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''ICH''

Die Schuldfrage war schnell beantwortet worden: Die Egozentrik der heutigen Gesellschaft, die Selbstbespiegelung der Stars und Sternchen in nachmittäglichen Talkshows, das Bedürfnis sich immer und überall in den Mittelpunkt zu stellen, eigene Ziele durchzusetzen ohne Rücksicht auf die Umwelt – all das wurzelt in der Aufklärung. Jener Bewegung, die "Freiheit" versprach "von" Unterdrückung, Willkür, Konventionen und nun in eine "Freiheit" gemündet ist, die einem Grossteil der Menschen die Möglichkeit gibt, frei "zu" sein: zu heiraten oder nicht, Kinder zu haben oder nicht, Beziehungen einzugehen oder aufzulösen, wann man will. Doch mit einem hatten die Aufklärer nicht gerechnet: Dass diese so wünschenswerte Emanzipation die Beziehung des Menschen zu sich selbst, zu seinem ICH verändern würde, diesem schwer fassbaren, ständig veränderten Zustand des Menschen.

Von Susanne Lettenbauer |
    Das ICH - ein Verlegenheitswort, das wir zu Hilfe nehmen, um unseren Alltag zu bewältigen. Das scheint momentan etwas weniger gut zu klappen, meint der Philosoph Wilhelm Schmid, aber das lässt sich vielleicht ändern...:

    Indem wir uns nicht mehr so sehr verlassen, dass dieses ICH schon da ist, sondern daran arbeiten , dass wir ein operables ICH bekommen, d.h. Eines, das nicht pausenlos sich zerfleddert in allen möglichen Widersprüchen und Anforderungen die von außen kommen und jenen die von innen kommen, sondern uns entscheiden, was uns wichtig ist und was nicht und uns an das halten, was uns wichtig erscheint.

    Warum soll man sein ICH aber ernst nehmen, wenn es Ablenkungen im Überfluss gibt. Fernsehen, Kino, Computerspiele, Internet. Eine zentrale Ablenkung heißt Beobachten. Friedrich Dürrenmatt beschrieb dieses Beobachten des Beobachters, das sehen und gesehen werden als Voraussetzung für das moderne Selbstbewusstsein. Wird man nicht wahrgenommen, existiert man nicht. Die knappste Ressource unserer Zeit ist die Aufmerksamkeit. Für sie werden letzte Tabus gebrochen, provozieren Künstler wie Elke Krystufek in Luzern mit im wahrsten Sinne intimster Selbstbespiegelung, die verstören soll, dem Künstler erst seine Existenzberechtigung liefert und doch während des Symposiums nur mehr ignoriert wurde.

    Das Erbe der Aufklärung, sich mit seinem ICH auseinander zusetzen und das Leben als Selbsterfahrung zu begreifen ist Luxus geworden. Die steigende Zahl an anspruchslosen Autobiografien, die wenig bis gar nichts mit der Realität zu tun haben, wie Lord Ralf Dahrendorf anmerkte, dienen einzig der Vermarktung der eigenen Geschichte. Das ICH ist nicht nur dort oftmals eine Erfindung, ein Patchwork aus "Leihidentitäten", so bezeichnete es der Psychologe Christian Scharfetter, der mit buddhistischer Gelassenheit von den modernen Schwundstufen des ICHs sprach, die sich dem Leben, d.h. vor allem dem Alter und Tod nicht mehr aussetzen wollen. Ein aktuelles Thema, da die politische Diskussion um den Generationenvertrag nichts anderes ist, als das Unvermögen, den inneren Generationenvertrag, die Selbstverantwortlichkeit für das eigene Alter, zu akzeptieren. Dieser Mangel am Umgang mit sich selbst bedingt einen Mangel am Umgang mit anderen. Wenn nun genau das Gegenteil exerziert wird, die extreme Auseinandersetzung mit sich selbst? Reinhold Messner, der Inbegriff für Extremindividualismus:

    Das Hauptproblem, wenn ich allein auf große Höhe gehe, wenn ich wirklich weit hinausgehe in eine menschenfeindliche Welt, ist ja, das wir uns verlieren, d.h. nur mit unserem eigene ICH, verloren im Weltall, wissen wir nicht mehr, wer wir sind. Wir brauchen immer wieder das Abtasten über den Anderen um zu uns selber zu kommen. Also, ich kann nicht auf den anderen verzichten, ich kann nur eine Zeitlang aussteigen und ganz auf mich allein zurückgeworfen sein und im Grunde erfahren, dass ich dann verloren bin.

    Alle Menschen sind heutzutage ein wenig autistisch, hat Beate Hermelin, Autismusforscherin, die an ihrer Londoner Spezialklinik Dustin Hoffmann auf seine Rolle im Film Rain Man vorbereitete, seit langem festgestellt. Einige Menschen, die anscheinend kein ICH haben, die Autisten, kennen dagegen sehr wohl eine Form der Selbstdarstellung. Einige der als savants Bezeichneten malen...:

    Dann haben wir Studien gemacht, wo wir verschiedene Komponisten gespielt haben, dann in der Mitte eines Satzes aufgehört haben und dann zu denen gesagt haben: Wenn Du nun weiterspielen solltest, wie würdest Du das machen? Und die musikalischen savants sind dann tatsächlich in der Konstruktion des Komponisten geblieben und haben das weitergespielt.

    Eine Form der Selbstdarstellung, die jedoch ohne das Einfordern von permanenter Aufmerksamkeit auskommt.

    Die Komponistin Isabel Mundry, in diesem Jahr composer in residence beim Lucerne Festival, will das ICH lieber von jeder Selbstforschung fernhalten. Ganz selbstverständlich hört man doch beim Komponieren auf sich selbst ebenso wie auf Wahrnehmungen von außen. Jede Effekthascherei, sei es im Auftreten oder in der Musik schade letztlich dem Werk und lenke von dem Inhalt ab:

    Ich denke, dass ist relativ hörbar, dass die reine Abstraktion, die das ICH nahezu draussen lässt genauso wenig interessant ist wie diese pure Ausdrucksästhetik. Ich würde mein eigenes Komponieren als eines beschreiben, dass sehr viel mit dem Hören zu tun hat, also man kann es beschreiben als eine kreative Form des Hörens und eine kreative Umsetzung des Höreindruckes oder überhaupt von Wahrnehmungsformen.

    Doch ganz so selbstbewusst optimistisch entließ das Symposium des Lucerne Festivals sein Publikum nicht. Noch immer war nicht geklärt, wie man der heutigen Egozentrik umgehen soll, der rücksichtslosen Selbstdarstellung, der Auflösung von traditionellen Beziehungswerten. Wie kommen wir aus dieser Situation wieder heraus? Philosoph Wilhelm Schmid:

    Ich will nicht raus, ich will rein. Ich will diese Krise verschärfen. Alle Erfahrung spricht dafür, dass Menschen erst dann umsteuern, wenn es zu heftig geworden ist und es ist noch nicht zu heftig.


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