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Hinrichtung, wofür?

"Auge um Auge, und die Welt wird blind sein", das war es, was Mahatma Gandhi zur Todesstrafe sagte. In den USA gab es lange eine Übermacht derjenigen, die sich für die Todestrafe einsetzten. Diese wankt jedoch zur Zeit: Hinrichtungen werden ausgesetzt, nachdenkliche Artikel erscheinen.

Von Gregor Peter Schmitz |
    "Iudex non calculat" - Der Jurist rechnet nicht. Das wird angehenden Rechtsgelehrten schon im ersten Semester eingebläut. Vor allem sollen sie nicht aufrechnen. Insbesondere nicht, wenn es um Leben oder Tod geht. Viele Rechtsprofessoren verwenden gerne mehrere Vorlesungsstunden auf die knifflige Diskussion, ob es überhaupt Umstände geben kann, in denen Menschenleben gegeneinander aufzuwägen sind.
    Umso empfindlicher reagieren viele Juristen, wenn sich Ökonomen - die mit Rechnen und Zahlen meist weniger Probleme haben - dieser Frage annehmen. In den USA, wo die Debatte um Legitimation und Grenzen der Todesstrafe gerade neu auflebt, ist das im Moment wieder zu erleben. Der Oberste Gerichtshof in Washington hat in aktuellen Entscheidungen den Rahmen für Exekutionen deutlich eingegrenzt. Jugendliche oder geistig zurückgebliebene Täter dürfen etwa nicht mehr hingerichtet werden. Ende vorigen Monats verhängten die Richter gar eine Art Moratorium für weitere Vollstreckungen - bis sie entschieden haben, ob ein häufig verabreichter Giftcocktail mit der Verfassung vereinbar ist.
    In die brisante Schnittmenge von Recht und Ökonomie gerät die Debatte, weil die Richter bei dieser Urteilsfindung wohl auch die Argumente einer Diskussion aufgreifen werden, die Ökonomen derzeit in den US-Medien mit Leidenschaft ausfechten. Es geht dabei um das alte Argument, dass die Todesstrafe Leben rettet - weil sie Morde abschreckt. Darauf hatten sich die Mitglieder des Obersten Gerichtshof schon gestützt, als sie in den 1970er Jahren ein vierjähriges Todesstrafen-Moratorium wieder aufhoben. Sie zitierten damals erste ökonomische Studien, die diese Thesen unterstützten.
    Doch nun hat sich eine ganze Armada angesehener US-Ökonomen mit neuem Eifer auf diese Frage gestürzt. Gleich zwölf umfangreiche Untersuchungen sind zu dem Schluss gekommen, dass die Todesstrafe tatsächlich Leben bewahrt. Die Rechnung der Ökonomen: Für jeden getöteten Täter werden drei bis 18 Morde verhindert. Am deutlichsten zeigt sich für sie diese Korrelation in Staaten, die relativ häufig und relativ schnell hinrichten - so wie Texas. Die Studien stützen sich auf einen Vergleich der Zahl der Hinrichtungen mit Tötungszahlen - und kommen zu dem Schluss, dass die Mordraten fallen, wenn die Anzahl der Hinrichtungen steigt. Simple Erklärung der Ökonomen: Wenn der Preis für eine Tätigkeit steigt (hier: durch die drohende Todesstrafe), sinkt die Bereitschaft zu einer Tätigkeit (hier: der Mord).
    Viele US-Juristen laufen Sturm gegen den Vergleich und sagen, die komplizierte moralische Materie lasse sich nicht nach ökonomischen Kriterien messen. Eine Kommission in New Jersey - einem Bundesstaat, der gerade die Todesstrafe abschaffen will - hat die Studien untersucht und deren Methodologie als höchst zweifelhaft eingestuft. Ihre Kritik: Zwar bemühen sich die Forscher, andere Faktoren einzubeziehen, die Tötungszahlen beeinflussen - wie die Verbrechensrate insgesamt, die Polizeipräsenz und die Wirtschaftssituation in der Region. Doch ist die Zahl von Hinrichtungen insgesamt so gering, dass man deren Einfluss nur sehr schwer von solchen anderen Gründen trennen kann. Außerdem sagen die Kritiker: Wer weiß schon, ob Mörder sich wirklich so rationale Gedanken machen? Zumal nur jedes 300. Tötungsdelikt mit einer Hinrichtung bestraft wird. Und dann ist da noch immer das Problem, wie verlässlich die Todesstrafe verhängt wird. Studien haben immer wieder ergeben, dass Unschuldige zum Tode verurteilt wurden - und dass Angehörige von Minderheiten besonders häufig hingerichtet werden.
    Und doch: Die Fülle an Studien hat selbst liberale Juristen wie Adrian Vermeule von der Harvard University nachdenklich gemacht. Die moralische Opposition zur Todesstrafe werde aufgrund der neuen Forschung schwieriger, schreibt der in einem Artikel im "Stanford Law Review". Vermeule sagt: Wer die Todesstrafe ablehnt, weil er Leben schützen will, muss sich fragen lassen, ob er nicht genau gegen dieses Gebot verstößt.
    Ganz verschwinden wird die Todesstrafe in den USA aber wohl nicht so rasch. Als in den Vereinten Nationen am 15. November eine Resolution zur Abstimmung stand, die Todesstrafe komplett abzuschaffen, stimmten 33 Länder dagegen. Darunter immer noch: die Vereinigten Staaten von Amerika.