So beginnt der Roman von Jean Echenoz. "Ich gehe jetzt", sagt Félix Ferrer in der ersten Zeile und "Ich gehe jetzt" wird er in der letzten Zeile sagen. Dazwischen liegen bloß 185 Sei-ten. Die haben es allerdings schwer in sich. Exakt ein Jahr lang folgen wir den Spuren von Ferrers bewegtem Leben. Es beginnt mit der Trennung von seiner Ehefrau, weshalb wir im Folgenden die Bekanntschaft von einem guten halben Dutzend neuer Frauen und vorübergehender Gespielinnen machen. Dann begleiten wir ihn auf eine abenteuerliche Expedition in die Arktis, wo er in einem Schiffswrack immens wertvolle An-tiquitäten aufspürt. Allerdings werden sie ihm dann in Paris geraubt. Wir lernen den Täter kennen, nehmen teil an seiner Tat und seiner Flucht, bis ihn Félix Ferrer überraschend in Spanien aufspürt. In der Zwischenzeit hatte er allerdings einen Herzinfarkt mit anschließender Bypass-Operation zu überste-hen. Am Schluß scheinen sich endlich die Wogen zu glätten: Seine Kunstgalerie - eben noch von der Pleite bedroht - erlebt einen wundersamen Aufschwung, und der Held scheint sich in einer neuen dauerhaften Paarbeziehung einzurichten. Doch auf den letzten Zeilen vergehen die Gewißheiten wieder. Da heißt es "Ich gehe jetzt" ... Worüber wir hier schweigen wollen.
Sie mögen vielleicht lachen, verehrter Hörer, angesichts die-ser Abenteuerfülle in einem recht kurzen Roman. Lachen Sie ruhig, Sie haben ja recht. Doch ich möchte Sie darauf hinwei-sen: die Ahnung, daß es hier irgendwie um Kolportageliteratur geht, diese Ahnung verdanken Sie einstweilen mir - meiner schnittigen Engführung der Themen und Motive, und mögli-cherweise hat ja auch meine Stillage zu Ihrer Information bei-getragen. Aber damit wissen Sie bestenfalls die Hälfte, denn ich darf Ihnen etwas recht Merkwürdiges mitteilen: Es könnte einem nämlich glatt passieren, daß man gar nicht merkt, wie überdreht der Roman ist, wie krude sein Plot, und wie die rou-tinierte Rhetorik öfters sanft entgleist. Doch es ist so: "Ich gehe jetzt" ist eine sonderbare Fälschung von Roman, von Li-teratur - auf vertrackte Weise so gut getarnt, so raffiniert mit dem schweren Wasserkopf des Lesers spielend, daß ich die These wage: Der wahre Kriminalfall in diesem Roman ist der Roman selbst. Aber selbst der Tatbestand bleibt lange unklar, und wir wissen nicht so genau, ob wir wegen Betrugs ermitteln sollen oder wegen Diebstahls, vorsätzlicher Fälschung, bewuß-ter Irreführung oder am Ende gar wegen Zerrüttung des Abendlandes. Das gilt es zu klären. Wir nehmen die Ermittlun-gen auf und hören mal, was Jean Echenoz seinem Helden in der Nähe des Nordpols andichtet:
"Am Ortsausgang von Port Radium fuhr man zunächst in ei-nen kurzen Hohlweg ein. Vereister Schnee hing an den Felsen wie Schaumreste an den Wänden eines geleerten Bierglases. Man fuhr recht schnell, hart durchgerüttelt wegen des unebe-nen Geländes. Anfangs versuchte Ferrer, ein paar Worte mit seinen Führern zu wechseln, vor allem mit Angutretok, der über geringe Englischkenntnise verfügte, während Napaseekad-lak sich ausschließlich durch Lächeln verständigte. Aber kaum waren seine Wörter heraus, erstarb schon ihr Klang und sie er-starrten: Da sie einen Augenblick lang erfroren in der Luft hin-gen, brauchte man nur die Hand auszustrecken, und schon kullerten sie bunt durcheinander hinein und schmolzen einem zwischen den Fingern, wo sie schließlich flüsternd zerliefen."
Ja, so ist sie - die Literatur: aus dem Scheitern einer banalen Kommunikation vermag sie eine Preziose zu drechseln. Ist es nicht ergreifend, wie das Unverständliche hübsch gefriert, um dann flüsternd zu schmelzen? Mitten im rüden Element des Eises, im Ungespräch zwischen dem smarten Kunsthändler und den trotteligen Eskimos pflückt uns der Autor eine herrli-che Wallungsblume: das vergebliche und also um so heiligere Wort. Allein, nie und nimmer gestattet die Physik gefrorenen Klang, der von Wärme erfaßt noch sterbend seine Botschaft murmelt. Und selbst Poeten, die gewohnt sind, sich über die Niederungen der Körperwelt zu erheben und sich an dünner metaphorischer Höhenluft laben, dürfte es hier die Sprache verschlagen. Kurz, die gehörte Passage böte Anlaß, Jean Eche-noz für einen Stümper zu halten. Und es mangelte nicht an anderen Beispielen:
"Der Richter war eine Richterin mit grauen Haaren, ruhig und angespannt zugleich, ruhig, weil sie sich für eine routi-nierte Richterin hielt, und angespant, weil sie wusste, dass es Routine nicht gibt. Obgleich sie sich einer aufgesetzten Di-stanziertheit befleißigte, überlegte Ferrer, im Privatleben müs-se sie fürsorglich sein, warmherzig und vielleicht sogar liebe-voll, ja, ganz offenbar eine gute Mutter, obwohl mit ihr sicher nicht immer gut Kirschen essen war. Nicht ausgeschlossen, daß sie einen gerichtlich bestallten Urkundsbeamten geehe-licht hatte, der sich um den Haushalt kümmerte, wenn sie sich zum Abendessen verspätete, und bei Tisch plaudert man dann über Fragen des Zivilrechts."
Eine Perle romanesker Personenbeschreibung, die nichts zeigt als ihre Geste: die Geste des Romancieres, der auf ein paar Zeilen Personen Tiefe und ein ganzes Leben einzuhauchen versucht. Aber beim besten Willen finden sich hier weder Tiefe noch Leben, sondern nur die Rhetorik des Durchblicks. Doch ich möchte neuerlich betonen: man könnte glatt darauf rein-fallen, es einfach so überlesen, wenn man nicht so gewitzt ist wie der Rezensent, der natürlich längst verstanden hat, diesen Roman als eine kalkulierte Intrige zu lesen und der diesen Romancier für einen hochliterarischen Kopf hält.
Und hier bietet sich die Gelegenheit, dem deutschen Über-setzer ausdrücklich zu danken und Bewunderung zu übermit-teln. Hinrich Schmidt-Henkel gelingt es vollkommen, sozusa-gen fehlerlos die exakte Fehlerhaftigkeit dieses Buches im Deutschen zu reproduzieren. Tatsächlich beschränkt sich der diskrete Irrsinn von "Ich gehe jetzt" nicht allein auf die des-kriptiven Betriebsunfälle, er affiziert auch den gesamten er-zählerischen Faden und die Stillagen. Wie gesagt, handelt der Roman von den Ereignissen im Verlaufe eines Jahres im Leben des Galeristen Félix Ferrer. Dennoch sind wir am Ende nicht gerade schlauer, was den Helden betrifft. Er ist an die 50, und obwohl er schon einen Herzinfarkt hinter sich hat, nietet er zahlreiche junge Frauen um, was mit dem Befund klappernder Herzventile oder schwer verengter Aorta nicht ohne weiteres vereinbar ist. Zu allem Überfluß setzt er sich auch noch den Strapazen einer heiklen Schatzsuche in der Arktis aus. Aller-dings gerät diese Expedition zum Langweiligsten, was die jün-gere Abenteuerliteratur zu bieten hat:
"Sogleich bliesen die Mücken zum Angriff, doch sie waren zum Glück ausgesprochen leicht zu töten. In diesen Breiten ist der Mensch den Tieren nämlich so gut wie unbekannt, und da-her haben sie keine Scheu vor ihm: Man schlägt sie mit dem Handrücken tot, diese Mücken, und sie versuchen nicht ein-mal wegzufliegen. Das hindert sie aber nicht, einem das Leben zur Hölle zu machen, sie attackierten zu Dutzenden pro Ku-bikmeter und stachen durch die Kleidung, besonders an Schul-tern und Knien, wo der Stoff gespannt ist. Hätte man ihre wimmelnden Schwärme fotografieren wollen, sie hätten das Objektiv verdunkelt, aber man hatte keinen Apparat dabei, da-für war man nicht hier. Man verstopfte die Lüftungslöcher der Kopfbedeckung und fuhr weiter, die eigenen Flanken peit-schend. Einmal sah man einen Eisbären, zu weit entfernt, um sich feindselig zu zeigen."
Außer Mücken will niemand weit und breit den Beutezug des Félix Ferrer stören - keine Eskimos, keine Eisbären, keine feindlichen Gangs, nicht einmal die Behörden. Am Ende muß der Kunsthändler mit seinen tiefgefrorenen Antiquitäten noch ein paar Formalitäten in einer grönländischen Wellblechstadt erledigen. Selbstverständlich findet er selbst in dieser ange-tauten Ödnis eine knusprige Gespielin, die ihm die Wartezeit erotisch verkürzt. Doch machen Sie sich bitte keine Hoffnung. Auch die erotischen Szenen gehen nie über den Charme gewis-ser Container-Intimitäten in Köln-Hürth hinaus. Weshalb man sie erst mal für cool hält. Das ist überhaupt das Problem: Man liest immer weiter, gelegentlich irritiert, aber nicht irritiert genug, um sich die Sache mal genauer anzuschauen. Man will wissen, wie es weitergeht oder vielmehr, wo überhaupt das Problem ist.
Von Anfang an spielt der Roman mit dem Geheimnisvollen, souffliert er Rätselhaftigkeit. Zum Beispiel wissen wir nicht, warum Félix Ferrer in der ersten Zeile seine Frau verläßt, so entschieden, so beiläufig. "Ich gehe jetzt", damit beginnt das Buch, und das harmlose Sätzchen lauert die ganze Zeit im Ti-tel. Wohin geht er denn nun? Oder woher kommt er denn ei-gentlich? 185 Seiten lang wird uns suggeriert, dies sei eine wichtige Frage. So funktionieren Kriminalromane nun mal. Ei-ne böse Tat haut ein Loch in die Welt, zerreißt den Zusam-menhang: Wer? Wann? Wo? Was? Das spezielle Delikt läßt sich nicht an seinem Ort festhalten, es wandert in die Welt aus und befällt die ganze Realität. Das Wirkliche schlechthin wird un-erklärlich. Jedes Ding könnte Teil des Problems sein, jedes Wort Indiz oder Waffe - das Reale ganz allgemein gerät in Ver-dacht. Das macht die Spannung eines Krimis aus. Und Rettung naht in Gestalt des Detektivs, der mit den Mitteln des Labors und der Trance der Vernunft die Ruchlosigkeit des Dunkels erhellt und uns vom Trauma des Unbegreiflichen heilt.
In "Ich gehe jetzt" geschehen auch Verbrechen. Wir nehmen geradezu daran teil, schauen dem Täter zu und begleiten ihn bis zu seiner überraschenden Überführung. Allerdings vermas-selt uns Echenoz selbst diese schöne Überraschung ein wenig, aber das wollen wir nicht vorwegnehmen. Überhaupt gestaltet dieser Autor die mögliche Crime-Story so lapidar wie möglich. Es gibt zwar Tote und ein paar Drogenfiguren am Rande, die Polizei greift ein, doch Echenoz überschreitet gewiß nicht das erzählerische Budget einer kinderfreundlichen Vorabendserie.
Ein Actionroman, der konsequent die wilde Folge der Ereig-nisse ausbremst, ein Kriminalroman mit ordentlichen Verbre-chen, aber ohne richtige Rätsel. Und doch haben wir es nicht mit einer Parodie zu tun, die wir schenkelklopfend lesen, weil sie bestimte stilistische oder erzählerische Eigenarten der Gat-tung oder eines Autors köstlich überzeichnet. Der sanfte Trug dieses Romans ist so diskret, daß uns Echenoz selbst auf die Sprünge helfen muß. Gegen Ende des Buches mehren sich nämlich die ironischen Intermezzi eines Ich-Erzählers. In der Hauptsache wird der Roman von einem anonymen auktorialen Erzähler getragen. Doch bereits anfangs mischt sich ganz sel-ten und deshalb um so rätselhafter ein "Ich" in den erzähleri-schen Gang der Dinge. Gegen Ende outet sich dieses Ich eini-germaßen plump als der Schreiber der Geschichte, der ganz normale Erfinder, der langsam auch mal fertig werden möchte.
"Also mir persönlich geht dieser Baumgartner so langsam auf die Nerven. Sein Alltag ist zu belanglos. Er wohnt im Hotel, telefoniert jeden zweiten Tag und besichtigt alles, was sich nicht wehrt, aber sonst ist nichts los. Da fehlt der Schwung. Seit er aus Paris nach Südfrankreich gefahren ist, reist er aufs Geratewohl in seinem weißen Fiat herum, einem schlichten Wagen ohne Extras oder schmückendes Beiwerk, nichts klebt an den Scheiben, nichts hängt am Rückspiegel. Er benutzt vor allem Nebenstraßen. Eines Morgens, es ist Sonntag, erreicht er Biarritz. (...) Sorgen wir dafür, dass wir vorankommen, be-schleunigen wir ein wenig."
Wir waren fest entschlossen, an die Abgründe der Geschichte zu glauben und ihr bis zum Rand zu folgen. Die pausbäckigen Auftritte des Ich-Erzählers stören unsere Andacht erheblich. Andererseits sind wir doch so sehr in Sachen moderner oder postmoderner Literatur geschult, daß wir insgeheim erwägen, daß dieser polternde Auftritt des Skribenten Teil der Intrige und des Geheimnisses sei. Und da er jetzt das baldige Ende seines Buches verlangt, verführt er uns, auf den letzten Metern alle möglichen Lösungen im Kopf durchzuspielen. Soll Ferrer scheitern oder glücklich werden mit seiner neuen Braut? Oder vielleicht stände ihm ja die Erkenntnis über die Vergeblichkeit aller irdischen Mühen sehr gut. Doch allmählich dämmert uns, daß es keine Lösung geben kann. In der ganzen Geschichte steckt so wenig Plausibiliät, macht weder eine märchenhafte noch eine realistische Lösung Sinn. Und gegen diese Ahnung aufkommender Enttäuschung lesen wir umso heftiger auf das Ende hin - in der natürlich vergeblichen Hoffnung, daß uns Jean Echenoz auf den allerletzten Zeilen wenigstens eröffnet, wonach wir auf all den Seiten gesucht haben.
Oh doch, ich spüre sehr wohl, daß der eine oder andere mei-ner Millionen Hörer da draußen jetzt vielleicht zu einer gewis-sen Verärgerung neigt, da ihm scheint, da wolle ihm mal wie-der jemand einen dieser postmodernen Romänchen andrehen, die so kunstvoll davon handeln, daß man von nix handeln kann, daß ein Roman die Welt nicht abbildet, sondern nur un-sere Illusionen und die Regeln der Literatur, weshalb meistens nichts bleibt außer dem Fragment, dem Zitat und dem Kitsch des Unsagbaren. Ich muß diese Unterstellung entschieden zu-rückweisen. Mein halbes Leben lang habe ich gegen diese Zu-mutungen akademischer Revolte protestiert. Außerdem er-kennt man einen postmodernen Roman unfehlbar daran, daß er sterbenslangweilig ist. Und der Roman von Echenoz ist kei-neswegs langweilig. Er ist heiter, raffiniert und ich wage zu behaupten: zuletzt ist er gar anrührend. Mir ist, als hätte ich an einer heiteren Exerzitie des Absurden teilgenommen. Aber nicht jenes lehrhaften, nachgöttlich umwehten Absurden, son-dern des konkreten und eigenen Absurden. Denn wo sollte das Absurde stecken, wenn nicht überall? Trotzdem werden wir seiner selten ansichtig. Echenoz hat es uns kunstvoll und un-auffällig zu spüren gegeben. Und ich bewundere diesen Schrift-steller dafür, mit welch sicheren Gespür er den Glanz des Epi-schen minutiös verpaßt und uns doch in Bann hält, uns bis zuletzt der Hoffnung auf epische Erlösung aussetzt, um uns dann hart zu düpieren. Am Ende sind wir entschieden schlau-er: Im literarischen Glaubenseifer haben wir unserer eigenen Wahrnehmung nicht mehr vertraut. Echenoz hat dick aufge-tragen, aber er konnte sich doch auf seine Leser verlassen: we-der die Sprödigkeit der Geschichte noch die grotesken Figuren und Schilderungen konnten uns von den Tugenden des Glau-bens und Hoffens abhalten: wo erzählt werde, warte am Ende Sinn:
"Und er erzählte. Alles. Von Anfang an. Als er den Bericht seiner Niederlage beendet hatte, war es dunkel geworden. Draußen, hoch über der Baustelle, blinkte es am Heck der Ausleger der beiden gelben Kräne, am Himmel flog die Maschi-ne Paris-Singapur vorbei und blinkte im selben Rhythmus an den Flügelspitzen: Mit diesem synchronen Augenzwinkern zwi-schen Himmel und Erde wiesen sie einander darauf hin, dass es sie gab."
Mattweiße Pappe. Ein von schmalen blauen oder schwarzen Linien gezeichneter Rahmen. Oben steht der Name des Autors. Darunter (größer) der Titel. Darunter (kleiner) Gattung oder Untertitel. Wiederum etwas tiefer folgt das Verlagssignet. Am Fuße dann und gleichsam als Sockel der Verlagsname: "LES ÉDITIONS DE MINUIT". Was wörtlich heißt: Mitternachtsverlag und daran erinnert, daß die ÉDITIONS DE MINUIT während der Rési-stance als Untergrundverlag gegründet wurden. Und in gewis-ser Weise hat sich der Verlag auch später immer als ein Art Heimstatt der Revolte verstanden. Mit dem seit Jahrzehnten unveränderten Layout unterstreicht man die Strenge und Kon-stanz, mit der man sich als Hochburg der literarischen Avant-garde Frankreichs versteht. Michel Butor, Alain Robbe-Grillet oder Claude Simon veröffentlichten hier ihre "nouveaux ro-mans", die absurden Texte eines Samuel Beckett oder eines Eugène Ionesco wurden hier erstmals verlegt. All diese Auto-ren verbindet ein heftiges Mißtrauen gegen den klassischen Roman. Er sei nicht nur in Konventionen erstarrt und könne allein insofern von der modernen Welt und ihrer Dynamik kei-ne Rechenschaft mehr ablegen. Mehr noch: seine ritualisierten und tausendfach wiederholten Verfahren vermittelten den Eindruck, daß es in der Welt wie nach den Prinzipien der klas-sischen Erzählung zugehe. Deshalb erschütterten diese Auto-ren durchgängig die romaneske Gemütlichkeit. Die Erzählver-fahren selbst traten in den Vordergrund und die Realität flak-kerte im Lichte sprachlicher Experimente.
Doch, wie es so geht: auch die Avantgarden erstarren, wer-den von ihrer eigenen Forderung nach Neuerung eingeholt. Und nachdem die Rebellen mit Professorenämtern geehrt und mit Nobelpreisen gekrönt waren, legte sich der programmati-sche Lärm, und eine neue Generation von Schriftstellern er-oberte die ÉDITIONS DE MINUIT. Zu denen gehört der mittlerweile 53jährige Jean Echenoz, der seit 1979 neun Romane veröffent-licht hat. Dazu zählen noch andere Autoren wie Jean-Philippe Toussaint, Marie Redonnet, Francis Bon oder Patrick Deville. Mit ihren berühmten Vorgängern teilen sie die Skepsis an der Macht des Erzählens. Ansonsten unterscheiden sie sich radi-kal. Zunächst durch eine konsequente programmatische Ent-haltsamkeit, vor allem aber sind die meisten ihrer Romane so still, so unauffällig, daß man sie schon mal "minimalistisch" genannt hat.
Wie dieser Minimalismus funktioniert, kann man sehr gut an den Romanen von Jean Echenoz beschreiben. Wobei seine frü-heren Bücher noch weit mehr in die Sphäre der Verschwörung eintauchen. Es geschehen mysteriöse Dinge im großen Maß-stab, aber davon hören wir stets nur in nüchtern gereihten Sätzen. Zusammenhänge deuten sich an, brechen aber im letz-ten Moment zusammen. Niemals löst Echenoz seine Rätsel. Immer stößt er uns auf eine Welt von verführerischer Vieldeu-tigkeit. Wir betrachten Dinge und Ereignisse und suchen nach Wahrnehmungsschlüsseln, nach einer Sprache, die uns ihren Zusammenhang erklärte. Erzählen heißt für Echenoz nicht, dem Leser eine geschlossene Geschichte zu schenken, sondern heißt, die konventionellen, die routinierten, die funktionalen Lesarten des Wirklichen unauffällig zu unterlaufen, um die Unlösbarkeit der Realität spielerisch zu erkunden.
Lange genug waren die Metaphysik des Absurden, der Tod Gottes, die Unerkennbarkeit der Welt und die Überzähligkeit des Menschen bloß beinharte philosophische Standpunkte. Wer verstanden zu haben glaubte, daß der Mensch bloß eine kon-tingentes Plankton ist, durfte daran entweder zugrunde gehen oder mußte zur Tagesordnung schreiten. Und die Romantech-niken, die man von diesen Standpunkten ableitete, führten zu Werken, die blutarm das Plansoll der Abstraktion vollstreck-ten. Bei Echenoz hingegen hat man den Eindruck, er werde nicht müde, mit seinen Romanen eine Schwebe zu trainieren. Wer erzählt, erklärt nicht die Welt, sondern entdeckt sie. Un-lösbarkeit ist weder eine Idee noch ein Problem, sie ist eine, unsere, Realität, und sie ist konkret.
Sie mögen vielleicht lachen, verehrter Hörer, angesichts die-ser Abenteuerfülle in einem recht kurzen Roman. Lachen Sie ruhig, Sie haben ja recht. Doch ich möchte Sie darauf hinwei-sen: die Ahnung, daß es hier irgendwie um Kolportageliteratur geht, diese Ahnung verdanken Sie einstweilen mir - meiner schnittigen Engführung der Themen und Motive, und mögli-cherweise hat ja auch meine Stillage zu Ihrer Information bei-getragen. Aber damit wissen Sie bestenfalls die Hälfte, denn ich darf Ihnen etwas recht Merkwürdiges mitteilen: Es könnte einem nämlich glatt passieren, daß man gar nicht merkt, wie überdreht der Roman ist, wie krude sein Plot, und wie die rou-tinierte Rhetorik öfters sanft entgleist. Doch es ist so: "Ich gehe jetzt" ist eine sonderbare Fälschung von Roman, von Li-teratur - auf vertrackte Weise so gut getarnt, so raffiniert mit dem schweren Wasserkopf des Lesers spielend, daß ich die These wage: Der wahre Kriminalfall in diesem Roman ist der Roman selbst. Aber selbst der Tatbestand bleibt lange unklar, und wir wissen nicht so genau, ob wir wegen Betrugs ermitteln sollen oder wegen Diebstahls, vorsätzlicher Fälschung, bewuß-ter Irreführung oder am Ende gar wegen Zerrüttung des Abendlandes. Das gilt es zu klären. Wir nehmen die Ermittlun-gen auf und hören mal, was Jean Echenoz seinem Helden in der Nähe des Nordpols andichtet:
"Am Ortsausgang von Port Radium fuhr man zunächst in ei-nen kurzen Hohlweg ein. Vereister Schnee hing an den Felsen wie Schaumreste an den Wänden eines geleerten Bierglases. Man fuhr recht schnell, hart durchgerüttelt wegen des unebe-nen Geländes. Anfangs versuchte Ferrer, ein paar Worte mit seinen Führern zu wechseln, vor allem mit Angutretok, der über geringe Englischkenntnise verfügte, während Napaseekad-lak sich ausschließlich durch Lächeln verständigte. Aber kaum waren seine Wörter heraus, erstarb schon ihr Klang und sie er-starrten: Da sie einen Augenblick lang erfroren in der Luft hin-gen, brauchte man nur die Hand auszustrecken, und schon kullerten sie bunt durcheinander hinein und schmolzen einem zwischen den Fingern, wo sie schließlich flüsternd zerliefen."
Ja, so ist sie - die Literatur: aus dem Scheitern einer banalen Kommunikation vermag sie eine Preziose zu drechseln. Ist es nicht ergreifend, wie das Unverständliche hübsch gefriert, um dann flüsternd zu schmelzen? Mitten im rüden Element des Eises, im Ungespräch zwischen dem smarten Kunsthändler und den trotteligen Eskimos pflückt uns der Autor eine herrli-che Wallungsblume: das vergebliche und also um so heiligere Wort. Allein, nie und nimmer gestattet die Physik gefrorenen Klang, der von Wärme erfaßt noch sterbend seine Botschaft murmelt. Und selbst Poeten, die gewohnt sind, sich über die Niederungen der Körperwelt zu erheben und sich an dünner metaphorischer Höhenluft laben, dürfte es hier die Sprache verschlagen. Kurz, die gehörte Passage böte Anlaß, Jean Eche-noz für einen Stümper zu halten. Und es mangelte nicht an anderen Beispielen:
"Der Richter war eine Richterin mit grauen Haaren, ruhig und angespannt zugleich, ruhig, weil sie sich für eine routi-nierte Richterin hielt, und angespant, weil sie wusste, dass es Routine nicht gibt. Obgleich sie sich einer aufgesetzten Di-stanziertheit befleißigte, überlegte Ferrer, im Privatleben müs-se sie fürsorglich sein, warmherzig und vielleicht sogar liebe-voll, ja, ganz offenbar eine gute Mutter, obwohl mit ihr sicher nicht immer gut Kirschen essen war. Nicht ausgeschlossen, daß sie einen gerichtlich bestallten Urkundsbeamten geehe-licht hatte, der sich um den Haushalt kümmerte, wenn sie sich zum Abendessen verspätete, und bei Tisch plaudert man dann über Fragen des Zivilrechts."
Eine Perle romanesker Personenbeschreibung, die nichts zeigt als ihre Geste: die Geste des Romancieres, der auf ein paar Zeilen Personen Tiefe und ein ganzes Leben einzuhauchen versucht. Aber beim besten Willen finden sich hier weder Tiefe noch Leben, sondern nur die Rhetorik des Durchblicks. Doch ich möchte neuerlich betonen: man könnte glatt darauf rein-fallen, es einfach so überlesen, wenn man nicht so gewitzt ist wie der Rezensent, der natürlich längst verstanden hat, diesen Roman als eine kalkulierte Intrige zu lesen und der diesen Romancier für einen hochliterarischen Kopf hält.
Und hier bietet sich die Gelegenheit, dem deutschen Über-setzer ausdrücklich zu danken und Bewunderung zu übermit-teln. Hinrich Schmidt-Henkel gelingt es vollkommen, sozusa-gen fehlerlos die exakte Fehlerhaftigkeit dieses Buches im Deutschen zu reproduzieren. Tatsächlich beschränkt sich der diskrete Irrsinn von "Ich gehe jetzt" nicht allein auf die des-kriptiven Betriebsunfälle, er affiziert auch den gesamten er-zählerischen Faden und die Stillagen. Wie gesagt, handelt der Roman von den Ereignissen im Verlaufe eines Jahres im Leben des Galeristen Félix Ferrer. Dennoch sind wir am Ende nicht gerade schlauer, was den Helden betrifft. Er ist an die 50, und obwohl er schon einen Herzinfarkt hinter sich hat, nietet er zahlreiche junge Frauen um, was mit dem Befund klappernder Herzventile oder schwer verengter Aorta nicht ohne weiteres vereinbar ist. Zu allem Überfluß setzt er sich auch noch den Strapazen einer heiklen Schatzsuche in der Arktis aus. Aller-dings gerät diese Expedition zum Langweiligsten, was die jün-gere Abenteuerliteratur zu bieten hat:
"Sogleich bliesen die Mücken zum Angriff, doch sie waren zum Glück ausgesprochen leicht zu töten. In diesen Breiten ist der Mensch den Tieren nämlich so gut wie unbekannt, und da-her haben sie keine Scheu vor ihm: Man schlägt sie mit dem Handrücken tot, diese Mücken, und sie versuchen nicht ein-mal wegzufliegen. Das hindert sie aber nicht, einem das Leben zur Hölle zu machen, sie attackierten zu Dutzenden pro Ku-bikmeter und stachen durch die Kleidung, besonders an Schul-tern und Knien, wo der Stoff gespannt ist. Hätte man ihre wimmelnden Schwärme fotografieren wollen, sie hätten das Objektiv verdunkelt, aber man hatte keinen Apparat dabei, da-für war man nicht hier. Man verstopfte die Lüftungslöcher der Kopfbedeckung und fuhr weiter, die eigenen Flanken peit-schend. Einmal sah man einen Eisbären, zu weit entfernt, um sich feindselig zu zeigen."
Außer Mücken will niemand weit und breit den Beutezug des Félix Ferrer stören - keine Eskimos, keine Eisbären, keine feindlichen Gangs, nicht einmal die Behörden. Am Ende muß der Kunsthändler mit seinen tiefgefrorenen Antiquitäten noch ein paar Formalitäten in einer grönländischen Wellblechstadt erledigen. Selbstverständlich findet er selbst in dieser ange-tauten Ödnis eine knusprige Gespielin, die ihm die Wartezeit erotisch verkürzt. Doch machen Sie sich bitte keine Hoffnung. Auch die erotischen Szenen gehen nie über den Charme gewis-ser Container-Intimitäten in Köln-Hürth hinaus. Weshalb man sie erst mal für cool hält. Das ist überhaupt das Problem: Man liest immer weiter, gelegentlich irritiert, aber nicht irritiert genug, um sich die Sache mal genauer anzuschauen. Man will wissen, wie es weitergeht oder vielmehr, wo überhaupt das Problem ist.
Von Anfang an spielt der Roman mit dem Geheimnisvollen, souffliert er Rätselhaftigkeit. Zum Beispiel wissen wir nicht, warum Félix Ferrer in der ersten Zeile seine Frau verläßt, so entschieden, so beiläufig. "Ich gehe jetzt", damit beginnt das Buch, und das harmlose Sätzchen lauert die ganze Zeit im Ti-tel. Wohin geht er denn nun? Oder woher kommt er denn ei-gentlich? 185 Seiten lang wird uns suggeriert, dies sei eine wichtige Frage. So funktionieren Kriminalromane nun mal. Ei-ne böse Tat haut ein Loch in die Welt, zerreißt den Zusam-menhang: Wer? Wann? Wo? Was? Das spezielle Delikt läßt sich nicht an seinem Ort festhalten, es wandert in die Welt aus und befällt die ganze Realität. Das Wirkliche schlechthin wird un-erklärlich. Jedes Ding könnte Teil des Problems sein, jedes Wort Indiz oder Waffe - das Reale ganz allgemein gerät in Ver-dacht. Das macht die Spannung eines Krimis aus. Und Rettung naht in Gestalt des Detektivs, der mit den Mitteln des Labors und der Trance der Vernunft die Ruchlosigkeit des Dunkels erhellt und uns vom Trauma des Unbegreiflichen heilt.
In "Ich gehe jetzt" geschehen auch Verbrechen. Wir nehmen geradezu daran teil, schauen dem Täter zu und begleiten ihn bis zu seiner überraschenden Überführung. Allerdings vermas-selt uns Echenoz selbst diese schöne Überraschung ein wenig, aber das wollen wir nicht vorwegnehmen. Überhaupt gestaltet dieser Autor die mögliche Crime-Story so lapidar wie möglich. Es gibt zwar Tote und ein paar Drogenfiguren am Rande, die Polizei greift ein, doch Echenoz überschreitet gewiß nicht das erzählerische Budget einer kinderfreundlichen Vorabendserie.
Ein Actionroman, der konsequent die wilde Folge der Ereig-nisse ausbremst, ein Kriminalroman mit ordentlichen Verbre-chen, aber ohne richtige Rätsel. Und doch haben wir es nicht mit einer Parodie zu tun, die wir schenkelklopfend lesen, weil sie bestimte stilistische oder erzählerische Eigenarten der Gat-tung oder eines Autors köstlich überzeichnet. Der sanfte Trug dieses Romans ist so diskret, daß uns Echenoz selbst auf die Sprünge helfen muß. Gegen Ende des Buches mehren sich nämlich die ironischen Intermezzi eines Ich-Erzählers. In der Hauptsache wird der Roman von einem anonymen auktorialen Erzähler getragen. Doch bereits anfangs mischt sich ganz sel-ten und deshalb um so rätselhafter ein "Ich" in den erzähleri-schen Gang der Dinge. Gegen Ende outet sich dieses Ich eini-germaßen plump als der Schreiber der Geschichte, der ganz normale Erfinder, der langsam auch mal fertig werden möchte.
"Also mir persönlich geht dieser Baumgartner so langsam auf die Nerven. Sein Alltag ist zu belanglos. Er wohnt im Hotel, telefoniert jeden zweiten Tag und besichtigt alles, was sich nicht wehrt, aber sonst ist nichts los. Da fehlt der Schwung. Seit er aus Paris nach Südfrankreich gefahren ist, reist er aufs Geratewohl in seinem weißen Fiat herum, einem schlichten Wagen ohne Extras oder schmückendes Beiwerk, nichts klebt an den Scheiben, nichts hängt am Rückspiegel. Er benutzt vor allem Nebenstraßen. Eines Morgens, es ist Sonntag, erreicht er Biarritz. (...) Sorgen wir dafür, dass wir vorankommen, be-schleunigen wir ein wenig."
Wir waren fest entschlossen, an die Abgründe der Geschichte zu glauben und ihr bis zum Rand zu folgen. Die pausbäckigen Auftritte des Ich-Erzählers stören unsere Andacht erheblich. Andererseits sind wir doch so sehr in Sachen moderner oder postmoderner Literatur geschult, daß wir insgeheim erwägen, daß dieser polternde Auftritt des Skribenten Teil der Intrige und des Geheimnisses sei. Und da er jetzt das baldige Ende seines Buches verlangt, verführt er uns, auf den letzten Metern alle möglichen Lösungen im Kopf durchzuspielen. Soll Ferrer scheitern oder glücklich werden mit seiner neuen Braut? Oder vielleicht stände ihm ja die Erkenntnis über die Vergeblichkeit aller irdischen Mühen sehr gut. Doch allmählich dämmert uns, daß es keine Lösung geben kann. In der ganzen Geschichte steckt so wenig Plausibiliät, macht weder eine märchenhafte noch eine realistische Lösung Sinn. Und gegen diese Ahnung aufkommender Enttäuschung lesen wir umso heftiger auf das Ende hin - in der natürlich vergeblichen Hoffnung, daß uns Jean Echenoz auf den allerletzten Zeilen wenigstens eröffnet, wonach wir auf all den Seiten gesucht haben.
Oh doch, ich spüre sehr wohl, daß der eine oder andere mei-ner Millionen Hörer da draußen jetzt vielleicht zu einer gewis-sen Verärgerung neigt, da ihm scheint, da wolle ihm mal wie-der jemand einen dieser postmodernen Romänchen andrehen, die so kunstvoll davon handeln, daß man von nix handeln kann, daß ein Roman die Welt nicht abbildet, sondern nur un-sere Illusionen und die Regeln der Literatur, weshalb meistens nichts bleibt außer dem Fragment, dem Zitat und dem Kitsch des Unsagbaren. Ich muß diese Unterstellung entschieden zu-rückweisen. Mein halbes Leben lang habe ich gegen diese Zu-mutungen akademischer Revolte protestiert. Außerdem er-kennt man einen postmodernen Roman unfehlbar daran, daß er sterbenslangweilig ist. Und der Roman von Echenoz ist kei-neswegs langweilig. Er ist heiter, raffiniert und ich wage zu behaupten: zuletzt ist er gar anrührend. Mir ist, als hätte ich an einer heiteren Exerzitie des Absurden teilgenommen. Aber nicht jenes lehrhaften, nachgöttlich umwehten Absurden, son-dern des konkreten und eigenen Absurden. Denn wo sollte das Absurde stecken, wenn nicht überall? Trotzdem werden wir seiner selten ansichtig. Echenoz hat es uns kunstvoll und un-auffällig zu spüren gegeben. Und ich bewundere diesen Schrift-steller dafür, mit welch sicheren Gespür er den Glanz des Epi-schen minutiös verpaßt und uns doch in Bann hält, uns bis zuletzt der Hoffnung auf epische Erlösung aussetzt, um uns dann hart zu düpieren. Am Ende sind wir entschieden schlau-er: Im literarischen Glaubenseifer haben wir unserer eigenen Wahrnehmung nicht mehr vertraut. Echenoz hat dick aufge-tragen, aber er konnte sich doch auf seine Leser verlassen: we-der die Sprödigkeit der Geschichte noch die grotesken Figuren und Schilderungen konnten uns von den Tugenden des Glau-bens und Hoffens abhalten: wo erzählt werde, warte am Ende Sinn:
"Und er erzählte. Alles. Von Anfang an. Als er den Bericht seiner Niederlage beendet hatte, war es dunkel geworden. Draußen, hoch über der Baustelle, blinkte es am Heck der Ausleger der beiden gelben Kräne, am Himmel flog die Maschi-ne Paris-Singapur vorbei und blinkte im selben Rhythmus an den Flügelspitzen: Mit diesem synchronen Augenzwinkern zwi-schen Himmel und Erde wiesen sie einander darauf hin, dass es sie gab."
Mattweiße Pappe. Ein von schmalen blauen oder schwarzen Linien gezeichneter Rahmen. Oben steht der Name des Autors. Darunter (größer) der Titel. Darunter (kleiner) Gattung oder Untertitel. Wiederum etwas tiefer folgt das Verlagssignet. Am Fuße dann und gleichsam als Sockel der Verlagsname: "LES ÉDITIONS DE MINUIT". Was wörtlich heißt: Mitternachtsverlag und daran erinnert, daß die ÉDITIONS DE MINUIT während der Rési-stance als Untergrundverlag gegründet wurden. Und in gewis-ser Weise hat sich der Verlag auch später immer als ein Art Heimstatt der Revolte verstanden. Mit dem seit Jahrzehnten unveränderten Layout unterstreicht man die Strenge und Kon-stanz, mit der man sich als Hochburg der literarischen Avant-garde Frankreichs versteht. Michel Butor, Alain Robbe-Grillet oder Claude Simon veröffentlichten hier ihre "nouveaux ro-mans", die absurden Texte eines Samuel Beckett oder eines Eugène Ionesco wurden hier erstmals verlegt. All diese Auto-ren verbindet ein heftiges Mißtrauen gegen den klassischen Roman. Er sei nicht nur in Konventionen erstarrt und könne allein insofern von der modernen Welt und ihrer Dynamik kei-ne Rechenschaft mehr ablegen. Mehr noch: seine ritualisierten und tausendfach wiederholten Verfahren vermittelten den Eindruck, daß es in der Welt wie nach den Prinzipien der klas-sischen Erzählung zugehe. Deshalb erschütterten diese Auto-ren durchgängig die romaneske Gemütlichkeit. Die Erzählver-fahren selbst traten in den Vordergrund und die Realität flak-kerte im Lichte sprachlicher Experimente.
Doch, wie es so geht: auch die Avantgarden erstarren, wer-den von ihrer eigenen Forderung nach Neuerung eingeholt. Und nachdem die Rebellen mit Professorenämtern geehrt und mit Nobelpreisen gekrönt waren, legte sich der programmati-sche Lärm, und eine neue Generation von Schriftstellern er-oberte die ÉDITIONS DE MINUIT. Zu denen gehört der mittlerweile 53jährige Jean Echenoz, der seit 1979 neun Romane veröffent-licht hat. Dazu zählen noch andere Autoren wie Jean-Philippe Toussaint, Marie Redonnet, Francis Bon oder Patrick Deville. Mit ihren berühmten Vorgängern teilen sie die Skepsis an der Macht des Erzählens. Ansonsten unterscheiden sie sich radi-kal. Zunächst durch eine konsequente programmatische Ent-haltsamkeit, vor allem aber sind die meisten ihrer Romane so still, so unauffällig, daß man sie schon mal "minimalistisch" genannt hat.
Wie dieser Minimalismus funktioniert, kann man sehr gut an den Romanen von Jean Echenoz beschreiben. Wobei seine frü-heren Bücher noch weit mehr in die Sphäre der Verschwörung eintauchen. Es geschehen mysteriöse Dinge im großen Maß-stab, aber davon hören wir stets nur in nüchtern gereihten Sätzen. Zusammenhänge deuten sich an, brechen aber im letz-ten Moment zusammen. Niemals löst Echenoz seine Rätsel. Immer stößt er uns auf eine Welt von verführerischer Vieldeu-tigkeit. Wir betrachten Dinge und Ereignisse und suchen nach Wahrnehmungsschlüsseln, nach einer Sprache, die uns ihren Zusammenhang erklärte. Erzählen heißt für Echenoz nicht, dem Leser eine geschlossene Geschichte zu schenken, sondern heißt, die konventionellen, die routinierten, die funktionalen Lesarten des Wirklichen unauffällig zu unterlaufen, um die Unlösbarkeit der Realität spielerisch zu erkunden.
Lange genug waren die Metaphysik des Absurden, der Tod Gottes, die Unerkennbarkeit der Welt und die Überzähligkeit des Menschen bloß beinharte philosophische Standpunkte. Wer verstanden zu haben glaubte, daß der Mensch bloß eine kon-tingentes Plankton ist, durfte daran entweder zugrunde gehen oder mußte zur Tagesordnung schreiten. Und die Romantech-niken, die man von diesen Standpunkten ableitete, führten zu Werken, die blutarm das Plansoll der Abstraktion vollstreck-ten. Bei Echenoz hingegen hat man den Eindruck, er werde nicht müde, mit seinen Romanen eine Schwebe zu trainieren. Wer erzählt, erklärt nicht die Welt, sondern entdeckt sie. Un-lösbarkeit ist weder eine Idee noch ein Problem, sie ist eine, unsere, Realität, und sie ist konkret.