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"Ich fang' jetzt bei null an"

Jedes Jahr brechen mehrere zehntausend Immatrikulierte ihr Studium ab - Leistungsprobleme, Geldsorgen oder Motivationsprobleme. Doch niemand kümmert sich um die Betroffenen. Die Campus-Serie porträtiert die "Erfolglosen": Warum die Berliner Studentin Sandra Walus den Campus verlassen will und eine Lehrstelle sucht.

Von Jens Rosbach | 26.07.2010
    Eine blonde Studentin mit einem silberfarbenen Fotoapparat. Sandra Walus, bekleidet einem grauen Trägershirt und halblangen Hosen, macht Schnappschüsse von ihrem Kiez. Ihre Kommilitonen schwitzen derweil über Klausuren oder Magisterarbeiten. Die 27-Jährige hingegen ist auf den Straßen von Berlin-Friedrichshain – auf Motivsuche:

    "Ich habe mich entschieden, mein Studium abzubrechen. Weil ich zu dem Schluss gekommen bin, dass es mir zu theorielastig ist und dass ich gerne im kreativen Bereich arbeiten möchte."

    Sandra Walus studiert Politik- und Erziehungswissenschaften an der Universität Potsdam – im 14. Fachsemester. In ihren Seminaren musste sie bislang viel Abstraktes lernen. Etwa über das Wirken politischer Parteien oder über Schulreformen im 19. Jahrhundert. Das fand sie langweilig und anstrengend:

    "Weil es n u r T h e o r i e ist. Und ich bin kein Theoriemensch. Ich bin ein Praxismensch. Ich brauche auch den Kontakt mit Menschen da. Und den hat man da nicht. Man sitzt allein in der Bibliothek über den Büchern und lernt. Nee – Studium ist abgeschlossen!"

    Eigentlich wusste die Berlinerin bereits nach vier Semestern, dass das Studium nicht "ihr Ding" ist. Und doch quälte sie weitere zehn Semester Jahre durch die Ausbildung. Überfüllte Hörsäle und fehlender Kontakt zu Professoren verschlimmerten die Situation. Sie wurde immer unglücklicher, bekam Schlafstörungen - und ging schließlich nicht mehr zu den Vorlesungen:

    "Es ist natürlich auch ein bisschen peinlich gegenüber seiner Familie, das zuzugeben. Also es ist schon ein großer Schritt zu sagen: Pass auf, die letzten Jahre waren für den ... (schnalzt), ne. Ich höre jetzt damit auf. Auch bei meinen Freunden. Alle haben jetzt in meinem Alter, die mit mir angefangen haben, alle ihren Abschluss. Und ich fang jetzt bei null an."

    Sandra Walus ist keine Ausnahme: In Deutschland geben pro Jahrgang rund 70.000 Studierende ihr Hochschulstudium auf.

    "Jeder vierte Studienanfänger schafft keinen ersten akademischen Abschluss",

    sagt Ulrich Heublein vom Hochschul-Informations-System in Hannover. Er hat in einer Studie herausgefunden, dass in den "harten" Naturwissenschaften und in den Ingenieurwissenschaften die Abbrecherquoten besonders hoch sind. Also in Fächern wie Physik, Maschinenbau, Elektrotechnik, Informatik und Mathematik. Forscher Heublein beobachtet mit Sorge, dass vor allem die B.A.-Studiengänge die Abbrecherstatistik hochtreiben. Welche Gründe nennen Studierende, die das "Handtuch schmeißen"?

    "Leistungsprobleme – die übrigens an Bedeutung gewonnen haben im Rahmen der Umstellung auf die Bachelor-Studiengänge. An zweiter Stelle: finanzielle Probleme. Und schließlich ein dritter Aspekt: Das ist mangelnde Studienmotivation. Dahinter verbirgt sich dann die falsche Erwartung, man kann sich mit dem Studienfach nicht mehr identifizieren."

    Was tun nach dem Studienabbruch? Sandra Walus will an ihre Hobbys anknüpfen, etwa an das Fotografieren:

    "Meine ganzen Freizeitaktivitäten haben schon mit Sinn für Ästhetik zu tun. Also irgendwas Kreatives. Ich male auch ab und an mal ein bisschen, nähe ganz viel – ach so kleine Kosmetiktäschchen – so Tüdelü-Kram halt." (lacht)

    Sandra Walus möchte nun "Gestalterin für visuelles Marketing" werden. Mit diesem Berufsschulabschluss kann sie später die Schaufenster von Kaufhäusern dekorieren oder Messestände einrichten. Die Berlinerin bewirbt sich derzeit überall für einen Ausbildungsplatz – und jobbt zudem in einem Bekleidungsladen. Im Oktober ist es dann vorbei mit dem hochtheoretischen Studium - dann will sich Sandra Walus exmatrikulieren lassen:

    "Ich ärger' mich schon manchmal, dass ich die Zeit, die Jahre, verschenkt habe. Und mit 27 ist man ja auch nicht mehr die Jüngste, gerade mit Noch-mal-neu-anfangen. Ja, aber besser jetzt – als nie."

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