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Hohe Hürden für Neuwahlen

Der Weg zur Neuwahl des Bundestags führt möglicherweise auch über das Bundesverfassungsgericht. Denn als Lehre aus der Weimarer Zeit legt die Verfassung die Hürden für eine vorzeitige Beendigung der Wahlperiode hoch: Das Parlament hat kein Recht zur Selbstauflösung. Eine Regierung kann - mit dem konstruktiven Misstrauensvotum - nur gestürzt werden, wenn im gleichen Zug eine andere an ihre Stelle tritt.

Von Gudula Geuther | 30.06.2005
    " Mit dem bitteren Wahlergebnis für meine Partei in Nordrhein-Westfalen ist die politische Grundlage für die Fortsetzung unserer Arbeit in Frage gestellt. Für die aus meiner Sicht notwendige Fortsetzung der Reformen halte ich eine klare Unterstützung durch eine Mehrheit der Deutschen für unabdingbar. Deshalb betrachte ich es als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland als meine Pflicht und meine Verantwortung, darauf hinzuwirken, dass der Herr Bundespräsident von den Möglichkeiten des Grundgesetzes Gebrauch machen kann, um so rasch wie möglich, also realistischerweise für den Herbst dieses Jahres, Neuwahlen zum Deutschen Bundestag herbeizuführen."

    Was Gerhard Schröder am Abend der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 22. März ankündigte, kommt morgen zur ersten Entscheidung, zur Entscheidung im Bundestag. Die Parlamentarier sollen, so ist es geplant, darüber abstimmen, ob der Kanzler noch ihr Vertrauen genießt - und die Antwort soll "Nein" sein. Auch wenn es so ausgehen sollte - vor den angestrebten Neuwahlen stünde dann noch die Entscheidung des Bundespräsidenten, eine weitere des Kanzlers und möglicherweise die des Bundesverfassungsgerichts. Keine reinen Formfragen, denn dieser Weg zu Neuwahlen ist verfassungsrechtlich umstritten. Das Grundgesetz ermöglicht zwar dieses Verfahren. Staatsrechtler halten es aber nicht ohne weiteres für geeignet, um einfach nur Neuwahlen herbeizuführen. Denn insgesamt legt die Verfassung die Hürden für eine vorzeitige Beendigung der Wahlperiode hoch: Das Parlament hat kein Recht zur Selbstauflösung. Eine Regierung kann - mit dem konstruktiven Misstrauensvotum - nur gestürzt werden, wenn im gleichen Zug eine andere an ihre Stelle tritt. Dieser Wunsch nach Stabilität kommt auch im Umgang mit der Vertrauensabstimmung zum Tragen. Der Grund für diese strenge Haltung lag für die Väter und Mütter des Grundgesetzes in den problematischen Erfahrungen aus der Weimarer Republik. In Reichstags-Abstimmungen wie dieser:

    1932, in der Weimarer Spätphase:
    Ein Misstrauensantrag eines kommunistischen Abgeordneten gegen das Kabinett von Papen, der abredewidrig vorgezogen wird.

    Ein Reichskanzler Franz von Papen, der Blankobögen des Reichspräsidenten dazu benutzt, darauf noch eben vorher die Auflösung des Parlaments abzufassen.

    " Wir waren bereits in der Abstimmung. Ich muss zuerst die Abstimmung durchführen, bevor ich zu anderen Maßnahmen treffen kann...,"

    Ein Reichstagspräsident Hermann Göring, der den Antrag des mit der roten Auflösungsmappe wedelnden Reichskanzlers nicht mehr zulässt,

    " Ich verkünde das Ergebnis der namentlichen Abstimmung...,"

    und eine erboste Zentrumspartei, die nach dem Verhalten von Papens diesen - gegen die Pateienabsprache - nun plötzlich stürzen will.

    "... davon haben 5 sich der Stimme enthalten, 32 mit Nein, und 513 mit Ja gestimmt. "

    Eine Abstimmung im übrigen, die im Nachhinein als nicht wirksam angesehen wurde. Die Regierung bleibt im Amt. Kaum vorstellbare Zustände, die 1932 so normal zu sein schienen, dass sich dieser erfolglose Regierungssturz in kaum einem Geschichtsbuch wieder findet. Der Frankfurter Rechtshistoriker Michael Stolleis:

    " Die Verfassungsmütter und -väter von 1949 waren in der Tat überzeugt, dass es eine Reihe grundlegender Baufehler der Weimarer Republik gab, beziehungsweise der Weimarer Verfassung. Und dass man die vermeiden wollte. Und dazu gehört das konstruktive Misstrauensvotum, ohne Zweifel, was eine stärkere Kontinuität der Regierung gegenüber dem Parlament gibt und übrigens auch verhindert, dass einzelne Minister aus der Regierung herausgeholt werden, was ja unter der Weimarer Verfassung auch möglich war."

    Trotzdem befanden auch die Autoren des Grundgesetzes: Ein Kanzler, der sich nicht auf das Parlament stützen kann, soll nicht gezwungen werden, weiterzuregieren. In Artikel 68 Absatz 1 Satz 1 der Verfassung bestimmten sie ganz allgemein:

    " Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen."

    Vier Kanzler machten bisher davon Gebrauch - zwei mit dem Ziel, die Gefolgschaft der eigenen Leute zu erzwingen. Zwei, im Gegenteil, um Neuwahlen herbeizuführen. So genannte unechte Vertrauensabstimmungen, wie es auch die morgige sein soll. Im ersten Fall war das verfassungsrechtlich eher unproblematisch:

    " Mein erklärtes, zu keinem Zeitpunkt verschwiegenes Ziel ist es, durch die Ablehnung des hier gestellten Antrages in die Lage versetzt zu werden, dem Herrn Bundespräsidenten die Auflösung des 6. Deutschen Bundestages und die Ansetzung von Neuwahlen vorschlagen zu können."

    Willy Brandt hat 1972 im Streit um die Ostpolitik seine Mehrheit verloren. Mit 248 zu 248 Stimmen ist ein Patt im Bundestag entstanden. Weder er noch sein Gegenspieler, der Unionspolitiker Rainer Barzel, könnten auf Dauer regieren. Damit keiner der Genossen im Parlament in Gewissensnöte kommen muss, enthalten sich die Minister mit Bundestagsmandat. Brandt unterliegt wunschgemäß, aus der dann folgenden Wahl gehen SPD und FDP gestärkt hervor.

    Sehr viel umstrittener ist zehn Jahre später die zweite unechte Vertrauensfrage: Nachdem die FDP statt zuvor mit der SPD nun mit der Union zusammenarbeitete, war Helmut Kohl durch konstruktives Misstrauensvotum ins Amt gekommen. Von Anfang an strebte er Neuwahlen an, mit Rücksicht auf die FDP sollten die allerdings nicht sofort stattfinden. Zweieinhalb Monate später erklärt Kohl im Bundestag:

    " Die Koalitionsvereinbarung konzentrierte sich auf das in meiner Regierungserklärung am 13. Oktober 82 dargelegte Dringlichkeitsprogramm. Es konnte und es kann sich nicht auf alle Felder der Politik in der notwendigen Breite und Vielfalt erstrecken. Das notwenige Dringlichkeitsprogramm ist erfüllt. Mit der Erfüllung dieses Programms ist für die Weiterarbeit der Koalition eine parlamentarische Grundlage nicht mehr gegeben."

    Der Großteil der Abgeordneten der Regierungskoalition enthält sich der Stimme. Auch diesmal wird die Koalition nach den Neuwahlen fortgesetzt. Diese Wahlen allerdings haben einige Abgeordnete zu verhindern versucht, mit einer Klage in Karlsruhe. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts setzt bis heute die Maßstäbe für die rechtliche Bewertung der Vertrauensfrage. Der damalige Vizepräsident des Gerichts, Wolfgang Zeidler:

    " Die Anordnung des Bundespräsidenten vom 6. Januar 1983 über die Auflösung des 9. Deutschen Bundestages und über die Festsetzung der Wahl zum deutschen Bundestag auf den 6. März 1983 verstoßen nicht gegen das Grundgesetz. Sie sind mit Artikel 68 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes vereinbar. "

    Eine heiß umstrittene Entscheidung, auch im zweiten Gerichtssenat selbst. Drei der acht Richter fügten eine abweichende Meinung bei - damals noch ungewöhnlicher als heute. Die Mehrheit entschied sich für ein "Ja, aber". Ein Kompromisstext, der noch heute zu ganz unterschiedlichen Interpretationen führt. Der Bonner Staatsrechtswissenschaftler Josef Isensee:

    " Es war ein Grenzfall, und es steht dahinter die Erwartung, dass das nicht zur Dauerlösung werde, dass das nicht zur stetigen Staatspraxis werde. Das Bundesverfassungsgericht hat sich ja entschieden dagegen verwahrt, dass auf die kalte Tour das Selbstauflösungsrecht durch eine Ausfransung, durch eine beliebige Erweiterung der Bedingungen der Vertrauensfrage eingeführt werde."

    Ganz anders der Akzent bei seinem Frankfurter Kollegen Joachim Wieland, der auf den historischen Hintergrund, Stichwort Weimar, verweist:

    " Und nachdem das Grundgesetz doch zu einer sehr stabilen politischen Ordnung geführt hat, hat sowohl das Verfassungsgericht als auch mich heute in meiner Einschätzung diese Erfahrung dahin geleitet, dass man sagt: Man darf diese Möglichkeit nicht zu eng auslegen. Denn immerhin kann man auch argumentieren, dass es vom Grundsatz einer Demokratie entspricht, wenn in schwierigen Situationen, wenn gewichtige Entscheidungen anstehen, die Politiker sich beim Volk noch einmal vergewissern, ob sie für ihre Politik Unterstützung haben."

    Dass sich zwei so unterschiedliche Bewertungen auf die selbe Entscheidung berufen können, liegt daran, dass in ihr Anspruch und Wirklichkeit nicht ganz zusammenzupassen scheinen: So streng die theoretischen Maßstäbe sind, so wenig scheinen sie zu passen auf eine Abstimmung, die erst nach der gezielten Enthaltung fast der gesamten Koalition zum gewünschten Ergebnis führt.

    Der wichtigste und gleichzeitig schwierigste unter diesen strengen Maßstäben steht nicht wörtlich im Grundgesetz. Die Richter folgern aus der Gesamtheit der Verfassung, dass eine gewisse Krisensituation Voraussetzung der Vertrauensabstimmung sein soll. Ein Leitsatz der Entscheidung:

    " Der Bundeskanzler ... soll dieses Verfahren nur anstrengen dürfen, wenn es politisch für ihn nicht mehr gewährleistet ist, mit den im Bundestag bestehenden Kräfteverhältnissen weiterzuregieren. Die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen seine Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen oder lähmen, dass er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll zu verfolgen vermag."

    Wie eine solche Krisensituation aber konkret aussehen soll, kann man der Entscheidung nur in Ansätzen entnehmen. Die Richter verlangen nicht etwa, dass der Kanzler ganz allgemein keine Mehrheit hat. Im Gegenteil: Im Fall Kohl stellten sie ausdrücklich fest: Nicht nur ein Minderheitskanzler darf die Vertrauensfrage stellen. Die Einschätzung aber, ob die derzeitige Situation die Frage rechtfertigt, fällt bei Staatsrechtlern quer durch die üblichen Zuschreibungen unterschiedlich aus. Josef Isensee:

    " Dem Kanzler müsste drohen, dass die Mehrheit, auf die er sich stützt, zerbricht. Nun ist die Mehrheit ja seit 2002 knapp. Aber doch stabil. Bisher hat sich nichts gezeigt. Und die Kräfte, die verdächtigt werden, sie könnten dem Kanzler die Zustimmung verweigern, lassen sich ja jetzt gar nicht mehr überbieten in der Bekundung von Nibelungentreue. Insoweit zeigt sich ja das Bild der Geschlossenheit. Und eine solche Geschlossenheit der Koalition ist keine Basis für die Vertrauensfrage."

    Isensee ist der Meinung, Schröder habe vor diesem Hintergrund bisher noch überhaupt keine Begründung für die Vertrauensfrage gegeben. Die Gegenposition formuliert Joachim Wieland:

    " Ich verstehe die Krisensituation vor allen Dingen in einer negativen Abgrenzung. Man könnte mit dem Grundgesetz sicher nicht vereinbaren, dass - ähnlich wie in Großbritannien - ein Bundeskanzler dann, wenn er sich in einer besonders günstigen Situation wähnt, wenn er meint, die Bevölkerung ist gerade an seiner Seite, dass er dann diese Gelegenheit nutzt und einfach den Bundestag über eine konstruierte Vertrauensfrage auflöst. Was das Grundgesetz aber erlaubt ist, dass dann, wenn etwa wie jetzt bei einer relativ knappen parlamentarischen Mehrheit der Bundeskanzler nach seiner eigenen Einschätzung nicht mehr sicher ist, dass er für die Maßnahmen, die er politisch für notwenig hält, auch die Unterstützung seiner Koalition bekommt, dass er dann die Vertrauensfrage stellen kann - mit dem Ziel, sich gewissermaßen eine zusätzliche demokratische Legitimation durch Neuwahlen zu holen."

    Das Verfassungsgericht lässt Politiker und Staatsrechtler nicht ganz allein bei der Frage, wie eine solche Krise aussehen kann. Klar ist etwa: Dass im rot-grün bestimmten Bundestag und im Unions-dominierten Bundesrat unterschiedliche Mehrheiten herrschen, rechtfertigt die Vertrauensfrage nicht. Denn bei der geht es nur ums Parlament. Und auch zwei weitere Befunde reichen nach dem Urteil nicht aus:

    Erstens: Auch wenn sich alle Fraktionen im Prinzip einig sind, dass Neuwahlen stattfinden sollen - dem Grundgesetz genügt das noch nicht. Die Verfassungsrichter sehen eine solche Einmütigkeit nur als Zeichen dafür an, dass hinter der Vertrauensfrage kein Kalkül des Kanzlers steht, eine bestimmte Partei zu übervorteilen. Daneben steht aber weiterhin das Bedürfnis nach Stabilität des Parlaments - ganz unabhängig vom Willen seiner Mitglieder. Trotzdem ist nach dem Urteil eine solche Einigkeit der Fraktionen ein Hinweis für Bundespräsident und Bundesverfassungsgericht, dass immerhin kein Missbrauch getrieben wird, aber eben auch nur das.

    Zweitens: Ebenfalls nicht genügen soll es, dass Regierung und Parlament gerade besonders schwierige Aufgaben zu lösen hätten.

    Weiter im Verfahren: Bekommt der Kanzler das Vertrauen - wie gewollt - nicht, kommt der Bundespräsident ins Spiel. Auf Antrag des Kanzler beschließt er, ob er den Bundestag auflöst. Das ist kein Selbstläufer. Denn der Präsident fällt eine zweifache Entscheidung: Erst einmal die, ob eine solche Auflösung rechtlich in Ordnung wäre. Darüber hinaus aber hat er - mit ungewöhnlicher Befugnis für sein Amt - einen echten eigenen Ermessensspielraum.

    Rechtlich muss Horst Köhler prüfen, ob die Abstimmung formell in Ordnung war, aber auch, ob die Voraussetzungen gegeben sind. Also auch, ob wirklich die geforderte Krisensituation vorliegt. Aber: Die Maßstäbe dafür kommen vom Kanzler. Das heißt: Dessen politische Bewertung kann Köhler hier nicht durch eine eigene ersetzen.

    Isensee, der der Meinung ist, Schröder habe bisher noch gar keine Begründung für die Vertrauensfrage geliefert, glaubt, schon deshalb könne Köhler das Parlament derzeit nicht auflösen.


    " Der Bundespräsident muss jedenfalls prüfen, ob die Einschätzung des Bundeskanzlers überhaupt plausibel ist. Die Einschätzung des Bundeskanzlers setzt ja eine plausible Begründung voraus. Wenn er aber am Ende eine plausible Begründung - oder überhaupt eine Begründung - erhält, dann ist das Ermessen des Bundespräsidenten stark eingeschränkt. Er kann also nicht beliebig ja oder nein sagen. Er wird prüfen müssen, ob es überhaupt noch Chancen gibt, dass der Bundestag überhaupt noch sinnvollerweise seine vierjährige Legislaturperiode zu Ende führt."

    Wieland kann sich theoretisch etwa solche Überlegungen des Präsidenten vorstellen:

    Er kann etwa sich die Frage stellen: Wie sieht es auch, nach seiner Einschätzung, stehen so einschneidende Maßnahmen an, dass es aus dem demokratischen Gedanken heraus sinnvoll ist, das Volk zu befragen, ob es hinter diesen Maßnahmen steht, die ja möglicherweise für einzelne Nachteile mit sich bringen. - Oder reicht eigentlich die Legitimation aus der vorigen Wahl aus?

    Aber wie Isensee erwartet auch Wieland ein "Nein" des Präsidenten aus solchen Gründen nicht.

    " Es spricht eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass dann, wenn der Bundeskanzler im Rahmen der Verfassung zu seiner Entscheidung gekommen ist, dass der Bundespräsident sich ihm im Zweifel eher nicht in den Weg stellen wird."

    Zumindest, wenn dann der Bundespräsident entscheiden sollte, das Parlament aufzulösen, wird voraussichtlich auch das Bundesverfassungsgericht noch einmal darüber befinden. Etwa auf Antrag eines Abgeordneten. Theoretisch könnten die Richter - inzwischen durchweg andere Personen als 1983 - neue Maßstäbe aufstellen. Was aber in einer so heiklen Frage unwahrscheinlich sein dürfte. Eher unwahrscheinlich ist aber auch, dass sie dann die Wahl verhindern würden. Denn schon in ihrem früheren Urteil schreiben sie sich selbst nur einen eingeschränkten Spielraum für die Nachprüfung zu. Denn immerhin haben - mit Bundeskanzler, Bundestag und Bundespräsident - schon drei Verfassungsorgane entschieden. Josef Isensee glaubt außerdem an eine gewisse Wirkung der Staatsraison:

    " Auf der anderen Seite ist das Bundesverfassungsgericht - ähnlich wie der Bundespräsident - in einer ausgesprochen schwierigen Lage: Ob es denn den Bundestag zwingen kann, gegen seinen erklärten Willen, gegen den einmütigen Willen aller im Bundestag vertretenen Parteien weiter zu amtieren und noch ein Jahr hier tätig zu sein. Ob der Bundespräsident und das Bundesverfassungsgericht das Parlament zum Jagen tragen, zum Regieren nötigen können - eine heikle Sache."

    Auch wenn sich also das Bundesverfassungsgericht möglicherweise bedeckt halten würde: Verfassungsrechtlich ist die Situation umstritten. Auch der in den letzten Wochen häufig ins Spiel gebrachte Rücktritt des Kanzlers wäre kein gangbarer Weg, glaubt Joachim Wieland. Nicht nur weil er angesichts des verheerenden politischen Signals für den Amtsinhaber unrealistisch ist.

    " Sauberer wäre der Weg auch nicht. Weil auch da natürlich die Frage auftauchte, warum jetzt eine Mehrheit, die bisher die Regierung getragen hat, und sei sie noch so knapp, nicht in der Lage ist nach einem Rücktritt des Kanzlers, jetzt einen neuen Kanzler zu wählen. Denn wenn diese Mehrheit hinreichend stabil wäre, würde die Kanzlermehrheit, die zuvor da war, ja auch wiederum ausreichen."

    Isensee baut auf die Möglichkeit, dass sich kein neuer Kanzlerkandidat finden könnte - auch das keine ganz saubere Lösung.

    Ob man deshalb die Verfassung ändern sollte, darüber sind sich Staatsrechtler nicht einig. Einige fürchten den Dammbruch, wenn nicht Weimarer, so vielleicht italienische Verhältnisse. Der Rechtshistoriker Michael Stolleis hält zumindest den Verweis auf Weimar für kein geeignetes Gegenargument:

    " Die Formel Weimarer Zustände ist sehr vieldeutig. Im Grunde versammelt sich in dieser Formel das gesamte Unbehagen mit Weimar, mit der Rolle des Reichspräsidenten, mit den Antagonismen der Parteien und schließlich das Scheitern der Weimarer Republik. Und es ist verfassungspolitisch mit dieser Formel nach 1949 manches Vernünftige gesagt aber auch viel Unfug getrieben worden. Man hat dieses Argument Weimarer Zustände sehr oft als Blockadeargument eingesetzt. Etwa bei der Frage: Unmittelbare oder repräsentative Demokratie, oder jetzt bei der Frage: Soll das Parlament ein Selbstauflösungsrecht bekommen, ja oder nein?"

    Auch Wieland und Isensee plädieren für die Verfassungsänderung, für ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments - mit entsprechenden Mehrheiten.

    Aber wie auch immer eine Lösung aussehen könnte: Für diesen Fall kann sie nicht mehr greifen. Und so wird es morgen so oder so ähnlich heißen - von Gerhard Schröder statt Helmut Kohl:

    " Meine Damen und Herren, wir werden durch unser Verhalten eine wesentliche Grundlage für die Entscheidung treffen, die ich dem Herrn Bundespräsidenten vorschlagen möchte..."