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Hirn und Seele

Neurologen gehen Störungen an, indem sie das geschädigte Gehirn durch Medikamente oder Operationen reparieren wollen. Psychoanalytiker dagegen betrachten auch bei solchen Störungen den ganzen Menschen, seine unbewussten Ängste, Wünsche und seine Lebensgeschichte. Auf einer Tagung in Düsseldorf wollten Vertreter beider Disziplinen sich austauschen.

Von Martin Hubert |
    Knapp 80 Teilnehmer waren zur Düsseldorfer Tagung gekommen. Doch hauptsächlich waren es Psychoanalytiker, die über die Beziehung von Hirn und Psyche diskutieren wollten - die Neurowissenschaftler glänzten fast völlig durch Abwesenheit. Viele von ihnen halten die Psychoanalyse traditionsgemäß für eine unwissenschaftliche, daher vernachlässigbare Disziplin. Die aus Argentinien stammende Düsseldorfer Psychoanalytikerin Laura Viviana Strauss, eine der Organisatorinnen der Tagung, ließ sich davon jedoch kaum beeindrucken.

    " Unsere Vorstellung war, die Möglichkeit zu geben, Kollegen, die sich mit neurologischen Fällen befassen, erst mal sich auszutauschen und dann zu gucken, was wir weiter mit diesen Daten machen mit den Hirnforschern zusammen. Das war eigentlich eine psychoanalytische Idee - eine Impulstagung! "

    In Düsseldorf stellten Psychoanalytiker also ihre Erfahrungen mit Patienten vor, die an Schlaganfällen, Phantomschmerz oder anderen neurologischen Defekten leiden. Als Impulsgeber hatten die Veranstalter den Initiator der neuropsychoanalytischen Bewegung eingeladen, den in Kapstadt lehrenden Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker Mark Solms. Neurologen gehen Störungen an, indem sie das geschädigte Gehirn durch Medikamente oder Operationen reparieren wollen. Psychoanalytiker dagegen betrachten auch bei solchen Störungen den ganzen Menschen, seine unbewussten Ängste, Wünsche und seine Lebensgeschichte. Solms verdeutlichte das am Beispiel der so genannten Konfabulation, einer Störung, bei denen die Patienten permanent falsche Erinnerungen produzieren, aber felsenfest an diese glauben.

    " Traditionelle Neurologen wollen bei dieser Störung immer nur verstehen, welche Teile der Erinnerungsmaschine im Gehirn geschädigt sind. Uns fällt bei der Arbeit mit solchen Patienten aber vor allem auf, dass bei ihnen primitivere, unregulierte Aspekte der Erinnerung freigelegt werden. Unbewusste Wünsche und Phantasien dominieren nun das Erinnern stärker als das normale Realitätsbewusstsein. Nehmen wir einen Patienten, der Ihnen zum Beispiel sagt: ich traf Sie heute morgen an der Universität, wir sind dort ja zusammen im selben Sportteam. Dieser Patient ist aber über 60 Jahre alt, war seit über 40 Jahren nicht mehr an der Universität und sie haben ihn nie zuvor getroffen. Da reicht es nicht zu sagen "Da stimmt etwas mit seinem Gedächtnis nicht". Sie müssen sich fragen: Warum wünscht er, mich zu kennen? Warum denkt er, er sei jung, gesund und sportlich statt alt und krank? Wenn sie das nicht verstehen wollen, können sie den Kern seines Leidens nicht verstehen. "

    Mark Solms hat in diesem Sinne vor allem Pionierarbeit bei der psychoanalytischen Behandlung von Patienten geleistet, die unter der so genannten Anosognosie oder einem Neglect leiden. Das sind Störungen, die oft nach einem Schlaganfall auftreten und dazu führen, dass die Patienten zwar gelähmt sind, aber ihr Defizit nicht wahrhaben. Neglectpatienten zum Beispiel nehmen aufgrund der Schädigung einer Hirnhälfte den Raum um die entgegengesetzte Körperhälfte herum gar nicht mehr wahr. Sie essen zum Beispiel immer nur die rechte Seite ihres Tellers leer, stoßen ständig gegen Dinge, die links von ihrer Körpermitte liegen und verneinen, dass ihr linker Arm gelähmt ist. Aber sie behaupten, ihre Welt sei komplett.

    Die klassische neurologische Definition des Neglects lautet daher: der Hirndefekt hat nicht nur direkt zur Folge, dass die Patienten nur eine Hälfte der Welt wahrnehmen, sondern auch, dass sie dies nicht bemerken. Deshalb leiden sie auch nicht darunter. Zusammen mit dem zweiten Tagungsorganisator, dem Kölner Psychoanalytiker Klaus Röckerath, stellte Laura Viviana Strauss jedoch in Düsseldorf Erfahrungen mit sieben Patienten vor, die etwas anderes zeigen. Der Wahrnehmungsdefekt selbst kann nicht behoben werden, wohl aber dessen Verleugnung. Klaus Röckerath.

    " Diese Anosognosie lässt sich aufheben in der therapeutischen Beziehung und dann sind alle Zeichen einer Depression vorhanden. Die Patienten sind natürlich - wir könnte es anders sein - deprimiert, und eine Anosognosie, d.h. die Verleugnung dieses Defekts, erleichtert das Leben. "

    Ein Neglect bedeutet den traumatischen Verlust der Kontrolle über die halbe Welt der Objekte, und das ist eine schwere Kränkung, die sich tief in das Gefühlsleben eingräbt. Der sensible Umgang damit, so Laura Viviana Strauss, könne daher das Krankheitsbild beeinflussen.

    " Wir haben gemerkt, dass der Neglect und die Anosognosie sich verändert innerhalb einer Sitzung, je nachdem, wie die affektive Verfassung der Patienten ist. Zum Beispiel eine Patientin, die ich behandelt hatte, hatte verschiedene Reaktionen, je nachdem, ob sie wahrnahm traurige Aspekte von ihrem vergangenem Leben - da war sie mehr aufmerksam, dass sie einen Neglect hatte - als wenn sie in anderen Situationen sich befand, wo sie die Trauer oder die Schwierigkeit in ihrem vergangenen Leben verleugnete oder nicht präsent hatte. Und deswegen denke ich, dass eine klassische Psychoanalyse hilfreich sein kann. "

    Ähnliche Erfahrungen machte der Essener Psychoanalytiker Johannes Döser bei einer Phantomschmerzpatientin. Eine neurowissenschaftliche Erklärung solcher Phantomschmerzen lautet: das Gehirn reagiert mit Schmerzsignalen darauf, dass ein Teil des Körpers verloren gegangen ist. Parallel dazu fand Johannes Döser in der Lebensgeschichte der Patientin aber auch seelische Anzeichen für "Verlorenheit" und Verlust.

    " Im Grunde hat sich dann sehr rasch gezeigt, dass hinter diesem körperlichen Schmerz, hinter diesem Phantomschmerz, eigentlich ein ungeheurer seelischer Schmerz verborgen war. Und in dem Moment, wo sie anfangen konnte, zu sprechen und als sie Gebrauch machen konnte von dem, was in der Psychoanalyse freies Assoziieren genannt wird, also das war für sie ein solche Befreiung! Und der körperliche Schmerz ging in einem erstaunlich raschen Tempo weg. "

    Insgesamt machte die Düsseldorfer Tagung mit solchen Fallgeschichten deutlich, wie stark sich lebensgeschichtliche und emotionale Probleme an Hirnschädigungen anhängen und das Krankheitsbild beeinflussen können. Zwar waren die Fallzahlen zu gering, um bei statistisch orientierten Naturwissenschaftlern großen Eindruck zu hinterlassen. Aber die Neurologen wären gut beraten, das Angebot der Psychoanalytiker zur therapeutischen Zusammenarbeit anzunehmen. Dann könnten Hirn und Seele tatsächlich näher zusammenrücken - zum Nutzen der Patienten.