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Historiker ruft Bahn zur Öffnung ihrer Archive auf

Der Oldenburger Historiker Ahlrich Meyer wirft der Bahn vor, sich nicht ihrer Geschichte zu stellen. "Wo sämtliche Unternehmen, die auf globale Märkte drängen, inzwischen ihre Archive öffnen, um Historikern Zugang zu den Akten aus der NS-Zeit zu geben, oder sonstige Aktivitäten zur Aufarbeitung der deutschen Geschichte unterstützen, war die Bahn bislang das einzige Unternehmen, das sich einer solchen Erinnerungsarbeit widersetzt hat", sagte Meyer.

Moderation: Stefan Koldehoff |
    Stefan Koldehoff: In Frankreich war eine Ausstellung bereits mit großem Erfolg zu sehen, um die es in Deutschland seit vielen Jahren vehementen Streit gibt. Diese Ausstellung hat den Titel "11.000 jüdische Kinder - Mit der Reichsbahn in den Tod", und sie erinnert an jene Kinder, die während des Zweiten Weltkriegs in Frankreich verhaftet und mit der Deutschen Reichsbahn ins Vernichtungslager Auschwitz in den Tod transportiert wurden. Diese Züge hielten in den Bahnhöfen vieler deutscher Städte und genau dort, in deutschen Bahnhöfen, möchte die französische Organisation "Söhne und Töchter der deportierten Juden Frankreichs" diese Ausstellung nun auch zeigen. Sie möchte damit vor Ort an den tausendfachen Kindermord erinnern.

    Unterstützt werden die Organisatoren dabei vom Zentralrat der Juden in Deutschland, der den Bundestag aufgefordert hat, das Bundesunternehmen Bahn endlich zur Mitarbeit zu bewegen. Bahnchef Mehrdorn will nämlich diese Ausstellung bislang in den Bahnhöfen seines Unternehmens nicht erlauben, aus finanziellen und organisatorischen Gründen, so heißt es. Nachdem der öffentliche Druck wächst, hat die Bahn nun immerhin erklärt, man wolle die Ausstellung unterstützen. Es seien ja auch, "Standorte in unmittelbarer Nähe von Bahnhöfen denkbar".

    Der Oldenburger Historiker Professor Ahlrich Meyer hat viel über den Holocaust und die Rolle der Reichsbahn geforscht und veröffentlicht. Ihn habe ich gefragt, ob ihn eine Diskussion im Jahr 2006, 61 Jahre nach Kriegsende, über das Zustandekommen einer Ausstellung zur Erinnerung an NS-Opfer überrascht.

    Ahlrich Meyer: Offen gestanden hat es mich nicht so sehr überrascht, vor dem Hintergrund, dass die Tatsache der Deportation von Juden aus Westeuropa in der Bundesrepublik sowieso kaum zur Kenntnis genommen wird. Wer weiß denn, wie viele Juden aus Frankreich, aus Belgien, aus den Niederlanden über welche Bahnstrecken nach Auschwitz deportiert worden sind? Vor diesem Hintergrund wundert mich das nicht. Es gibt ein relativ geringes Interesse an der Frage, der so genannten Endlösung der Judenfrage in Westeuropa. Wundern tut mich der Vorgang insofern, als sich die über ein Jahr lang dauernde Abwehrhaltung der Deutschen Bahn und ihres Vorstandes für taktisch äußerst unklug halte. Wo sämtliche Unternehmen, die auf globale Märkte drängen, inzwischen ihre Archive öffnen, um Historikern Zugang zu den Akten aus der NS-Zeit zu geben oder sonstige Aktivitäten zur Aufarbeitung der deutschen Geschichte unterstützen, war die Bahn bislang das einzige Unternehmen, das sich einer solchen Erinnerungsarbeit widersetzt hat. Das wundert mich in der Tat schon.

    Nun scheint ja Bewegung in die Sache gekommen zu sein, wenngleich ich die Ankündigung, das könne in Umgebung der Bahnhöfe stattfinden, für sehr problematisch halte. Wie weit reicht die Umgebung? Der Zweck dieser Ausstellung war gerade, und ist gerade, Bahnreisende an den unmittelbaren Schauplätzen auf dieses Geschehen aufmerksam zu machen.

    Koldehoff: Auf der anderen Seite könnte man natürlich als Argument dagegen halten, dass Bahnhöfe heute keine Bahnhöfe mehr sind, sondern Kaufhäuser, auf denen gelegentlich sogar pünktlich der eine oder andere Zug abfährt. Ist denn das Umfeld überhaupt sinnvoll, um an ein solches historisches Ereignis zu erinnern - ein rein kommerzielles Umfeld, Fast-Food-Buden, Zeitungsläden, Modeshops?

    Meyer: Sie haben in gewisser Weise Recht mit diesem Einwand, das würde ja auch vielleicht für diese Initiative der Stolpersteine, die ein Kölner Künstler überall in der Bundesrepublik macht, gelten, dieser Einwand. Aber vielleicht ist es gerade eine der Möglichkeiten des Transportes. Ich habe beobachtet, wie diese Initiative in Frankreich begann und erfolgreich wurde. Inzwischen sind auf vielen französischen Durchgangsbahnhöfen zumindest Erinnerungstafeln, die sehr ausführlich Auskunft geben über dieses Geschehen, über die dramatischen und erbärmlichen Umstände, über die grauenhaften Ereignisse der Deportationen. Und eine solche temporäre Erinnerung in Form einer Ausstellung gar noch konzentriert auf das erschütterndste Kapitel bei den Deportationen, nämlich der Deportation von über 11.000 Kindern, darunter ein großer Teil Waisenkinder, deren Eltern schon deportiert worden waren, in Viehwaggons, 36 Stunden durchs Reichsgebiet - da finde ich, kann man schon an den Bahnhöfen, durch die diese Züge gefahren sind, heute erinnern. Ich finde das legitim.

    Um Ihnen ein einziges Beispiel zu geben: Wir haben nur wenige Fahrpläne, die von Paris, von dem Durchgangslager, das bei Paris lag, bis nach Auschwitz reichen. Einer dieser Fahrpläne aus dem Jahr 1943 zeigt uns, dass in zahlreichen deutschen Bahnhöfen diese Züge sehr lange gestanden haben. Auf dem Frankfurter Südbahnhof zum Beispiel, stand der Zug eine halbe Stunde, in den frühen Morgenstunden. Auf dem Dresdner Bahnhof stand er über eine Stunde. Warum kein Gedenken auf diesen Bahnhöfen an dieses Geschehen?

    Koldehoff: Ich gebe die Frage an Sie zurück, an den Historiker, der sich nicht nur mit dem Holocaust, sondern auch mit der Befassung mit dem Holocaust im Nachkriegsdeutschland sehr intensiv auseinandergesetzt hat. Was steckt dahinter? Es gibt einen ganz verräterischen Satz in der Erklärung der Bahn, da steht drin: Die Bahn AG stelle sich seit ihrer Gründung 1994 nachweislich den dunklen Kapiteln ihrer Geschichte. Seit 1994, das sind gerade mal zehn, zwölf Jahre. Glaubt man denn ernsthaft, man könnte so was wegdrücken? Man könnte so was durch ignorieren einfach ungeschehen machen? Oder was funktioniert da psychologisch?

    Meyer: Also erst mal weiß ich nicht, ob sich die Bahn, oder das ist mir nicht bekannt, muss ich sagen, dass sich die Bahn seit 1994 intensiv mit der Aufarbeitung ihrer Geschichte befasst. Um ein einziges Beispiel zu bringen, das heikle Thema, wer hat eigentlich die Transportkosten aufgebracht? Wie sind die abgerechnet worden, in dem Fall, über den wir hier reden, Deportation aus Frankreich, ein Abrechnungsverfahren unter der französischen Einsenbahngesellschaft, der SNCF und der damaligen Deutschen Reichsbahn? Wo sind die mit diesen Deportationen gemachten Gewinne verbleiben? Um nur dieses profane Thema zu nehmen, das ist nicht vernünftig geklärt. Geschweige denn, dass die Bundesbahn dazu Anstrengungen unternommen hätte, diese Frage bearbeiten zu lassen. Angesichts ja nun einer fast inflationären Erinnerungskultur in der Bundesrepublik, scheint es mir so, dass die Bundesbahn wirklich sich unklug verhalten hat und nichts anderes. Wenn sie von Anfang an, wie das die französische Eisenbahngesellschaft gemacht hat, überlegt hätte, wie kann man das machen, ohne organisatorische und sicherheitstechnische Probleme aufzuwerfen, dann wäre das ohne diese Peinlichkeiten, die da jetzt seit einem Jahr andauern, wahrscheinlich hätte das verlaufen können. Und dann hätte sich die Bahn ihrer Geschichte gestellt.

    Koldehoff: Der Historiker Ahlrich Meyer, zur Debatte über eine Ausstellung über die Kindertransporte der Reichsbahn ins Todeslager Auschwitz.