Als 1997 der Schachcomputer mit dem Namen "Deep Blue" den Weltmeister Kasparow besiegte, haben die Spekulationen über die künstliche Intelligenz von Maschinen erstmals einen großen Schritt aus dem Reich der Phantasie in das der Gewißheit getan. Doch schon seit Ende der 80er Jahre waren diesem zumindest für die Öffentlichkeit spektakulären Ereignis vor allem in den USA immer wieder Prognosen über den künftigen Triumph intelligenter Maschinen vorausgegangen. Das Herz und die Seele dieser Maschinen - so hieß es - wären die immer leistungsfähigeren Mikrochips, während ihre Körper von diesen Mikrochips gesteuerte Roboter bilden würden. Das Evolutionspotential solcher intelligenter Maschinen hatte 1988 etwa Hans Moravec in seinem damals noch höchst umstrittenen Buch "Mind Children" ausgemalt, in dem er behauptete, die Überlegenheit der Menschen würde in dem Moment gebrochen, da die Maschinen "replikationsfähig" geworden sind, sich also selbständig weiterentwickeln und neue Generationen erzeugen können. Durch die atemberaubende Geschwindigkeit der technologischen Entwicklungen war dieses Denkspiel schon 1993 so plausibel, daß etwa Bruce Mazlish, ein Historiker vom berühmten Massachussetts Institute of Technology, nun auch die lange Vorgeschichte dieser "Co-Evolution of Humans and Machines" seit den cartesianischen Zeiten zusammenfaßte - und bei dieser Gelegenheit die allmählich zutagetretende Species solcher Maschinen auch taufte. "Comboter" nannte er die künstlichen Geschöpfe, die im Begriff sind, dem Menschen - nach Kopernikus, Darwin und Freud - seine vierte narzißtische Kränkung zuzufügen.
Ray Kurzweil treibt in seinem Buch "Homo sapiens. Leben im 21. Jahrhundert - was bleibt vom Menschen?" alle diese Denkspiele jetzt noch einmal ein beträchtliches Stück weiter, indem er die Fluchtlinien der an Mikrochips gekoppelten technologischen Entwicklungen von ihrem heutigen Stand bis zum Ende des 21. Jahrhunderts weiterzeichnet. Dabei entstehen bereits für die allernächsten Jahre bemerkenswerte Aussichten.
"Wir schreiben das Jahr 2009. Der einzelne benutzt hauptsächlich tragbare Computer, die erheblich leichter und schmaler sind als die vor zehn Jahren noch üblichen Notebooks. Personal Computer sind in allen möglichen Größen und Formen erhältlich und normalerweise in Kleidung und Schmuckgegenstände wie Armbanduhren, Ringe und Ohrringe eingebettet. Computer mit hochauflösender Bildschirm-Benutzeroberfläche reichen von Ringen, Ansteckern und Kreditkarten bis zu Geräten von der Größe eines dünnen Buches. Die Menschen tragen normalerweise mindestens ein Dutzend Computer am Körper, die über "Körper-LANs" (Local Area Networks) miteinander verbunden sind. Diese Computer bieten ähnliche Kommunikationsmöglichkeiten wie Handys, Pager und Web-Surfer, überwachen Körperfunktionen, erlauben eine automatische Identifizierung (wenn der Nutzer finanzielle Transaktionen tätigen oder einen Sicherheitsbereich betreten will), leisten Navigationshilfe und erfüllen eine Vielfalt anderer Aufgaben. (...) Auch in Brillengläser eingebaute Computer-Displays sind im Gebrauch. Diese Spezialbrillen erlauben dem Benutzer, die normale Umgebung zu sehen, und erzeugen zudem ein virtuelles Bild, das vor dem Betrachter zu schweben scheint. Diese virtuellen Bilder generiert ein winziger, in die Brille eingebauter Laser, der die Bilder direkt auf die Netzhaut des Benutzers projiziert. (...) Intelligente Straßen sind in Gebrauch, hauptsächlich für längere Fahrten. Sowie die Kontrollsensoren einer dieser Straßen das Leitsystem des Autocomputers erfaßt haben, kann man sich zurücklehnen und abschalten. (...)"
Mikrochips und Laser rücken also den Menschen immer weiter auf den Leib und in den Alltag hinein. Aber das ist erst der Anfang, denn von dieser Alltagselektronik des Jahres 2009 befindet sich ja vieles heute längst im Erprobungsstadium. Ray Kurzweil's Perspektive geht allerdings viel weiter:
"Gegen Ende des 21. Jahrhunderts wird es zwischen Robotern und Menschen keinen klaren Unterschied mehr geben. Wie auch sollte man unterscheiden zwischen einem Menschen, der seinen Körper und Geist mittels der neuen Nano- und Computertechnologie aufgerüstet hat, und einem Roboter, der seinen menschlichen Schöpfer an Intelligenz und Sinnlichkeit übertrifft?"
Demnach wäre also die völlige Verschmelzung von Mensch und Maschine der geradezu revolutionäre Kern aller Technologie-Tendenzen im 21. Jahrhundert. Nun ist Ray Kurzweil nicht gerade als bloßer Phantast bekannt, sondern eher als Pragmatiker. Er ist Computerwissenschaftler und hat ebenfalls das Bostoner MIT absolviert, sich aber dann vor allem mit eigenen Unternehmen als Computer- und Software-Entwickler einen Namen gemacht; unter anderem hat er Flachbett-Scanner, Synthesizer und Spracherkennungsprogramme mitentwickelt, die auch hierzulande bald in Banken oder der Telekommunikation praktisch angewandt auftauchen werden. Für seine radikalen Prognosen bis zum Jahr 2099 ist nicht unerheblich, daß Kurzweil sie nicht nur mit dem Möglichkeitssinn reiner Forschung, sondern von der Schnittstelle zwischen Forschung, Technologiegeschichte und Anwendungspraxis aus entworfen hat - was zwar auch keine Garantie gegen Fehlprognosen gibt, aber dafür sorgt, daß dabei praktische und ökonomische Nützlichkeitserwägungen nicht zu kurz kommen.
Offenbar wird die alte Einsicht von Marx, wonach die technischen Produktivkräfte ganz elementar die Lebensverhältnisse bestimmen, heute am radikalsten von den Praktikern der Technologie-Avantgarde in Ehren gehalten. Auch Kurzweil skizziert ja eine Umwälzung, bei der die Macht der Mikrochips kaum einen Aspekt der Realität, ob natürliche, körperliche oder geistige, unverändert lassen wird - eine gigantische Techno-Utopie. Ihr Begründungskern ist das nach dem Erfinder des integrierten Schaltkreises - und "Intel"-Begründers - George Moore benannte Gesetz, wonach sich "die Oberfläche der Transistoren, die in integrierte Schaltkreise eingeätzt werden", alle zwei Jahre um 50 Prozent verringere - mit der Folge, daß die stetig verdoppelte Zahl von Schaltelementen pro Chip-Generation auch die Rechnerleistungen exponentiell steigert: also nicht mehr Marx' Gesetz der "tendenziell fallenden Profitrate", sondern nun Moores Gesetz der "exponentiell steigenden Rechnerleistung". Kurzweil läßt alle zusätzlichen Entwicklungssprünge - etwa in der Halbleitertechnik oder durch neue Computertypen wie den noch in den Kinderschuhen steckenden Quantencomputer - außer acht und rechnet allein auf der Basis des Mooreschen Gesetzes hoch, daß schon im Jahr 2019 für 1000 Dollar ein Computer zu bekommen sei, der dann pro Sekunde ebensoviel Operationen durchführen kann wie das menschliche Gehirn.
Diese preiswerte Verfügbarkeit von immer leistungsfähigeren, dabei aber auch immer kleineren Rechnern soll wie ein technologischer Vulkanausbruch wirken. Dabei sieht Kurzweil zwei Haupttendenzen: einerseits wandern diese Mikro-Rechner - oder eben Nano-Rechner, wenn sie in unsichtbare Bereiche von milliardstel Meter kommen - quasi als intelligente Prothesen ständig weiter in den menschlichen Körper ein. Andererseits sollen sie durch ihre Rechenkapazität künftig nicht nur das menschliche Gehirn nachbilden und es sozusagen "scannen" können. Weil die elektronisch simulierten "neuronalen Schaltungen" um ein Vielfaches schneller sind als das relativ langsame biochemische Neuronalnetz des menschlichen Gehirns, sollen sie dieses an Kapazität und Geschwindigkeit sogar schon bald überflügeln.
"Das Advanced Telecommunication Research Lab (ATR), eine angesehene Forschungseinrichtung im japanischen Kyoto, arbeitet am Bau eines solchen künstlichen Gehirns mit einer Milliarde elektronischer Neuronen. Diese Zahl entspricht ungefähr einem Prozent der Anzahl im menschlichen Gehirn; dafür arbeiten diese Neuronen allerdings auch mit elektronischen Geschwindigkeiten, also ungefähr eine Million Male schneller als menschliche Neuronen. Die Gesamtrechengeschwindigkeit dieses künstlichen Gehirns des ATR wird deshalb mehrere tausend Male größer sein als die unseres menschlichen Denkapparats. Hugo de Garis, der Leiter dieser Arbeitsgruppe, hofft der Anlage die Grundlagen der menschlichen Sprache beizubringen und sie danach in die Lage zu versetzen, sich mit elektronischer Geschwindigkeit nach Belieben durch die Literatur des World Wide Web zu lesen."
Die elektronische Beschleunigung wird besonders die Entwicklung von lernfähigen Rechern - wie des hier geschilderten - ebenfalls noch einmal beschleunigen. Wie das Gehirn, ihr natürliches Vorbild, werden auch lernfähige Rechner meistens als neuronale Netze eingerichtet, die sich durch diverse Algorithmen - also streng methodische Rechenverfahren - selbständig steuern und dabei Erfahrungen sammeln und lernen können. Solche Programme werden inzwischen etwa in der Bild- und Spracherkennung schon vielfach praktisch benutzt. Lernfähigkeit hat bekanntlich auch bei der Evolution des Menschen eine Schlüsselrolle gespielt - im Grunde ist der genetische Code allen Lebens, die DNS, die zur Zeit ebenfalls in einem großen Projekt digital entschlüsselt wird, auch nur ein natürlicher - wenn auch extrem langsamer - lernfähiger Rechner. Durch die enorme Beschleunigung der Rechnerleistungen sieht Kurzweil eine künstliche Evolution elektronischer Neuronalnetze im Zeitraffer beginnen - wozu nach seiner Auffassung noch ein weiterer Vorteil intelligenter Maschinen hinzukommt:
"Maschinen können all ihr erworbenes Wissen problemlos teilen, weshalb der eigentliche Lernprozeß nur von einer Maschine absolviert werden muß. Wir Menschen sind zu einer solchen Übertragung von Wissen nicht in der Lage. Das ist einer der Gründe, warum die Computer meiner Ansicht nach das menschliche Intelligenzniveau, wenn sie es erreicht haben, auf jeden Fall schnell übertreffen werden."
Der Mensch, das Ausgangsmodell dieser intelligenten Maschinen, würde durch ihre hyperschnelle Evolution sowie ihre Vorteile bei der Wissensübermittlung innerhalb weniger Jahrzehnte zum Auslaufmodell. Denn wenn alle menschlichen Sprachen und überlieferten Formen von Erfahrung und Wissen erst einmal in die künstlichen Netze intelligenter Maschinen eingespeichert sind, würden sie dort wie eine Software permanent weiterentwickelt - und zwar völlig unabhängig von allen Beschränkungen der speziellen menschlichen Intelligenz. Das klingt nun eigentlich weniger wie eine Utopie, sondern eher wie eine Horrorvision von der Abschaffung des Menschen. So allerdings will Ray Kurzweil seinen Ausblick ins 21. Jahrhundert keineswegs verstanden wissen. Im Gegenteil. Er sieht nämlich die Möglichkeit heraufziehen, daß der Mensch - und nicht etwa der Mensch im allgemeinen, sondern jeder individuelle Mensch mit seinem speziellen Bewußtsein und Gedächtnis - sich von seiner lästigen körperlich-materiellen Existenz befreit und in das "denktechnische" Maschinennetz überwechseln kann.
"In der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts wird es einen wachsenden Trend geben, den Sprung auf die andere Seite zu wagen. Zunächst wird es sich um teilweise Übertragung handeln - alte Gedächtnisschaltungen werden durch neue ersetzt, Mustererkennungs- und Denkschaltungen durch neuronale Implantate erweitert. Schließlich, und zwar lange vor dem Ende des 21. Jahrhunderts, werden Menschen ihr gesamtes Bewußtsein in eine Datei der neuen denktechnischen Maschinen übertragen."
Der Mensch würde also zur puren Software, indem etwa das Gehirn Stück für Stück gescannt, das gesamte Bewußtsein von der körperlichen Existenz losgelöst und zum immateriellen Bestandteil des allumspannenden künstlichen Netzes wird. Das ist sicher der abenteuerlichste Aspekt von Kurzweils Techno-Utopie, der ihn auch zu manchem philosophischen Exkurs zwingt, weil diese Metamorphose des Menschen zur Software einige recht elementare Fragen aufwirft - etwa die, worin eigentlich die individuelle Identität und das Selbstbewußtsein besteht. Nur an einer vielleicht auch nicht ganz nebensächlichen Frage geht Kurzweil seltsamerweise achtlos vorbei: warum eigentlich die elektronischen Supergehirne künftig so nostalgisch sein sollten, ihren hoffnungslos antiquierten Vorläufer unter Denkmalsschutz zu stellen und ihm in der virtuellen Ewigkeit ihrer Netze eine solche Nischenexistenz als Software zu gestatten - bei der übrigens der alte Fluch des Todes nur durch den vielleicht für sie auch nicht so angenehmen des Nicht-Sterben-Dürfens ersetzt wäre.
Eine Reihe ähnlicher ethisch-philosophischer Fragen wirft zweifellos auch die zweite Variante der Virtualisierung des Menschen auf. Denn Kurzweil skizziert, daß der Angriff der technologischen Body-snatchers auf den alten Adam ja längst auch schon auf die Weise begonnen habe, daß der Körper des Menschen selbst immer weiter durch Prothesen zu ersetzen ist. Wenn in den nächsten Jahrzehnten die Chips bis in den Nanobereich schrumpfen, könnten sie in hochleistungsfähigen Implantaten allmählich alle Fähigkeiten, sowohl der Sinnesorgane, des Körpers und des Gehirns, simulieren, ersetzen und erweitern. Kurzweil prognostiziert, daß auch der Umbau des Menschen durch intelligente Prothesen bis zum Ende des 21. Jahrhunderts zu seiner völligen Virtualisierung geführt haben werde - wobei dabei alle gentechnologischen Baukastenstrategien noch nicht einmal berücksichtigt sind.
Der homo sapiens soll also nicht nur im Begriff stehen, im Netz intelligenter Maschinen zur Software zu werden; gleichzeitig werde auch dessen intelligente Nanotechnologie in ihn einwandern und ihn gewissermaßen in ein Modulsystem verwandeln, das dann in der Echtwelt ebenso wandlungsfähig ist wie heute etwa Graphikanimationen am Monitor. Doch selbst Kurzweil ist etwa die Vorstellung ein wenig unheimlich, daß intelligente Maschinen von Virengröße, sogenannte "Nanobots", die sich etwa auf organischer Kohlenstoff-Basis replizieren, durch die Echtwelt schwirren und dort für den Menschen ebenso verheerend wirken würden wie resistente biologische Viren. Merkwürdigerweise bringt Kurzweil genau hier, wo die technologische Verheißung allzusehr in Schreckensvisionen übergeht, plötzlich doch die Steuerbarkeit des technologischen Trieblebens ins Spiel - obwohl er sie eigentlich als völlig hilflos gegen den Drang ansieht, das technologisch Mögliche auch zu verwirklichen.
So könnte es auch Cyberträumern wie Kurzweil mit den intelligenten Maschinen nicht besser ergehen als einst den Ethnologen mit den "Wilden" - wie Lévi-Strauss einmal sagte, hätten die sich, als sie schließlich gefunden waren, in mancher Hinsicht als viel zu wild erwiesen. Daß Maschinen auf ganz andere Weise intelligent sein könnten als aus menschlichem Blickwinkel erwartet - das verbannen die Träumer von der Cyberzukunft noch in die verbotene Albtraum-Zone. Zweifellos gehört Kurzweils Buch über die Zukunft trotzdem zu den aufschlußreichsten Vorausblicken auf die kommenden intelligenten Technologien - nicht zuletzt deshalb, weil er zeigt, daß vieles davon - von digitalen Neuronalnetzen über die Robotik bis zur Nanotechnologie - sich heute zumindest schon in ersten Entwicklungsstadien oder sogar an der Schwelle zur Anwendung befindet.
Kurzweils Visionen sind keineswegs nur Phantasmen, sondern sehr kühn weitergezogene Verlaufslinien einer technologischen Dynamik, die seit dem 19. Jahrhundert die Maschinen immer schneller entwicktelte und mit den Mikrochips einen explosiven Beschleunigungsfaktor bekam. Allenfalls fehlt bei seinen Blicken auf die weitere Verschmelzung von Mensch und Maschine im nächsten Jahrhundert ein wenig von der profunden Skepsis, daß dabei vom homo sapiens ebensogut noch weniger übrigbleiben könnte als gedacht; also eine Prise jenes nüchternen Heroismus, mit dem Mr. Spok, der Androide aus "Star Trekk", Captain Kirk's Crew beim Abschied voneinander nachrief: "Seid nicht traurig, seid logisch!". Auch einen solchen Abschied vom Menschen sollte man nicht von vornherein ausschließen - und das nicht zuletzt auch deshalb, weil Ray Kurzweil, um mit seinen keineswegs abwegigen Visionen nicht schon heute Maschinenstürmer oder weitere "Una-Bomber" wie Ted Kaczynski auf den Plan zu rufen, gegen die Gefahren dieser Technologien letztlich nur ein wenig beruhigendes Rezept zu bieten hat: nämlich noch mehr Technologie.