder Gesundheitsreform immer neue Aufgaben übertragen. Derzeit arbeiten sie an der Umsetzung eines früheren Beschlusses, den sogenannten Disease-Management-Programmen für chronisch Kranke. Für diese Patienten, wie beispielsweise Diabetiker, wird ein eigener Honorartopf geschaffen, groß genug, dass sich Krankenkassen bemühen, sich dieser – im Grunde ungeliebten – Versicherten endlich anzunehmen. Doch sei dieses Vorhaben eben mit viel Bürokratie verbunden, sagt Hans-Otto Schurwanz, Vorstandsvorsitzender vom Landesverband Nord der Betriebskrankenkassen:

    Wir haben bei uns im Verband drei Umzugskartons voll mit Aktenordnern nach Bonn schaffen müssen zum Bundesversicherungsamt, um dort die Akkreditierung dieses Programms zu erreichen. Das ist erforderlich gewesen für ein Programm. Wenn Sie sich vorstellen, dass wir demnächst zehn Programme haben werden und wir es zunächst nur für den norddeutschen Bereich gemacht haben, dann können Sie sich vorstellen, wie viel Ordner mittlerweile beim Bundesversicherungsamt aufgelaufen sind.
    Vom jüngsten Reformgesetz ermutigt sind die gesetzlichen Kassen derzeit auf der Suche nach für sie neuen Wegen. So sollen künftig auch ihre Versicherten - wie die der privaten - durch finanzielle Anreize ermutigt werden, so wenig medizinische Hilfe wie möglich zu beanspruchen.
    Außerdem wollen sie, um Mehrfachbehandlungen und Fehlsteuerungen zu vermeiden, künftig den Versicherten so genannte Hausarztmodelle anbieten, bei denen spezielle Ärzte eine Art Lotsenfunktion übernehmen. Zudem, so Karin Schwemin, Vorstandsvorsitzende der AOK-Hamburg, bestünden Pläne über eine integrierte Versorgung, bei den die Kassen mit bestimmten Ärzten und Krankenhäusern, die einen Behandlungsverbund bilden, eigenständige Tarife aushandeln:

    Die praktische Umsetzung, mit einzelnen Ärzten Verträge abzuschließen, ist sicher nicht so sehr kompliziert. Man
    muss nur sehen, dass es nicht so viel Sinn macht, mit einem einzelnen Hausarzt Verträge abzuschließen, sondern es muss ja auch von der Struktur her deutlich sein, diese Ärzte machen etwas anderes als diejenigen, die im Verband der kassenärztlichen Vereinigung tätig sind. Es könnten sicherlich Ärzte sein, die sich auf bestimmte, medizinisch anerkannte Methoden spezialisiert haben und ein pauschaliertes Verfahren mit einem Krankenhaus vorsehen, so dass es eine Form der integrierten Versorgung wäre.

    Das sind keine ganz neuen Ideen. In den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, während der Weimarer Republik, schufen die Kassen, gegen den erbitterten Widerstand der ärztlichen Standesorganisationen, in vielen Städten eigene "Ambulatorien" mit angestellten Ärzten. Die Wirtschaftskrise und die NS-Zeit nutzten die niedergelassenen Ärzte dazu, die Krankenkassen aus Behandlung und Abrechung herauszudrängen. Nur in der DDR überlebte eine ambulante Versorgung in den Kliniken. Sie wurde, obwohl sie in der Bevölkerung durchaus beliebt war, mit der Eingliederung der neuen Länder an die Bundesrepublik weitgehend abgeschafft.
    Ob es indes gelingt, den Kassen ein Stück Vertragsfreiheit zurück zu geben, ist mehr als offen. Die niedergelassenen Ärzte jedenfalls seien strikt dagegen, sagt Hamburgs KV-Chef Michael Späth:

    Wie sollen denn allein in Hamburg 260 Krankenkassen mit 3.000 Ärzten Verträge machen? Undenkbar, das funktioniert nicht. Der größte Fehler ist, dass jetzt der Wettbewerb in die Hausärzte hineingetragen werden soll. Das finde ich fatal. Denn hier sollen die Krankenkassen jetzt ermächtigt werden, mit besonders qualifizierten Hausärzten Einzelverträge abzuschließen. Was heißt denn hier: besonders qualifiziert? Krankenkassen verstehen darunter den Hausarzt, der wenig Kosten verursacht und gefügig ist.
    Wie mächtig der Einfluss der Lobbyverbände ist, mussten die Kassen schon oft erleben. In vielen Jahren gelang es ihnen nicht, gegen den Einfluss der Pharma-Industrie, eine von vielen Seiten für überfällig erachtete Positivliste durchzusetzen, eine Zusammenstellung empfehlenswerter Medikamente. Künftig soll es zwar ein Gremium "Qualität in der Medizin" geben, das sich zur Frage der Kosten äußern soll.
    Dabei machen die Arzneimittelkosten den Kassen derzeit am meisten zu schaffen. Von 1997 bis heute stiegen die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen von 16,3 auf 22,3 Milliarden. Dass teurere Arzneimittel indes keine Garantie für bessere Qualität bieten, haben Wissenschaftler erst jüngst wieder am Beispiel von Blutdrucksenkern nachgewiesen.
    Jeder zweite Erwachsene in Deutschland über 35 Jahre hat erhöhte Blutdruckwerte. Bluthochdruck lässt sich heute gut behandeln. Es gibt allerdings Medikamente, die 40 Euro und neuere, die 400 im Jahr kosten. Doch deutsche Ärzte verschreiben zunehmend die teuren Produkte, obwohl die billigeren viel besser untersucht und zumeist nicht schlechter sind. Die Mediziner werden damit Opfer einer Marketingstrategie von Pharmafirmen, die die billigeren Medikamente zu Unrecht für veraltet erklärt. Nach konservativen Schätzungen könnten die Kassen - und damit die Versicherten - allein bei den Blutdrucksenkern 400 Millionen Euro einsparen.
    Nach den USA leisten Deutschland und die Schweiz mit fast elf Prozent des Bruttosozialprodukts weltweit die höchsten Gesundheitsausgaben. Dänemark, zum Vergleich, gibt nur 8,6 Prozent für die Gesundheit aus, Norwegen gar nur 8,3 Prozent, obwohl keiner behaupten würde, dass die dortige Medizin schlechter sei als die in Deutschland.
    All dies sind keine neuen Erkenntnisse. An den Rand des Zusammenbruchs geriet das deutsche System nur, weil den gesetzlichen Krankenkassen die Einnahmen wegbrachen. Wenn die Beiträge sich lediglich am Arbeitseinkommen abhängig Beschäftigter orientieren und darüber hinaus Gutverdiener sich anderweitig versichern können, dann muss jede Phase hoher Arbeitslosigkeit alle verbleibenden Einzahler über Gebühr belasten. Ein genereller Systemwechsel ist überfällig – doch in welche Richtung?
    Sollen auch künftig die Arbeitgeber die Hälfte der Beiträge zahlen oder sollen sie ganz außen vor bleiben? Sollen alle Versicherten das gleiche zahlen, oder soll sich die Beitragshöhe nach dem Einkommen bemessen? Sollen auch künftig Selbständige, Beamte und Gutverdienende sich privat versichern dürfen, oder sollen sie auch in die gesetzliche Solidargemeinschaft einzahlen? Das sind Fragen, auf die eine Antwort gesucht wird. Rolf Rosenbrock, Leiter der Arbeitsgruppe "Öffentliches Gesundheitswesen" im Wissenschaftszentrum Berlin, nennt die gängigen Modelle:

    Grundsätzlich kann man ja die Finanzierung und die Steuerung der Krankenversorgung auf drei verschiedene Arten machen. Man kann es steuerfinanziert, vom Staat, machen lassen. Das machen mit großem Erfolg die skandinavischen Länder und auch Großbritannien. Die skandinavischen Länder liegen bei allen wesentlichen Merkmalen, das heißt in Hinblick auf den gleichen Zugang zur Krankenversorgung, in Hinblick auf die Qualität, in Hinblick auf die Zufriedenheit der Bevölkerung und in Hinblick auf die Kosten an der Spitze der Länder. Man kann es auch machen über Sozialversicherungsmodelle, das ist in Zentraleuropa vor allen Dingen der Fall, also Frankreich, Niederlande, Österreich, Deutschland, das bringt auch gute Ergebnisse, und man kann es über den Markt regeln lassen, das finden wir vor allem in den USA ,und dieses System ist bei weitem das teuerste und das schlechteste.
    Derzeit werden unter den Schlagwörtern "Kopfpauschale" und "Bürgerversicherung" zwei Modelle diskutiert, wobei sich das Pro und Contra nicht unbedingt an den Parteigrenzen festmacht.
    Bei der "Kopfpauschale" oder auch "Prämienmodell" genannt, zahlt, ob Abteilungsleiter oder Schichtarbeiter, jeder Erwachsene einen gleichen Betrag, im Gespräch sind derzeit 260 Euro. Für Arme springt der Staat ein. Der Arbeitgeberanteil würde direkt an die Versicherten ausgezahlt. Die Unternehmer wären künftig aus dem Spiel, weitere Beitragserhöhungen gehen dann zu Lasten der Versicherten. Die Ungerechtigkeit, die darin liegt, dass arm und reich gleichviel zahlen, würde durch unterschiedliche Steuertarife gemildert, betonen Verfechter der Kopfpauschale, wie beispielsweise die CDU-Vorsitzende Angela Merkel. Von der reinen "Kopfpauschale" profitieren Unternehmer und Gutverdienende am meisten.
    Die "Bürgerversicherung" gibt demgegenüber den Grundgedanken der Solidarversicherung nicht auf. Reiche zahlen mehr, Arme weniger und der Arbeitgeberanteil bleibt auch erhalten. Künftig wären dann fast alle Bürger, auch Beamte, Selbständige und Besserverdiener gesetzlich versichert. Anders als heute, wo sich die Kassen-Beiträge nur am Arbeitseinkommen orientieren, würden künftig auch Zins- und Mieteinnahmen sowie Aktiengewinne berücksichtigt. Dadurch würde mehr Geld ins System gepumpt, die Beiträge für den einzelnen könnten deutlich sinken. Ein gravierender Nachteil ist allerdings, dass in einem solchen Modell die private Krankenversicherung nur noch eine Nischenexistenz führen würde.

    Spätestens 2007, sagen Experten, brauche das Land ein neues Beitragssystem. Eigentlich schon früher. Der gewünschte Einspareffekt von zehn Milliarden Euro könnte nämlich viel kleiner sein als prognostiziert. Von 207 befragten Krankenkassen, so ergab kürzlich eine Umfrage des ZDF, wollten zum 1. Januar nur 19 ihre Beiträge auch tatsächlich senken, darunter lediglich eine große Kasse. Vorreiter ist die Kaufmännische Krankenkasse KKH. Sie war die erste bundesweit tätige Ersatzkasse, die ihren Mitgliedern Ende November mitteilte, den Beitrag zum 1. Januar 2004 um 0,4 Prozentpunkte zu senken.
    Immerhin hat die Gesundheitsreform den Markt schon jetzt kräftig in Bewegung gebracht. Knapp zwei Dutzend gesetzliche Kassen wollen fusionieren. Andere, darunter mehrere Große, haben bereits angekündigt, bei Zusatztarifen, etwa für Zahnersatz oder Chefarztbehandlung, mit privaten Krankenkassen zusammen arbeiten zu wollen: Ein Novum.
    Zudem arbeitet die Politik daran, den Wechsel zwischen den Privaten zu erleichtern. Bislang verhindern nicht übertragbare Rückstellungen, dass Privatpatienten ohne große finanzielle Verluste ihre Kasse wechseln. Ob all dies aber zu mehr Beitragsstabilität führt oder aber nur dazu, dass der Versicherte am Ende für die gleiche Leistung immer mehr bezahlen muss, das lässt sich heute nur schwer vorhersagen.