Wie in Worken, einem kleinen Nest in der Amhara-Provinz, 700 Kilometer nördlich der Hauptstadt Addis Abeba, beten dieser Tage viele Äthiopier um göttlichen Beistand, um die drohende Jahrhundertdürre im letzten Moment abzuwenden. Anfang Dezember warnten Regierung und Hilfsorganisationen, dass Anfang 2003 bis zu 11 Millionen Äthiopier vom Hungertod bedroht sein werden - ein Fünftel der Bevölkerung. Agrarökonomen und Entwicklungshilfekritiker freilich wissen, dass die neuerliche Dürre andere, weltliche Ursachen hat: globale Klimaschwankungen, ein ungebremstes Bevölkerungswachstum und eine seit Jahren verfehlte Agrarpolitik.
Die Äthiopier begreifen sich selbst als auserwähltes Volk. Ihr Land: die Wiege der Menschheit. Heimat der sagenumwobenen Königin von Sheba und des Kaffees, der heute 60 Prozent der Exporterlöse ausmacht. Quelle des Blauen Nils, der hier seine Reise aufnimmt nach Ägypten. Es sind vor allem zwei historische Ereignisse, die den Mythos vom erwählten Volk nähren: Am 1. März 1896 wurde die überlegene Besatzungsarmee Italiens von den Truppen Kaiser Meneliks des Zweiten bei Adua vernichtend geschlagen. Fast das gesamte Heer wurde ausgelöscht: 14.000 Italiener und verbündete Eriträer. Dann, 1941, wurden die Italiener ein zweites Mal vertrieben. Die Folge: Äthiopien entging dem Schicksal seiner afrikanischen Nachbarn. Als einziges afrikanisches Land konnte es sich der Kolonialisierung durch die Europäer entziehen.
Doch spätestens mit der Jahrhundertdürre von 1984/85 hat das Image vom stolzen, auserwählten Volk einen Kratzer bekommen. Damals starb eine Million Menschen an den Folgen von Trockenheit und Hunger. Bilder von zu Skeletten abgemagerten Kindern und Greisen gingen um die Welt.
Es war das Jahr, in dem Karl-Heinz Böhm seine Stiftung Menschen für Menschen gründete, und Bob Geldorf, Queen und andere im "Live Aid"–Benefizkonzert 150 Millionen Dollar für die Hungernden am Horn einspielten.
Schon heißt es, dass die bevorstehende Hungersnot die von 1984/85 übertreffen könne. In den vergangenen Jahren sind die Abstände zwischen den Dürren in Äthiopien immer kürzer geworden. Sechs Millionen - zehn Prozent der Bevölkerung - sind heute chronisch hungrig, angewiesen auf Nahrungsmittelhilfe aus dem Ausland. Dabei beschrieben noch im 16. Jahrhundert Reisende Äthiopien als Garten Eden, wo es reiche Ernten gab und Hunger unbekannt war.
Was ist falsch gelaufen? Und gibt es Wege aus der Krise? Denn eines ist klar: Äthiopien wird nicht für alle Zeiten auf Nahrungsmittelhilfe aus dem Westen hoffen können. Das hat das Jahr 2002 bewiesen: Eine gleichzeitig im Süden Afrikas tobende Hungersnot hat die Geldströme der Geber umgeleitet. Schon sagen Kritiker, die äthiopische Regierung treibe die Zahlen der Bedürftigen künstlich in die Höhe, um nicht vom Radarschirm der Helfer zu verschwinden. Die sind sich, mit wenigen Ausnahmen, einig: Strukturelle Änderungen müssen her, um langfristig der Hilfsfalle zu entgehen, die Abhängigkeiten schafft und Eigeninitiative erdrückt. Wie pervertiert das Nothilfesystem ist, zeigt die Tatsache, dass Bauern für das Bestellen ihrer Äcker inzwischen Geld verlangen.
Unser Ziel ist die Amhara-Region, 600 Kilometer nördlich der Hauptstadt Addis Abeba. Sie ist das Siedlungsgebiet der Amharen, Äthiopiens größter Ethnie. Nach dem Sturz des Mengistu-Regimes verkündete die Übergangsregierung unter der Revolutionären Demokratischen Front des Äthiopischen Volkes, EPRDF, im Jahr 1991 eine Neuordnung des museo di populi, des Völkermuseums, wie das Vielvölkerland Äthiopien gerne genannt wird. Statt der bisherigen Provinzen wurde das Land in vierzehn nach ethnischen Gesichtspunkten gebildete Regionen aufgeteilt. Amhara ist eine davon.
Das nördliche Hochland der Amhara bildet das Kernland des christlichen äthiopischen Reiches, eine Art natürliche Festung, die von den sie umgebenden Gebieten aus nur schwer zu erreichen ist. Wie schon vor 3000 Jahren leben die Bauern hier als Subsistenzfarmer: mit dem Ochsenpflug beackern sie kleine, oft steinige Parzellen, wo sie Weizen, Sorghum und das zur Herstellung des Grundnahrungsmittels injera verwendete t'eff anbauen.
Die Provinz Amhara vereint alle Probleme des ländlichen Äthiopien: tiefe Taleinschnitte, früher willkommener Schutz vor Eindringlingen, erschweren heute Kommunikation und Transport, so auch die Nothilfe für vom Hunger bedrohte Dörfer. Entwicklungshelfer klagen, dass Informationen über neue Anbaumethoden, Kleinkredit – oder Impfprogramme die Bergkämme nicht überschreiten. Das größte Problem aber stellt das rasante Bevölkerungswachstum dar. Äthiopien wächst jedes Jahr um knapp 3 Prozent, im Jahr 2017 werden sich hier 100 Millionen Menschen drängen. Da die Ebenen wenig fruchtbar und zudem malariaverseucht sind, wird sich der Großteil von ihnen im Hochland konzentrieren. Mit verheerenden Auswirkungen: Die jetzt schon extreme Überweidung wird weiter voranschreiten, die seit Jahren geschrumpften Parzellen werden so weit reduziert, dass sich eine Bestellung kaum noch lohnt. Fällt dann der Regen spärlich aus ist die Hungerkatastrophe vorprogrammiert.
Es ist ein Teufelskreis, den selbst Rekordernten wie die im vergangenen Jahr nicht brechen können: Denn gibt es zuviel Getreide, sinkt der Preis auf dem Markt, und die Bauern erzielen am Ende nicht genug, um die Kleinkredite für Saatgut und Dünger zu bedienen. Im nächsten Jahr werden sie also keine Kredite aufnehmen und nur spärlich aussäen. So ist es in diesem Jahr (2002) geschehen. Dann setzte der meher, der Pflanzregen, mit sechswöchiger Verspätung ein. Schnell säten die Bauern aus, doch der Regen stoppte vier Wochen zu früh, und das Getreide verdorrte am Halm.
Deshalb sind die beiden tönernen Getreidespeicher von Tarekegne Biyargo (tarekne biJA:go)jetzt gähnend leer. "Hier, schauen Sie", sagt der Bauer resigniert, "alles leer":
Unsere gesamte Ernte, Sorghum und Bohnen, ist vernichtet. Wir haben nichts mehr zu essen, also habe ich auf dem Markt etwas Getreide gekauft, das wir rösten und essen. Früher haben wir dreimal am Tag injera gegessen, den Sauerteigfladen; jetzt essen wir manchmal gar nicht. Gott hat uns vergessen. Die Tiere können wir nicht mehr nutzen, weil es kein Futter gibt. Zwei Tiere habe ich schon verkaufen müssen. Ich warte auf die nächste Regenzeit im Mai. Bis dahin bin ich auf die Unterstützung der Regierung angewiesen.
Wie die meisten Bauern hier ist auch Tarekegne abhängig von Nahrungsmittelhilfe.
Jeden Monat legt er deshalb den weiten Weg aus seinem Dorf in die Provinzstadt Ebenat zurück. Dort hat das UN-Ernährungshilfswerks ein Nahrungsmittelzentrum eingerichtet. Ein aufgeregter Stimmenwechsel weist uns den Weg. Etwa 500 Menschen haben sich eingefunden, einige lehnen auf Stöcken oder rostigen Gewehren, andere kauern in der typischen Hockstellung der Bergbauern. Sie sind gekommen, um sich ihre Lebensmittelration abzuholen: 12,5 kg bekommen sie pro Person pro Monat zugeteilt. Auf einem der 50-Kilo-Säcke Weizen steht in Großbuchstaben: "Gespendet von der Bundesrepublik Deutschland."
Ich bin sechs Stunden unterwegs gewesen, um mir meine Portion Getreide abzuholen. Die Dürre ist schlimm dieses Jahr. Ich habe keine Ochsen und auch kein eigenes Land, das ich bestellen könnte. Also muss ich hierher kommen. Wir essen weniger, damit die 12 Kilo Getreide für einen Monat reichen.
Yenenesh Alemayehu ist die Verwaltungsleiterin des Zentrums. Sie sagt, die Situation sei besorgniserregend. 70.000 Menschen erhalten bereits Nahrungsmittelhilfe, 2003 sollen es doppelt so viele sein:
Es werden viel mehr werden. Die Dürre weitet sich aus. Eigentlich hätte der Regen im Mai beginnen sollen, aber er ist erst im Juli gekommen. Und dann hat er schon im September wieder aufgehört. Die Farmer beginnen bereits, ihr Eigentum zu verkaufen, ihre Tiere vor allem. Wir sehen auch, dass sie anfälliger für Krankheiten werden. Weil sie nur noch einmal am Tag essen können.
Die Fahrt geht weiter. Die Farbgebung ändert sich jetzt: Gab es bislang noch einzelne grüne Flecken, so dominiert jetzt das Braun verdorrter Felder die Landschaft. Das Ziel, Qualisa, ist nicht viel mehr als ein staubiges Straßendorf, eine Ansammlung von verwitterten Häusern. Die Bilder gleichen sich: Auch hier drängeln sich Bedürftige vor dem Nothilfezentrum. Tiringo Girmay ist zu Fuß aus ihrem Dorf hergekommen - ein Marsch von sechs Stunden. Sie ist erschöpft und sucht im Schatten des Lagerhauses Schutz vor der mörderischen Sonne:
Ich habe acht Kinder, wir hungern. Die Menschen sterben an Krankheiten, die hungerbedingt sind. Die, die können, verlassen die am schlimmsten betroffenen Dörfer. Alle anderen bleiben zurück und sterben. Gott ist böse mit uns. Alles, was wir tun können, ist beten.
Wer Schuld ist an der derzeitigen Dürre? - "Der schlechte Regen und die Hagelstürme, die die Ernte vernichten", sagt Frau Tiringo. Und fügt hinzu: "Es ist eine Strafe Gottes. Aber wir Menschen dürfen nicht mit Gottes Weg hadern. Alles, was wir tun können, ist beten." Religiöser Fatalismus: kaum ein gutes Rezept, um das Entwicklungspotential der Menschen hier zu mobilisieren.
Genau das ist aber das Ziel von Klaus Feldner. Der 55jährige Franke ist Projektleiter der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit in Süd-Gonder, einer der Hungerprovinzen von Amhara. Zusammen mit dem Landwirtschaftsministerium betreiben Feldner und seine lokalen Mitarbeiter seit 1996 eine Vielzahl von Projekten, die letztlich alle ein Ziel haben: Die Ernährungssicherheit der Menschen in der Region zu gewährleisten. Selbsthilfe statt Nothilfe lautet dabei das Motto des Agrarökonomen, der seit 30 Jahren Ernährungsprojekte in Afrika leitet. Als Vorbild dient der eigene Projektgarten:
Ja, also hier haben wir Erdbeeren, Rotkohl, Rosenkohl. Äthiopien hat eigentlich alles was es braucht: Wasser, guten Boden und billige Arbeit. Es braucht eigentlich nur kleine technischen Verbesserungen, die das Land hindern, einen riesigen Sprung nach vorne zu machen.
Eine dieser "kleinen technischen Verbesserungen führen Feldner und seine Mitarbeiter später in der Praxis vor. In vierjähriger Arbeit ist es ihnen gelungen, den seit 2000 Jahren nahezu unveränderten traditionellen Ochsenpflug so zu modifizieren, dass er später bis zu 50 Prozent mehr Ertrag bringen wird.
Bauer Mihret Abebe, der den neuen Pflug testet, ist hellauf begeistert:
Ich benutze den Pflug heute zum ersten Mal. Er dringt tief in den Boden ein und ist nicht schwer für den Ochsen. Ich bin sicher, dass er die Produktivität erhöht. Vielleicht kann ich so in Zukunft dem Hunger entkommen. Obwohl der alte Pflug nur 50 Birr kostet, würde ich für diesen hier sogar mehr als 200 Birr zahlen. Denn schließlich verschafft er mir langfristig einen höheren Ertrag, und damit einen besseren Verdienst.
Es sind kleine, lebensnahe Projekte wie diese, die langfristig die Produktivität der Bauern, und damit die Ernährungssicherheit Äthiopiens gewährleisten können. Auch Feldner und seine Mitarbeiter wissen, dass es Generationen dauern wird, bis die Jahrtausende alten Strukturen aufgebrochen sind.
Doch jetzt ist die Gelegenheit günstig. Als sogenanntes HIPC - oder "hochverschuldetes Land" hat Äthiopien Anspruch auf Schuldenerlass, wie er auf dem Kölner G8-Gipfel von den führenden Industrieländern vereinbart wurde. Alleine 2002 werden Äthiopien damit 58 Milliarden Dollar an Schulden erlassen. Doch die Tilgung geht mit Auflagen einher: Das eingesparte Geld muss für Armutsprojekte ausgegeben werden. Dazu hat die Regierung zusammen mit Weltbank und Internationalem Währungsfond ein Nationales Programm zur Armutsbekämpfung vorgestellt. Zentrales Anliegen: Die Ernährungssicherheit für die Bauern, die immerhin 85 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Doch nicht jeder in Äthiopien ist überzeugt, dass das Programm etwas bewirken wird: Ein Passant in der Hauptstadt Addis Abeba kritisiert zum Beispiel, dass es seinem Land aufgezwungen wurde:
Diese Politik wurde uns doch vom Währungsfonds und anderen internationalen Institutionen aufgedrängt. Das ist doch kein äthiopisches Programm. Ich glaube auch nicht, dass es Erfolg haben wird. In einem Land wie Äthiopien, wo Armut derart weit verbreitet und tief verwurzelt ist, da reicht es nicht, einfach ein neues Strategiepapier zu schreiben. Die Regierung muss mehr tun als bloß ein Papier zu verfassen.
Auch Kebede Asrat übt Kritik. Asrat ist Vorsitzender von CRDA, dem Dachverband äthiopischer Nichtregierungsorganisationen. Er bemängelt, dass zahlreiche Anregungen nicht aufgenommen wurden:
Es gibt einige Dinge, die nicht berücksichtigt worden sind: Wir haben zum Beispiel angeregt, dass das Rahmenprogramm zur Entwicklung eines industriellen Sektors noch einmal überprüft wird. Oder dass Kinder und Jugendliche explizit als Zielgruppe aufgenommen werden, denn sie stellen ein großes Problem dar in unserem Land. Aber nichts ist passiert. Da stellt sich die Frage: Welche Bedürfnisse wurden eigentlich berücksichtigt: die der Regierung oder die Armen?
Die meisten Beobachter attestieren der Regierung von Premier Meles Reformwillen. Allerdings, so fügen sie schnell hinzu, sei das von der regierenden EPRDF propagierte Modell einer "Revolutionären Demokratie" wirklichen Reformen im Wege.
Derweil zehrt die Dürre in den Regionen an den mageren Ressourcen der Hauptstadt. Jeden Tag kommen Menschen aus den Hungergebieten an. Die Landflucht verschärft die Bevölkerungsexplosion in der Stadt noch weiter: mit einem jährlichen Wachstum von 6 Prozent ist Addis Abeba, die "Neue Blume", weltweit eine der am schnellsten wachsenden Städte.
Bevölkerungsexplosion, chronischer Hunger und eine Aids-Epidemie ungeahnten Ausmaßes: das stolze Äthiopien kämpft ums nackte Überleben. Und als wäre das nicht schlimm genug, kommt ein Schock von außen hinzu: der Verfall des Kaffeepreises auf dem Weltmarkt. Die Kaffee-Bohne aber ist Äthiopiens einzige "cash-crop", macht 60 Prozent der Exporterlöse aus. Obwohl die Kaffeeproduktion stieg, ging der Erlös dramatisch zurück. Assefa Tigney von CTDA, der Entwicklungsbehörde für Kaffe und Tee in Äthiopien, beschreibt die volkswirtschaftlichen Auswirkungen:
Äthiopiens Exporterlöse sind über die letzten fünf Jahre um 60 Prozent eingebrochen. Der volkswirtschaftliche Schaden beträgt 840 Millionen Dollar. Viele unserer Kaffeefarmer können ihre Kinder nicht mehr zur Schule schicken, haben kein Geld mehr für Kleidung. Wegen der schlechten Erlöse werden sie sich jetzt ihre Anbauflächen brachliegen lassen.
Tigney und eine Studie der britischen Nichtregierungsorganisation Oxfam schieben der Weltbank die Schuld in die Schuhe: Mit Vorzugskrediten habe man Länder wie Vietnam über Nacht zu Kaffeeproduzenten gemacht, die jetzt den Weltmarkt überschwemmten und die Preise in den Keller trieben. Doch Ishac Diwan, der Weltbank-Vertreter in Äthiopien, gibt die Kritik zurück: Äthiopien müsse seine Exportpalette erweitern, um künftig Marktschwankungen aufzufangen:
Äthiopien kann nicht auf Kaffee als Hauptexportprodukt vertrauen. Das ist viel zu riskant. Es gibt doch eine Reihe anderer Exportartikel: Schnittblumen, Textilien, Leder, Tourismus... dieses Land hat eine Menge Möglichkeiten, und jetzt ist der richtige Zeitpunkt.
Auch die USA stellten Äthiopien zusätzliche Mittel in Aussicht, als Premier Meles Zenawi nach den Anschlägen von Mombasa flugs nach Washington eilte, um seine Kooperation im Kampf gegen den Terror am Horn von Afrika zu versichern. Ob Washington, Brüssel und Berlin letztlich zahlen, wird nicht zuletzt davon ab hängen, ob Äthiopien seine Grenzstreitigkeiten mit dem Nachbarn Eritrea beilegen kann. -- Äthiopien steht am Scheideweg: Schon heute rangiert es auf dem drittletzten Platz des UN-Entwicklungsindex. Will man verhindern, dass man weiter abrutscht, sind tiefgreifende, strukturelle Änderungen vonnöten. Doch die brauchen Zeit, und das gilt nirgendwo mehr als in Äthiopien, wo ein tiefsitzendes Misstrauen gegenüber dem Westen Entwicklungsarbeit zum Balanceakt macht.
Die Äthiopier begreifen sich selbst als auserwähltes Volk. Ihr Land: die Wiege der Menschheit. Heimat der sagenumwobenen Königin von Sheba und des Kaffees, der heute 60 Prozent der Exporterlöse ausmacht. Quelle des Blauen Nils, der hier seine Reise aufnimmt nach Ägypten. Es sind vor allem zwei historische Ereignisse, die den Mythos vom erwählten Volk nähren: Am 1. März 1896 wurde die überlegene Besatzungsarmee Italiens von den Truppen Kaiser Meneliks des Zweiten bei Adua vernichtend geschlagen. Fast das gesamte Heer wurde ausgelöscht: 14.000 Italiener und verbündete Eriträer. Dann, 1941, wurden die Italiener ein zweites Mal vertrieben. Die Folge: Äthiopien entging dem Schicksal seiner afrikanischen Nachbarn. Als einziges afrikanisches Land konnte es sich der Kolonialisierung durch die Europäer entziehen.
Doch spätestens mit der Jahrhundertdürre von 1984/85 hat das Image vom stolzen, auserwählten Volk einen Kratzer bekommen. Damals starb eine Million Menschen an den Folgen von Trockenheit und Hunger. Bilder von zu Skeletten abgemagerten Kindern und Greisen gingen um die Welt.
Es war das Jahr, in dem Karl-Heinz Böhm seine Stiftung Menschen für Menschen gründete, und Bob Geldorf, Queen und andere im "Live Aid"–Benefizkonzert 150 Millionen Dollar für die Hungernden am Horn einspielten.
Schon heißt es, dass die bevorstehende Hungersnot die von 1984/85 übertreffen könne. In den vergangenen Jahren sind die Abstände zwischen den Dürren in Äthiopien immer kürzer geworden. Sechs Millionen - zehn Prozent der Bevölkerung - sind heute chronisch hungrig, angewiesen auf Nahrungsmittelhilfe aus dem Ausland. Dabei beschrieben noch im 16. Jahrhundert Reisende Äthiopien als Garten Eden, wo es reiche Ernten gab und Hunger unbekannt war.
Was ist falsch gelaufen? Und gibt es Wege aus der Krise? Denn eines ist klar: Äthiopien wird nicht für alle Zeiten auf Nahrungsmittelhilfe aus dem Westen hoffen können. Das hat das Jahr 2002 bewiesen: Eine gleichzeitig im Süden Afrikas tobende Hungersnot hat die Geldströme der Geber umgeleitet. Schon sagen Kritiker, die äthiopische Regierung treibe die Zahlen der Bedürftigen künstlich in die Höhe, um nicht vom Radarschirm der Helfer zu verschwinden. Die sind sich, mit wenigen Ausnahmen, einig: Strukturelle Änderungen müssen her, um langfristig der Hilfsfalle zu entgehen, die Abhängigkeiten schafft und Eigeninitiative erdrückt. Wie pervertiert das Nothilfesystem ist, zeigt die Tatsache, dass Bauern für das Bestellen ihrer Äcker inzwischen Geld verlangen.
Unser Ziel ist die Amhara-Region, 600 Kilometer nördlich der Hauptstadt Addis Abeba. Sie ist das Siedlungsgebiet der Amharen, Äthiopiens größter Ethnie. Nach dem Sturz des Mengistu-Regimes verkündete die Übergangsregierung unter der Revolutionären Demokratischen Front des Äthiopischen Volkes, EPRDF, im Jahr 1991 eine Neuordnung des museo di populi, des Völkermuseums, wie das Vielvölkerland Äthiopien gerne genannt wird. Statt der bisherigen Provinzen wurde das Land in vierzehn nach ethnischen Gesichtspunkten gebildete Regionen aufgeteilt. Amhara ist eine davon.
Das nördliche Hochland der Amhara bildet das Kernland des christlichen äthiopischen Reiches, eine Art natürliche Festung, die von den sie umgebenden Gebieten aus nur schwer zu erreichen ist. Wie schon vor 3000 Jahren leben die Bauern hier als Subsistenzfarmer: mit dem Ochsenpflug beackern sie kleine, oft steinige Parzellen, wo sie Weizen, Sorghum und das zur Herstellung des Grundnahrungsmittels injera verwendete t'eff anbauen.
Die Provinz Amhara vereint alle Probleme des ländlichen Äthiopien: tiefe Taleinschnitte, früher willkommener Schutz vor Eindringlingen, erschweren heute Kommunikation und Transport, so auch die Nothilfe für vom Hunger bedrohte Dörfer. Entwicklungshelfer klagen, dass Informationen über neue Anbaumethoden, Kleinkredit – oder Impfprogramme die Bergkämme nicht überschreiten. Das größte Problem aber stellt das rasante Bevölkerungswachstum dar. Äthiopien wächst jedes Jahr um knapp 3 Prozent, im Jahr 2017 werden sich hier 100 Millionen Menschen drängen. Da die Ebenen wenig fruchtbar und zudem malariaverseucht sind, wird sich der Großteil von ihnen im Hochland konzentrieren. Mit verheerenden Auswirkungen: Die jetzt schon extreme Überweidung wird weiter voranschreiten, die seit Jahren geschrumpften Parzellen werden so weit reduziert, dass sich eine Bestellung kaum noch lohnt. Fällt dann der Regen spärlich aus ist die Hungerkatastrophe vorprogrammiert.
Es ist ein Teufelskreis, den selbst Rekordernten wie die im vergangenen Jahr nicht brechen können: Denn gibt es zuviel Getreide, sinkt der Preis auf dem Markt, und die Bauern erzielen am Ende nicht genug, um die Kleinkredite für Saatgut und Dünger zu bedienen. Im nächsten Jahr werden sie also keine Kredite aufnehmen und nur spärlich aussäen. So ist es in diesem Jahr (2002) geschehen. Dann setzte der meher, der Pflanzregen, mit sechswöchiger Verspätung ein. Schnell säten die Bauern aus, doch der Regen stoppte vier Wochen zu früh, und das Getreide verdorrte am Halm.
Deshalb sind die beiden tönernen Getreidespeicher von Tarekegne Biyargo (tarekne biJA:go)jetzt gähnend leer. "Hier, schauen Sie", sagt der Bauer resigniert, "alles leer":
Unsere gesamte Ernte, Sorghum und Bohnen, ist vernichtet. Wir haben nichts mehr zu essen, also habe ich auf dem Markt etwas Getreide gekauft, das wir rösten und essen. Früher haben wir dreimal am Tag injera gegessen, den Sauerteigfladen; jetzt essen wir manchmal gar nicht. Gott hat uns vergessen. Die Tiere können wir nicht mehr nutzen, weil es kein Futter gibt. Zwei Tiere habe ich schon verkaufen müssen. Ich warte auf die nächste Regenzeit im Mai. Bis dahin bin ich auf die Unterstützung der Regierung angewiesen.
Wie die meisten Bauern hier ist auch Tarekegne abhängig von Nahrungsmittelhilfe.
Jeden Monat legt er deshalb den weiten Weg aus seinem Dorf in die Provinzstadt Ebenat zurück. Dort hat das UN-Ernährungshilfswerks ein Nahrungsmittelzentrum eingerichtet. Ein aufgeregter Stimmenwechsel weist uns den Weg. Etwa 500 Menschen haben sich eingefunden, einige lehnen auf Stöcken oder rostigen Gewehren, andere kauern in der typischen Hockstellung der Bergbauern. Sie sind gekommen, um sich ihre Lebensmittelration abzuholen: 12,5 kg bekommen sie pro Person pro Monat zugeteilt. Auf einem der 50-Kilo-Säcke Weizen steht in Großbuchstaben: "Gespendet von der Bundesrepublik Deutschland."
Ich bin sechs Stunden unterwegs gewesen, um mir meine Portion Getreide abzuholen. Die Dürre ist schlimm dieses Jahr. Ich habe keine Ochsen und auch kein eigenes Land, das ich bestellen könnte. Also muss ich hierher kommen. Wir essen weniger, damit die 12 Kilo Getreide für einen Monat reichen.
Yenenesh Alemayehu ist die Verwaltungsleiterin des Zentrums. Sie sagt, die Situation sei besorgniserregend. 70.000 Menschen erhalten bereits Nahrungsmittelhilfe, 2003 sollen es doppelt so viele sein:
Es werden viel mehr werden. Die Dürre weitet sich aus. Eigentlich hätte der Regen im Mai beginnen sollen, aber er ist erst im Juli gekommen. Und dann hat er schon im September wieder aufgehört. Die Farmer beginnen bereits, ihr Eigentum zu verkaufen, ihre Tiere vor allem. Wir sehen auch, dass sie anfälliger für Krankheiten werden. Weil sie nur noch einmal am Tag essen können.
Die Fahrt geht weiter. Die Farbgebung ändert sich jetzt: Gab es bislang noch einzelne grüne Flecken, so dominiert jetzt das Braun verdorrter Felder die Landschaft. Das Ziel, Qualisa, ist nicht viel mehr als ein staubiges Straßendorf, eine Ansammlung von verwitterten Häusern. Die Bilder gleichen sich: Auch hier drängeln sich Bedürftige vor dem Nothilfezentrum. Tiringo Girmay ist zu Fuß aus ihrem Dorf hergekommen - ein Marsch von sechs Stunden. Sie ist erschöpft und sucht im Schatten des Lagerhauses Schutz vor der mörderischen Sonne:
Ich habe acht Kinder, wir hungern. Die Menschen sterben an Krankheiten, die hungerbedingt sind. Die, die können, verlassen die am schlimmsten betroffenen Dörfer. Alle anderen bleiben zurück und sterben. Gott ist böse mit uns. Alles, was wir tun können, ist beten.
Wer Schuld ist an der derzeitigen Dürre? - "Der schlechte Regen und die Hagelstürme, die die Ernte vernichten", sagt Frau Tiringo. Und fügt hinzu: "Es ist eine Strafe Gottes. Aber wir Menschen dürfen nicht mit Gottes Weg hadern. Alles, was wir tun können, ist beten." Religiöser Fatalismus: kaum ein gutes Rezept, um das Entwicklungspotential der Menschen hier zu mobilisieren.
Genau das ist aber das Ziel von Klaus Feldner. Der 55jährige Franke ist Projektleiter der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit in Süd-Gonder, einer der Hungerprovinzen von Amhara. Zusammen mit dem Landwirtschaftsministerium betreiben Feldner und seine lokalen Mitarbeiter seit 1996 eine Vielzahl von Projekten, die letztlich alle ein Ziel haben: Die Ernährungssicherheit der Menschen in der Region zu gewährleisten. Selbsthilfe statt Nothilfe lautet dabei das Motto des Agrarökonomen, der seit 30 Jahren Ernährungsprojekte in Afrika leitet. Als Vorbild dient der eigene Projektgarten:
Ja, also hier haben wir Erdbeeren, Rotkohl, Rosenkohl. Äthiopien hat eigentlich alles was es braucht: Wasser, guten Boden und billige Arbeit. Es braucht eigentlich nur kleine technischen Verbesserungen, die das Land hindern, einen riesigen Sprung nach vorne zu machen.
Eine dieser "kleinen technischen Verbesserungen führen Feldner und seine Mitarbeiter später in der Praxis vor. In vierjähriger Arbeit ist es ihnen gelungen, den seit 2000 Jahren nahezu unveränderten traditionellen Ochsenpflug so zu modifizieren, dass er später bis zu 50 Prozent mehr Ertrag bringen wird.
Bauer Mihret Abebe, der den neuen Pflug testet, ist hellauf begeistert:
Ich benutze den Pflug heute zum ersten Mal. Er dringt tief in den Boden ein und ist nicht schwer für den Ochsen. Ich bin sicher, dass er die Produktivität erhöht. Vielleicht kann ich so in Zukunft dem Hunger entkommen. Obwohl der alte Pflug nur 50 Birr kostet, würde ich für diesen hier sogar mehr als 200 Birr zahlen. Denn schließlich verschafft er mir langfristig einen höheren Ertrag, und damit einen besseren Verdienst.
Es sind kleine, lebensnahe Projekte wie diese, die langfristig die Produktivität der Bauern, und damit die Ernährungssicherheit Äthiopiens gewährleisten können. Auch Feldner und seine Mitarbeiter wissen, dass es Generationen dauern wird, bis die Jahrtausende alten Strukturen aufgebrochen sind.
Doch jetzt ist die Gelegenheit günstig. Als sogenanntes HIPC - oder "hochverschuldetes Land" hat Äthiopien Anspruch auf Schuldenerlass, wie er auf dem Kölner G8-Gipfel von den führenden Industrieländern vereinbart wurde. Alleine 2002 werden Äthiopien damit 58 Milliarden Dollar an Schulden erlassen. Doch die Tilgung geht mit Auflagen einher: Das eingesparte Geld muss für Armutsprojekte ausgegeben werden. Dazu hat die Regierung zusammen mit Weltbank und Internationalem Währungsfond ein Nationales Programm zur Armutsbekämpfung vorgestellt. Zentrales Anliegen: Die Ernährungssicherheit für die Bauern, die immerhin 85 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Doch nicht jeder in Äthiopien ist überzeugt, dass das Programm etwas bewirken wird: Ein Passant in der Hauptstadt Addis Abeba kritisiert zum Beispiel, dass es seinem Land aufgezwungen wurde:
Diese Politik wurde uns doch vom Währungsfonds und anderen internationalen Institutionen aufgedrängt. Das ist doch kein äthiopisches Programm. Ich glaube auch nicht, dass es Erfolg haben wird. In einem Land wie Äthiopien, wo Armut derart weit verbreitet und tief verwurzelt ist, da reicht es nicht, einfach ein neues Strategiepapier zu schreiben. Die Regierung muss mehr tun als bloß ein Papier zu verfassen.
Auch Kebede Asrat übt Kritik. Asrat ist Vorsitzender von CRDA, dem Dachverband äthiopischer Nichtregierungsorganisationen. Er bemängelt, dass zahlreiche Anregungen nicht aufgenommen wurden:
Es gibt einige Dinge, die nicht berücksichtigt worden sind: Wir haben zum Beispiel angeregt, dass das Rahmenprogramm zur Entwicklung eines industriellen Sektors noch einmal überprüft wird. Oder dass Kinder und Jugendliche explizit als Zielgruppe aufgenommen werden, denn sie stellen ein großes Problem dar in unserem Land. Aber nichts ist passiert. Da stellt sich die Frage: Welche Bedürfnisse wurden eigentlich berücksichtigt: die der Regierung oder die Armen?
Die meisten Beobachter attestieren der Regierung von Premier Meles Reformwillen. Allerdings, so fügen sie schnell hinzu, sei das von der regierenden EPRDF propagierte Modell einer "Revolutionären Demokratie" wirklichen Reformen im Wege.
Derweil zehrt die Dürre in den Regionen an den mageren Ressourcen der Hauptstadt. Jeden Tag kommen Menschen aus den Hungergebieten an. Die Landflucht verschärft die Bevölkerungsexplosion in der Stadt noch weiter: mit einem jährlichen Wachstum von 6 Prozent ist Addis Abeba, die "Neue Blume", weltweit eine der am schnellsten wachsenden Städte.
Bevölkerungsexplosion, chronischer Hunger und eine Aids-Epidemie ungeahnten Ausmaßes: das stolze Äthiopien kämpft ums nackte Überleben. Und als wäre das nicht schlimm genug, kommt ein Schock von außen hinzu: der Verfall des Kaffeepreises auf dem Weltmarkt. Die Kaffee-Bohne aber ist Äthiopiens einzige "cash-crop", macht 60 Prozent der Exporterlöse aus. Obwohl die Kaffeeproduktion stieg, ging der Erlös dramatisch zurück. Assefa Tigney von CTDA, der Entwicklungsbehörde für Kaffe und Tee in Äthiopien, beschreibt die volkswirtschaftlichen Auswirkungen:
Äthiopiens Exporterlöse sind über die letzten fünf Jahre um 60 Prozent eingebrochen. Der volkswirtschaftliche Schaden beträgt 840 Millionen Dollar. Viele unserer Kaffeefarmer können ihre Kinder nicht mehr zur Schule schicken, haben kein Geld mehr für Kleidung. Wegen der schlechten Erlöse werden sie sich jetzt ihre Anbauflächen brachliegen lassen.
Tigney und eine Studie der britischen Nichtregierungsorganisation Oxfam schieben der Weltbank die Schuld in die Schuhe: Mit Vorzugskrediten habe man Länder wie Vietnam über Nacht zu Kaffeeproduzenten gemacht, die jetzt den Weltmarkt überschwemmten und die Preise in den Keller trieben. Doch Ishac Diwan, der Weltbank-Vertreter in Äthiopien, gibt die Kritik zurück: Äthiopien müsse seine Exportpalette erweitern, um künftig Marktschwankungen aufzufangen:
Äthiopien kann nicht auf Kaffee als Hauptexportprodukt vertrauen. Das ist viel zu riskant. Es gibt doch eine Reihe anderer Exportartikel: Schnittblumen, Textilien, Leder, Tourismus... dieses Land hat eine Menge Möglichkeiten, und jetzt ist der richtige Zeitpunkt.
Auch die USA stellten Äthiopien zusätzliche Mittel in Aussicht, als Premier Meles Zenawi nach den Anschlägen von Mombasa flugs nach Washington eilte, um seine Kooperation im Kampf gegen den Terror am Horn von Afrika zu versichern. Ob Washington, Brüssel und Berlin letztlich zahlen, wird nicht zuletzt davon ab hängen, ob Äthiopien seine Grenzstreitigkeiten mit dem Nachbarn Eritrea beilegen kann. -- Äthiopien steht am Scheideweg: Schon heute rangiert es auf dem drittletzten Platz des UN-Entwicklungsindex. Will man verhindern, dass man weiter abrutscht, sind tiefgreifende, strukturelle Änderungen vonnöten. Doch die brauchen Zeit, und das gilt nirgendwo mehr als in Äthiopien, wo ein tiefsitzendes Misstrauen gegenüber dem Westen Entwicklungsarbeit zum Balanceakt macht.