Sprecher: Franz Müntefering. Geboren am 16. Januar 1940 in Neheim-Hüsten, heute Arnsberg. Deutscher Politiker, SPD-Mitglied seit 1966. Nach Besuch der Volksschule in Sundern Lehre als Industriekaufmann. Danach kaufmännischer Angestellter in der metallverarbeitenden Industrie. Grundwehrdienst bei der Bundeswehr in den Jahren 1961 und 1962. Seit 1967 Mitglied der IG Metall. Von 1969 bis 1979 Stadtrat in Sundern. In den Jahren 1992 bis 1995 war Franz Müntefering Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales in Nordrhein-Westfalen. Von 1998 bis 1999 war Müntefering Bundesminister für Verkehr, Bau und Wohnungswesen. Von 2002 bis 2005 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und ab März 2004 zunächst bis November 2005 und noch einmal von Oktober 2008 bis November 2009 auch ihr Bundesvorsitzender. Von 2005 bis 2007 war Müntefering Vizekanzler und Bundesminister für Arbeit und Soziales im ersten Kabinett von Angela Merkel. Derzeit ist er Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Franz Müntefering ist verheiratet und Vater von zwei Töchtern.
Franz Müntefering: Ich wünsche ihm, dass er da rauskommt, dass er den richtigen Weg findet und dass er für sich und das Land das Richtige tut.
Sprecher: Aktuelle Anmerkungen zur Präsidentenkrise.
Rainer Burchardt: Herr Müntefering, eigentlich sind Sie ja für dieses Gespräch als Person interessant, aber insofern auch natürlich, als zu der einen oder anderen Entwicklung Ihre Meinung nicht ganz unwichtig ist: Was treibt Sie eigentlich um, wenn Sie, angesichts der augenblicklichen Vorkommnisse um das Schloss Bellevue im Allgemeinen und Herrn Wulff im Besonderen?
Müntefering: Ja, ich habe mich da so weit wie möglich zurückgehalten in Äußerungen und glaube, da wird schon genug darüber geredet, will aber doch sagen: Ich habe natürlich bei der Bundesversammlung den Bundespräsidenten Wulff nicht gewählt, wir hatten einen eigenen guten Kandidaten. Über das, was dann gelaufen ist in den letzten Wochen, war ich enttäuscht, denn man wünscht sich doch, dass dann an der Spitze des Landes es so läuft, dass die Menschen Vertrauen haben können und dass es gut läuft. Und einiges von dem, was passierte, hat mich auch entsetzt. Und das ist auch noch nicht weg und ich hoffe, dass es da bei dem Bundespräsidenten ein Einsehen gibt.
Burchardt: Es gibt ja zwei Ebenen in dem Zusammenhang: Die erste Ebene ist das, was so teilweise auch sehr kleinteilig ihm vorgeworfen wird, auf der anderen Seite das sogenannte Krisenmanagement, was ja nun wirklich katastrophal ist. Hätten Sie aus Ihrer Erfahrung andere Vorschläge gebracht, wenn man Sie gefragt hätte?
Müntefering: Ich war nicht in einer Position, wo man mich hätte fragen müssen, und das will ich auch nicht im Einzelnen bewerten. Aber in der Tat, wenn ich gesagt habe, ein bisschen auch Entsetzen, das bezieht sich auf das Krisenmanagement, auf die Tatsache, dass ein Bundespräsident anruft und auf Box spricht und dem Gegenüber jedes Wort in die Hand gibt und ... Also, das ist schon ein Grad von Unbeherrschtheit und von Dilettantismus, der bedrückend ist und ... Ich wünsche ihm, dass er da rauskommt, dass er den richtigen Weg findet und dass er für sich und das Land das Richtige tut.
Sprecher: Deutschlandfunk, das "Zeitzeugen"-Gespräch. Heute mit dem SPD-Politiker Franz Müntefering.
Müntefering: Die Bundesrepublik Deutschland war bis in die 60er-Jahre hin ein ziemlich vermieftes und reaktionäres Land. Das ist die Wahrheit.
Sprecher: Herkunft aus dem Sauerland und die frühe Nachkriegszeit der Bonner Republik.
Burchardt: Es gibt nicht wenige Beobachter gerade auf der politischen Bühne, die sagen, das sei das typische Verhalten von Leuten, die eigentlich in kleinen Verhältnissen aufgewachsen sind und jetzt irgendwo ganz oben angekommen sind und dann vielleicht auch ein wenig Realitätsverlust haben. Sie selbst sind ja auch aus relativ kleinen Verhältnissen stammend, Ihr Vater war Angestellter in der Landwirtschaft, Ihre Mutter war Hausfrau. Haben Sie selber jemals das Gefühl gehabt, ich muss jetzt mehr als meine Eltern bringen und da ist es mir auch ganz egal, wie ich da hinkomme?
Müntefering: Also, ich mag ehrlich gesagt diese Begrifflichkeit der einfachen Leute und der kleinen Leute überhaupt nicht. Für mich sind alle auf gleicher Augenhöhe und ich fühle mich da nicht unten, ich fühle mich nicht klein. Und ich habe auch schon Journalisten angemacht, die meine Eltern als einfache Leute bezeichnet haben, weil, ich fand die nicht einfach, ich fand die wirklich in Ordnung und ... Aber wenn Sie danach fragen, ob es da so ein Aufholbedürfnis gibt von Menschen, die das anders sehen, die unten und oben sehen und die sich dann oben fühlen, weiß ich nicht, kann ich nicht sagen. Mich hat es jedenfalls nie berührt und ich glaube auch nicht, dass das so ist. Ich habe Menschen in sehr unterschiedlichen Situationen kennengelernt aus unterschiedlichen Lagern der Bevölkerung, und ich glaube nicht, dass die Tatsache, dass einer sich hoch arbeitet in Jobs, dass er anerkannt wird, dass er Funktionen bekommt, dass er das irgendwie kompensatorisch macht, sondern das sehe ich ganz und gar anders.
Burchardt: Sie sind Jahrgang 1940, den Krieg, denke ich, haben Sie nicht mehr bewusst miterlebt ...
Müntefering: ... die letzte Zeit noch, ich habe schon noch ein paar Dinge erlebt, also ... Ich hatte Angst vor Flugzeugen, weil man gelernt hat als Kind, wenn man in den Kindergarten ging, man musste sofort in die Büsche sich schlagen. Und als dann der Krieg vorbei war und die Flugzeuge kamen, habe ich das immer noch getan und das gab dann erst mal Gelächter. Ich habe einige Monate gebraucht, vielleicht ein Jahr, ehe ich geglaubt habe, dass Flugzeuge nicht mehr gefährlich sind.
Burchardt: War das denn ein Schock mit Auswirkung auf länger noch oder war es nach einem Jahr dann erledigt?
Müntefering: Ja, nein ... Man hat schon, ich habe noch so ein paar Dinge gesehen und erlebt, auch wie Bomben fielen und so was, was einen nicht verlässt. Und am tiefsten war eigentlich der Hunger und das Elend, was wir gehabt haben. Und ich habe heute noch meine Probleme, wenn ich sehe, wie viel wir wegschmeißen in Deutschland. Und hatte mit meinen Kindern ab und zu Krach, wenn die ihre Butterbrote aus der Schule wieder mit zurückgebracht haben. Natürlich, wir leben im Übermaß da an der Stelle, aber das ist etwas, was man nie verliert, was sich nie verliert.
Burchardt: Einschlägige Leute wissen, der Mann kommt aus dem Sauerland – man hört es ja auch – und aus der Stadt Sundern. Sie sind sogar Ehrenbürger in dieser Stadt.
Müntefering: Ja, ja ...
Burchardt: Ich muss zugeben, ich bin noch nie in Sundern gewesen. Wie war da eigentlich das Klima als aufwachsender Schüler? Sie sind dort ja auch zur Schule gegangen von '46 bis '54, glaube ich. Wie war das? Kleinstädtisches Milieu, jeder kannte jeden?
Müntefering: Ja, dörflich, also der Kernbereich waren 10.000, 12.000 Einwohner, insgesamt eine Stadt heute von knapp 30.000. Es war eine katholische Volksschule, in die ich ging, es gab auch eine evangelische Volksschule. Der Glaubenskrieg war noch keineswegs schon ausgetragen...
Burchardt: ... gab es da Prügeleien? ...
Müntefering: ... ich will das nicht ausführen ... - Bitte?
Burchardt: Gab es da Prügeleien?
Müntefering: Na, jedenfalls eine Distanz, die uns Kindern immer komisch war. Weil, wir haben miteinander Fußball gespielt und das war nicht so leicht zu begreifen. Aber es war schon ein Unterschied, also, die dominante katholische Gruppe, die hat schon da hingeguckt. Und ich kannte von zu Hause aus nur Zentrum, also, die alte katholische konservative Partei, und die CDU, da gehörte meine Verwandtschaft, steht mal dafür, und als ich das erste Mal einen Prospekt gesehen habe mit der SPD, habe ich zu meinem Vater gesagt, was ist das denn jetzt? Da hat er gesagt, die evangelischen Flüchtlinge. – Also, falscher Glaube und aus Ostpreußen oder aus Schlesien. Es war schon eine tiefe Kluft, aber das war nicht speziell Sundern, sondern das war in der ganzen Republik so. Die Bundesrepublik Deutschland war bis in die 60er-Jahre hin ein ziemlich vermieftes und reaktionäres Land. Das ist die Wahrheit. Und das, was so als 68er-Studentenproteste kam, war viel tiefer. Wir haben Mitte der 60er-Jahre zum ersten Mal begonnen, Offenheit zu haben, Liberalität zu haben, Aufklärung. Und Willy Brandts Aufruf, mehr Demokratie wagen, den heute ja eigentlich keiner mehr versteht, weil alle sagen, wir haben ja Demokratie, war, macht die Türen auf, macht das Tor auf und jeder kann leben, so wie er seinen individuellen Lebensentwurf hat, aber wir müssen dann dabei auch Rücksicht nehmen aufeinander. Diese Offenheit war nicht da. Ich will Ihnen sagen, '65 oder kurz davor gab es einen CDU-Familienminister, der hieß Wuermeling, der sprach von der gemeinschaftszersetzenden Berufstätigkeit der Frau. Ist noch tief in den Köpfen drin, tief in den Köpfen drin, bis heute kämpfen wir noch gegen solche Sachen. Also ... Oder das erste Mal, Mitte der 60er-Jahre, das Gespräch über Holocaust, über Auschwitz, die Auschwitz-Prozesse, große Theaterstücke, die kamen, die sich damit auseinandersetzten, wo zum ersten Mal offen gesprochen wurde, was war da eigentlich und wie war das eigentlich. Das war schon eine Zeit, wo man sich rauskämpfen musste dann.
Burchardt: Haben Sie das zu Hause eigentlich noch erlebt? Ihr Vater war ja selbst Wehrmachtssoldat und es gibt ja auch ein anrührendes Foto von Ihren beiden Eltern und Sie als Knirps davor, ich glaube, Sie waren da drei Jahre alt wahrscheinlich ...
Müntefering: ... ja, ja, ja ...
Burchardt: ... – hat das noch später Auswirkung gehabt? Ihr Vater ist ja erst nach sechs Jahren Kriegsgefangenschaft nach Hause gekommen.
Müntefering: Sechseinhalb Jahre, ich habe ihn gekannt, da wurde ich fast sieben, erst kennengelernt dann natürlich. Und er hat mir zwei Sachen mitgegeben. Ich war immer ganz stolz auf ihn, weil, er hat anders als manche Onkel den Krieg nie verherrlicht, der hat das nie dargestellt als einen Ausflug von einer Männertruppe, die immer Schönes erlebt. Er hat mir zwei Dinge mitgegeben: Erstens, geh nie in eine Partei, und zweitens, nie deutsche Stiefel auf dem Balkan, nie wieder! Und das hat mich auch lange getragen, bis in die 90er-Jahre hinein. Ich war tief in der Politik schon drin, als ich immer noch dafür, dass Deutschland nicht in der Welt unterwegs ist. Und dass für mich ein Prozess war zu lernen, dass – so sehe ich es – auf der Grundlage der Menschenrechte von '48 wir auch weltweit den Anspruch haben auf Sicherung der Menschenrechte und es erlaubt ist, auch wie eine Art Weltpolizei im Verständnis der Völker unterwegs zu sein und Menschen zu retten und zu helfen. Aber zu dem Einsatz unserer Bundeswehr auf dem Balkan, da musste ich richtig mich bemühen da hinzukommen, weil ich ihn nicht vergessen hatte. Und das war nicht unehrenhaft von ihm, sondern er wollte mir einfach sagen: Nie wieder Angriff! Und das machen wir ja auch nicht.
Burchardt: Sie sind ja Fußballfan, auch aktiver Fußballer gewesen, sogar in der Bundestagsmannschaft haben Sie gespielt. Mir fällt es nur jetzt ein, weil wir die Rückkehr Ihres Vaters sprechen: Es gibt ja diesen wunderbaren Film von Sönke Wortmann, "Das Wunder von Bern". Ich denke, Sie haben damals auch genau wie unsereins '54 gestrahlt, als Deutschland Fußballweltmeister wurde. Da gibt es auch eine Szene, die einen ja sehr nachdenklich macht: Als der Vater dieses Hauptdarstellers, des Sohnes, zurück aus dem Krieg kommt und gar nicht kapiert, dass plötzlich sich die Zeiten verändert haben. War das bei Ihnen zu Hause auch noch so?
Müntefering: Na ja, also ... Der war nun im Krieg gewesen, dann in Gefangenschaft gewesen und vieles war anders, als er es vorher gesehen hatte. Meine Mutter – drei ihrer Geschwister waren in den USA inzwischen – wollte, dass wir auch auswandern. Die wollten uns auch holen, das war auch schon alles vorgeklärt. Dann hat mein Vater angefangen, ein Haus zu bauen, hat gesagt, ich bin jetzt genug in der Welt herumgereist, ich bleibe hier. Er war kein Nazi, er war kein Mitglied in dieser NSDAP, aber es wurde nicht eigentlich gesprochen, es wurde nicht aufgeklärt, es wurde nicht gelesen. Ich habe ihn nie mit einem Buch gesehen, außer mit dem Gesangsbuch sonntags. Also, das war schon eine Arbeiterfamilie, auf die ich stolz bin, die ich mochte, meine Mutter in ganz besonderer Weise. Und die haben mir unheimlich viel, unglaublich viel mitgegeben. Aber mit der Entwicklung des Landes wurden sie halt auch nicht fertig, die wussten auch nicht so genau, wie das mit der Demokratie läuft und was das sein muss. Und als ich in der Klasse vier war und der Lehrer bei uns zu Hause war, der Rektor, da wurde überlegt, ob ich jetzt auf eine weiterführende Schule gehe oder ... Haben die aber ... Ich hätte weit fahren müssen, das kostete auch noch und mein Vater wollte ein Haus bauen und dann haben die gesagt, er kann auch so ein guter Katholik werden. Ja, und dann wurde entschieden, nein, ich gehe acht Jahre Volksschule. Bin mit 14 dann, gerade 14, aus der Schule gekommen.
Burchardt: Gab es zu Hause denn ähnliche Diskussionen, wie Sie die in Bezug auf die 60er-Jahre eben kurz mal erwähnt hatten? Gab es Konflikte mit Ihren Eltern über die politische Entwicklung oder genauer gesagt über das, was damals als unbewältigte Vergangenheit so durch die Köpfe geisterte?
Müntefering: Konflikte nicht. Das kann man nicht sagen. Aber man hat sich da abgenabelt, weil, man kam da nicht weiter. Das musste man alles rausziehen. Was ist das für ein Haus, wer hat da gewohnt, ich habe gehört, da waren Juden drin? – Ja ... – Wieso sind die nicht mehr da? Wieso haben die das Haus, die das jetzt haben, was ist mit den Juden passiert und wer hat das gemacht? – So, und das war alles in hohem Maße beschwiegen und verschwiegen und nicht aggressiv, aber man wollte eigentlich nicht darüber sprechen. Das war aber im Land insgesamt so, man hat ...
Burchardt: ... in der Schule auch ...
Müntefering: ... ja, die Lehrer ... Wir sind ja übers Kaiserreich nicht hinausgekommen, weil, da hatten ja viele Probleme für das, was danach war. Und das habe ich schon gelernt, dass der Kommunismus das Schlimmste ist, was es gibt. Das war auch ... Der Kommunismus, ich will den überhaupt nicht verteidigen und rühmen, da sind unglaubliche Untaten auch geschehen, aber er war ein bisschen das Alibi um abzulenken von dem, was da gewesen war.
Burchardt: Als Feindbild.
Müntefering: Ja.
((Musikeinspielung))
Müntefering: Ich habe eine tiefe Überzeugung, dass Menschen was bewegen können.
Sprecher: Erste Berufserfahrungen, Bundeswehrzeit und Wege in die Politik.
Burchardt: Sie sind nach der Schulzeit in die Lehre gegangen, Industriekaufmann in der Metallindustrie haben Sie gelernt und sind dann ja auch gewissermaßen dort zunächst mal als Angestellter tätig gewesen. Kann man sagen, Sie sind Metaller gewesen? Was mich nämlich irritiert, ist, Sie sind erst in die SPD eingetreten und dann in die IG Metall.
Müntefering: Ja, das war ein Betrieb, ein kleiner Betrieb. Als ich da ankam '54, waren wir noch zu 20 Beschäftigten, wir waren nachher so 60 bis 80, da gab es überhaupt keine gewerkschaftlichen Organisationen in diesen Kleinbetrieben. Und ich bin in der Tat ... Ich war Messdiener, Pfarrjugendführer, ganz aus der katholischen Ecke kommend, zwischen 18 und 25 ganz viel gelesen und habe da kapiert, man muss sich engagieren, muss was tun, das ist mit dem Lesen und dem Wissen nicht gut. Und da bin ich zur SPD gegangen. '65 haben die die Bundestagswahl verloren, ich hätte beschlossen, sie sollen gewinnen, aber dann haben sie doch verloren wieder. Bin ich hingegangen und ... Ja, mit der ganzen Arroganz der Jugend dann, jetzt komme ich und ...
Burchardt: ... ein Jahr später wurde ja Erhard vom Hofe gejagt, Kiesinger kam gemeinsam mit Brandt, große Koalition ... War das für sie das Erfolgserlebnis so nach dem Motto, so, das ist für mich jetzt der Anlass, auch in die SPD einzutreten?
Müntefering: Nein ... Also, unmittelbar nach der Bundestagswahl bin ich gegangen, zur SPD gegangen, bin dann im Januar oder Februar '66 Mitglied der Partei geworden, habe auch noch einen Brief geschrieben damals gegen diese Bindung der Großen Koalition ...
Burchardt: ... die war ja auch im Herbst erst ...
Müntefering: ... weil ich sehr dagegen war ... Na ja, also, wahrscheinlich haben sie doch recht gehabt, die das gemacht haben, das will ich ja nicht bestreiten, aber ich jedenfalls, ich fand das damals nicht so gut, habe mich dann auf die Kommunalpolitik aber gestürzt und bin dann sehr schnell in die Kommunalpolitik gegangen.
Burchardt: Da Sie eben den Kommunismus erwähnt haben: In diese Zeit fällt ja unter anderem – '52, da waren Sie zwölf – die Stalinnote mit der Drohung, oder zumindest so dargestellten Drohung einer atomwaffenneutralen Zone Mitteleuropa, gleichzeitige Wiedervereinigung oder zumindest ein gesamtes Deutschland wurde abgelehnt, dann '56 der Ungarn-Aufstand, '53 natürlich auch in Ostberlin der Aufstand, '68 dann später ja auch der Prager Frühling, aber ganz wichtig natürlich '61, da waren Sie 21, der Mauerbau. Wie ist das bei Ihnen angekommen, was hat das für Sie auch in der politischen Sozialisierung bewirkt?
Müntefering: Ich war in dem Jahr bei der Bundeswehr. Ich war sehr früh der Meinung, dass - auch anders als manche Freunde ...
Burchardt: ... wehrpflichtig ...
Müntefering: ... ja, ja, als Wehrpflichtiger bei der Bundeswehr in Osterode, dann im Herbst in Osterode nahe an der Grenze, als die Mauer kam. Ich vergesse das nicht, diesen Sonntag, weil sofort Alarm war, man hat ja kein Handy gehabt, es gab nur ganz wenige Telefone in dem Bataillonsbereich ...
Burchardt: ... am 13. August 61 ...
Müntefering: ... 13. August 61, und es wurde dann unsere Dienstzeit auch verlängert von zwölf auf 15 Monate in den Wochen danach, und schon ein bisschen Bammel davor, was dann eigentlich passiert. Also, ich habe schon in der Vorstellung gelebt, dass es Konflikte geben könnte, wenn man rückwärts guckte, hat man ja gesehen in seiner Kindheit, in seiner Jugend, alle paar Jahrzehnte war in Europa, waren Konflikte da. Und ich habe das nicht so harmlos gesehen. Ich war nur der Meinung, dass man sich wehren darf. Das ist unverändert, ich bin kein Pazifist, die ganze sozialdemokratische Idee war keine pazifistische, sondern man darf sich schon wehren, das glaube ich schon, dass das so ist. Man darf den Krieg nicht anfangen, aber man darf, muss sich auch nicht unterbuttern lassen. Ja, das war '61 bei der Bundeswehr ein Erlebnis ... Damals, das war für mich so eine Phase, in der ich sehr viel gelernt habe, wo ich dann vier Jahre danach in der Politik ankam und zur Überraschung meiner Eltern und der ganzen Nachbarschaft und des Dorfes bei der SPD. Also, zu begreifen, da ist noch ganz viel jenseits der Volksschule, die ich gelernt hatte, und das Ganze kann nur gut gehen, wenn man sich einmischt, wenn man mitmacht, wenn man sich engagiert und wenn man nicht einfach nur beurteilt von draußen, sondern wenn man selbst anpackt und die Dinge verändert. Ich habe eine tiefe Überzeugung, dass Menschen was bewegen können. Und das war der Wille und das fühlte ich auch als Verantwortung, da mitzumachen.
Burchardt: Sie sind in einer konservativ-katholischen Umwelt aufgewachsen und dann in die SPD gegangen. Das passte ja irgendwie nicht zusammen, was hat Sie da sozialisiert?
Müntefering: Ja, ich weiß es nicht. Ich meine, im Nachhinein ... Meine Mutter sprach von Nächstenliebe, Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, am größten aber ist die Liebe. Und ich glaube, dass die Solidarität, von der ich spreche, nicht so ganz was anderes ist. Dass zum guten Schluss doch die Frage des Einander-Zugewandtseins bleibt. Manchmal, wenn ich es so auf die Spitze treibe, sage ich, eigentlich sind die Parteien säkularisierte Kirchen. Wir nehmen für uns nicht in Anspruch, dem Leben den letzten Sinn zu geben, das haben wir ausdrücklich auch festgestellt als Sozialdemokraten, aber wir machen uns Gedanken um die Freiheit des Einzelnen und um das Miteinander der Menschen in der Gemeinschaft. Das ist Politik, da fängt Politik an. Und insofern ist das, was Hannah Arendt da gesucht hat, dazu gesagt hat, Politik ist angewandte Liebe zum Leben, ist eigentlich das, was mich trägt. Und ich erlebe in der Politik sehr unterschiedliche Menschen, Christen und Nicht-Christen, Gläubige und Nicht-Gläubige und ich kann die überhaupt nicht unterscheiden. Weil, das ist ein Impuls, den haben die Menschen unabhängig davon, ob sie religiös sind oder nicht – nicht alle Menschen, aber viele –, dass sie wissen, wir müssen uns engagieren und helfen, dass das eine menschliche Gesellschaft ist.
Burchardt: Sie haben ganz später mal gesagt – Sie sind ja zweimal SPD-Vorsitzender gewesen, ich glaube, der Einzige in der Parteiengeschichte, der es auch in so kurzem Abstand zweimal geworden ist –, Sie haben gesagt, das ist der zweitschönste Job nach dem des Papstes. War das für Sie auch sozusagen die Assoziation zum Status Kirche und Partei?
Müntefering: Ich will mal so sagen: Da ist wahrscheinlich meine Kindheit, meine Jugend noch mal durchgebrochen, weil, der Papst war natürlich etwas ganz Wichtiges und ganz Großes. Und ich glaube, dass alle, die nicht katholisch sind, das nicht so richtig verstanden haben, aber es war sozusagen der Ausdruck, den so ein katholischer Junge da hatte. Also, Papst zu werden, wäre natürlich immer eine schöne Sache gewesen, das geht natürlich nicht, wenn man verheiratet ist, also wird man halt dann Parteivorsitzender. Ein bisschen mit Augenzwinkern.
((Musikeinspielung))
Sprecher: Heute im "Zeitzeugen"-Gespräch des Deutschlandfunks: der SPD-Politiker Franz Müntefering.
Müntefering: Darin steckt ein Hochmut und eine Arroganz, die ich nie habe teilen können, dass wir die Guten sind und die anderen die Bösen.
Sprecher: Von der Blockkonfrontation im Kalten Krieg über die neue Ostpolitik zur Wiedervereinigung.
Burchardt: Wir sind dann in den 60er-Jahren noch mal. '68 gab es den Prager Frühling, dann auch brutal wieder niedergeschlagen worden, und '69 dann die sozial-liberale Koalition mit der Einleitung der Ostpolitik. Wie passte das aus Ihrer Sicht damals, rückblickend jetzt auch, zusammen?
Müntefering: Ich habe von Anfang an geglaubt, dass das, wo Brandt für stand, aber andere auch, nämlich, dass man miteinander sprechen muss, dass man versuchen muss, die Mauer löcheriger zu machen und mit den anderen Menschen zu sprechen, dass das der einzige richtige Weg ist. Das glaube ich heute auch noch. Dass das Sich-Gegeneinander-Stellen, die zwei Welten, die da waren, Ost und West, die Guten und die Schlechten, dass das nicht stimmt, dass das so nicht stimmen kann und dass man Wege suchen muss, miteinander zu reden ... Also, diese Annäherung, die da gesucht wurde und das Sprechen miteinander, das fand ich richtig und das hat sich ja Gott sei Dank auch bewahrheitet, dass das der richtige Weg war, um die Einheit möglich zu machen wieder, aber vor allen Dingen auch die Kriegsgefahr zu bannen und zu entspannen. Ich habe vor nicht längerer Zeit noch mal eine Rede gelesen von Willy Brandt 1985, also fünf Jahre vor dem Mauerfall, wo er sprach über die Gefährdnisse von atomaren Kriegen. Das war nicht alles Spaß, das war schon manchmal an der Grenze wirklich der Katastrophe, wo wir gelaufen sind in der Welt insgesamt und ... Gut, dass das vorbei ist. Der Irrtum, der sich daraus ergab dann hinterher, war, dass wir glaubten, es sei jetzt alles in Ordnung. In den 90er-Jahren haben wir die Zeit verschlafen und haben nicht kapiert, dass dieser Kapitalismus, der übrig geblieben ist, nicht automatisch soziale Marktwirtschaft ist, sondern dass er auch zu katastrophalen Ergebnissen führen kann.
Burchardt: Spielen Sie jetzt an auf den Schriftwechsel SED-SPD damals, von Erhard Eppler ja weitgehend protegiert?
Müntefering: Einige von uns waren sehr intensiv dabei, andere weniger. Aber es war richtig, das Gespräch zu suchen und ... Keiner wusste, wie das genau geht, es hat ja keiner geahnt, dass die Stelle kommt, wo Schabowski sagte, die können jetzt alle gehen. Das war ja nicht so, als ob das ein Masterplan gewesen wäre, sondern ... Ich kann mich an diesen Abend erinnern, wo wir in Bonn da gesessen haben im Bundestag und wo wir das hörten, ich habe fast die ganze Nacht nicht geschlafen, weil, wir haben lange zusammen ... Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das so zu Ende geht, dass das unblutig war, weil, man hatte all die Sachen, die Stationen erlebt, die Sie eben angesprochen haben. Und das Normale ... Ich dachte, da muss jetzt irgendwas passieren, das kann nicht sein! Und Gott sei Dank ist nichts passiert, aber ... Insofern war das kein Plan, der zu irgendwas geführt hat dann da, aber dass wir die Gespräche geführt haben und dass man versucht hat, Kontakt zu halten, ich glaube, das war schon richtig.
Burchardt: Wenn wir diese Zeit noch mal kurz Revue passieren lassen, Anfang der 70er-Jahre, insbesondere ja Ostpolitik, dann auch der Kniefall von Willy Brandt in Warschau '71. Wir hatten da im Bundestag ja wirklich, insbesondere ja vom rechts-katholischen Flügel der Union im Wesentlichen betrieben, eine massive Widerstandsbewegung gegen diese Art der Ostpolitik. Hat das Ihren Glauben eigentlich erschüttert?
Müntefering: Das hat mich eigentlich nicht mehr dominiert da in der ganzen Zeit. Darin steckt ein Hochmut und eine Arroganz, die ich nie habe teilen können, dass wir die Guten sind und die anderen die Bösen. Weil, da hat man natürlich längst gewusst, dass auch die Kirchen in Deutschland nicht nur geglänzt haben in der Zeit des Nationalsozialismus. Da waren auch Tapfere, aber nicht nur. Und im Nachhinein waren da ganz viele, die Märtyrer gespielt haben. Also, da haben wir keinen Grund, uns da erhaben zu fühlen, darüber ganz sicher nicht.
Burchardt: Im April '72 gab es das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt, das Ergebnis ist bekannt, man weiß immer noch nicht ganz genau bis heute, wie es wirklich entstanden ist. Es heißt, die Stasi habe Stimmen gekauft, was auch immer da im Wesentlichen eine Rolle war, Herbert Wehner hat mal in einem Interview gesagt, er war in der Toilette, als das Ganze stattfand. Wie denken Sie nachträglich: Wenn dieses Misstrauensvotum anders gelaufen wäre, wäre die gesamte politische Entwicklung dann auch insbesondere im Hinblick auf die deutsche Einheit anders gelaufen?
Müntefering: Hypothetisch, aber schon eine große Gefahr, dass so was gelaufen wäre. Denn natürlich, ich habe das in Erinnerung, dass nach '69 das Ganze eskalierte. Und das Bild, wo der Willy Brandt kniet, ich glaube, das war 1970, das kann man heute in [Word unverständlich] stellen in Deutschland, das finden alle gut, damals haben die das nicht gut gefunden. Und das wurde richtig klein gehalten, das wurde nicht verbreitet, der Brandt wurde beschimpft als Vaterlandsverräter, als solcher, der als uneheliches Kind auch nicht Bundeskanzler sein würde, alles Vorwürfe, die unglaublich sind heute. Aber das lief so. Ich habe das richtig als eine große Entscheidung, Schlacht ist das falsche Wort, das will ich nicht gebrauchen, aber als eine große wichtige Entscheidung empfunden, sowohl, was Demokratie und Aufklärung anging, als auch, was das Bemühen anging, diesen unglaublichen Konflikt mit dem Kommunismus und nach Osten hin aufzuarbeiten. Es gingen damals ja Bundestagsabgeordnete von der FDP, aber auch von uns dann auf die andere Seite, es gab dann keine Mehrheit mehr und so und ... Dieses Jahr '72, wo dann zum guten Schluss die Willy-Wahl ja rauskam hinterher, das war schon ein unglaubliches. Das war natürlich auch so ein Ereignis, was einen prägt auch fürs ganze Leben: Es kann glücken! Als der Willy Brandt ging als Parteivorsitzender, hat er eine Rede gehalten, die lohnt sich, nachzulesen. Und da kommt die Passage vor: Wenn du etwas hast, was dir ganz wichtig ist und wo du überzeugt bist, es ist noch nicht populär, dann darfst du es nicht aufgeben, dann musst du es populär machen! Habe ich immer verstanden als einen Hinweis auf diese Situation. Ganz viele haben gesagt, das kannst du nicht gewinnen, das geht schief, die Verbände, wer stand alles dagegen! Die haben dann trotzdem durchgezogen und das war richtig.
((Musikeinspielung))
Sprecher: Deutschlandfunk, das "Zeitzeugen"-Gespräch. Heute mit dem SPD-Politiker Franz Müntefering.
Müntefering: Im Nachhinein ist mir ganz klargeworden, dass Helmut Schmidt recht gehabt hat.
Sprecher: Sozialdemokratischer Spitzenpolitiker auf allen Ebenen. Leistungen und Versäumnisse.
Burchardt: Herr Müntefering, wenn man Ihren Lebenslauf in den 20 Jahren, ich sage jetzt mal, von 1975 bis 1995, nimmt, dann fällt auf, dass Sie immer hin und her gewechselt haben zwischen Landespolitik und Bundespolitik, Bundestag, Sie waren auch Mitglied des Landtages, Sie waren Minister bei Johannes Rau, wir können das jetzt nicht aus Zeitgründen im Einzelnen erörtern. Was war für Sie eigentlich wichtiger und erfüllender: Ihre Funktion auch als Minister in der Landespolitik oder das, was Sie dann als Parteivorsitzender der SPD, aber auch als, zunächst hieß es Geschäftsführer, dann waren Sie Generalsekretär ... Was geht in einem da vor, wenn man so zwischen den Fronten hin und her wechselt?
Müntefering: Wenn mich, als ich jung war, wenn ich mir was hätte wünschen können, hätte ich gesagt, Oberbürgermeister. Ich war von Überzeugung Kommunalpolitiker und glaube immer noch, dass die Kommunalpolitik unterschätzt ist in der Politik und dass wir dafür sorgen müssen, dass wieder klar wird, dass Kommunalpolitik nicht das Kellergeschoss ist, sondern dass sich da eigentlich das Leben realisiert und dass wir dringend unsere Kommunen stärken müssen, von der Struktur her und auch vom Geld. Aber Oberbürgermeister im Sauerland, das ging nicht, erst einmal waren die Städte nicht so groß, außerdem konnten Sozis ja nicht gewinnen. Und ja ...
Burchardt: ... na ja, Dortmund ...
Müntefering: ... na ja, aber das war nicht Sauerland und die hätten mich da sicher auch nicht reingelassen. Jedenfalls ging das, das war bei der Willy-Wahl '72, wo ich dann versucht habe, Kandidat zu werden, aber verloren habe, dann bin ich '75 nachgerückt. Und alles, was dann kam, war eigentlich ... Ja, das hatte eine gewisse Automatik. Ich bin immer gefragt worden, bei allen Jobs, die ich dann gehabt habe, ich habe nicht gesagt, ich will das jetzt machen. Dann hat irgendwann Johannes Rau mir gesagt, 1992, ich war Geschäftsführer bei Hans-Jochen Vogel in der Fraktion, komm ins Kabinett nach Düsseldorf. Da habe ich, monatelang habe ich da mich zurückgehalten, aber dann schließlich war ich doch da und dann ...
Burchardt: Können Sie nicht Nein sagen?
Müntefering: Doch, das kann ich schon, aber den Johannes Rau habe ich ganz, ganz hoch geschätzt und der hat mich halt weich gekloppt, das konnte der ja.
Burchardt: Was sind Ihre Frustrationen aus dieser Zeit? Wo sagen Sie, hier hätten wir was anderes machen sollen oder auch machen können? Es ist ja die Zeit, in der zumindest in der Bundespolitik Helmut Kohl ja mal angetreten war '82 mit der Formel der neuen geistigen und moralischen Erneuerung ...
Müntefering: ... geistig-moralische Erneuerung, ja, ich habe das nicht vergessen, ja ...
Burchardt: Das Ergebnis ist bekannt, sagen wir mal wertneutral ...
Müntefering: ... ja, was haben wir falsch gemacht ...
Burchardt: Aber da haben Sie doch sicherlich auch gedacht, wir müssen jetzt aber voll dagegenhalten? Und die SPD war teilweise ja nicht mehr spürbar.
Müntefering: Gut, was ist falsch gelaufen? Also, ich glaube, dass ... Einmal natürlich war 1982, als die Koalition zu Ende ging mit der FDP und Schmidt abgewählt wurde, das hat man dann, dann kommt erst mal ein Einbruch, dann muss man sich wieder neu sammeln, dann muss man wieder auf die Beine kommen. In den 90er-Jahren, glaube ich, haben wir in Deutschland insgesamt geglaubt, nun seien alle Probleme gelöst, die Mauer weg und keine Atomkrieg und die Waffen runter ...
Burchardt: Aber die CDU hat davon profitiert, nicht die SPD zumindest am Anfang ...
Müntefering: ... ja, gut, wir sind da in der Zeit ... Ja, ich meine, der Kohl hat dann noch mal gewonnen, als die Einheit kam, das war ganz klar, auch weil die Menschen in Ostdeutschland ihn erlebten als denjenigen, der das vorangetrieben hat. Und viele von uns in meiner Generation in der SPD waren ja auch skeptisch, ob das alles so schnell gehen konnte ...
Burchardt: ... Oskar Lafontaine vor allem ...
Müntefering: ... ja ... Es wäre auch gut gewesen, wir hätten Artikel 146 ziehen können und eine eigene Verfassung machen für Deutschland. Aber ich glaube, dass die, die recht hatten, dass die recht hatten, die Älteren bei uns, Brandt und Vogel, aber auch Kohl, die gesagt haben, wir müssen das schnell machen, sonst wird das mit der Einheit nichts. Im Nachhinein erst habe ich dann gemerkt, wie zurückhaltend Thatcher und Mitterand und andere gewesen sind in der Zeit. Und ob das alles gekommen wäre, wenn wir den langen Weg gesucht hätten, ich weiß es nicht. Jedenfalls, in den 90er-Jahren war keine Orientierung in dem Ganzen, nicht nur bei uns nicht, auch bei denen, die regierten, nicht. Und das ist sicher etwas, an dem wir heute noch am Aufarbeiten sind.
Burchardt: Ist denn der zahlreiche Wechsel der SPD-Parteivorsitzenden auch ein äußeres Zeichen für dieses Dilemma, das Sie gerade beschrieben haben?
Müntefering: Das hätte nicht zwangsläufig so sein müssen, also, da gibt es viele Gründe dafür, dass es so eine dichte Folge da gegeben hat, aber ... Es war jedenfalls, als Willy Brandt ging und Helmut Schmidt weg war, war, Wehner auch, dann ein großer Wechsel da, dem wir Jüngeren dann nicht früh genug gerecht geworden sind.
Burchardt: Wo standen Sie eigentlich damals, als Helmut Schmidt zum NATO-Doppelbeschluss ja nun auf dem, ich glaube, es war der Essener oder der Kölner Parteitag, der Kölner Parteitag, sozusagen nur noch 13 Getreue auf seiner Seite gehabt hat? Was haben Sie da empfunden?
Müntefering: Das war für mich immer eine sehr ambivalente Sache. Es gab eine große breite Mehrheit in der Partei und ich war da auch kein Widerständler, der da tapfer gesagt hätte jetzt, Herr Schmidt hat auf jeden Fall recht. Man hat irgendwie gehofft, dass Willy Brandt, der ja auch die andere Linie vertrat, recht haben könnte, dass man das alles sanfter hinkriegen konnte. Im Nachhinein ist mir ganz klar geworden, dass Helmut Schmidt recht gehabt hat und auch recht behalten hat.
Burchardt: Haben Sie es ihm mal gesagt?
Müntefering: Ja, also, ich habe ihn dann über die Jahre auch ein bisschen näher kennengelernt und habe großen Respekt vor ihm. Ich glaube auch, dass er, was die politische Tiefe angeht, auch die politische Philosophie angeht, uns heute immer noch viel zu sagen hat. Das ist kein Zufall, dass er sich da zu Wort melden kann und alle hören hin. Schmidt ist in der Partei – das hängt aber auch zusammen mit der Art und Weise, wie er auftrat, wir Jungen haben uns ja alle an ihm gerieben, der war ja, saufrech war der ja, das war ja so ...
Burchardt: ... Schmidt-Schnauze ...
Müntefering: ... ja, ja, Schmidt-Schnauze ... Das war schon einer, der wirklich gewusst hat, um was es ging, und seine Forderung, pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken, ist für mich schon ein bisschen eine Wegmarke gewesen. Also, du musst sehr pragmatisch da rangehen, die Dinge zu lösen, aber es muss einen sittlichen Zweck geben, es muss einen guten Zweck geben, zu dem das führt. Das ist ja nicht weltfremd, sehr praktisch, aber trotzdem mit einem hohen Anspruch versehen.
Burchardt: Aber Sie waren ja auch nicht gerade pingelig im Umgang mit zum Beispiel vermeintlich abtrünnigen Genossen. Sie haben ja auch durchaus mal die Drohkeule rausgeholt, als es um den Einsatz auf dem Balkan, oder Afghanistan war das ja damals, ging und Sie sagten, also, wer hier nicht mitzieht, der kann nicht sicher sein, dass er wieder ein Mandat kriegt. Das ist natürlich nicht – weder intern, noch extern – gut angekommen.
Müntefering: Ja, das ist klar. Man ist ... Nicht mit jedem Wort, was man macht, liegt man richtig dabei, das ist schon ...
Burchardt: ... bereuen Sie das heute?
Müntefering: Ach, nein ... Also, ich finde, also, mir ist auch so vieles entgegen gehalten worden, also, da würde ich mal sagen, eins zu eins. Da bin ich nicht so pingelig dabei. Was ich aber sagen wollte, ist, dass die Partei sich auch immer überlegen muss, so, was machen unsere Abgeordneten denn, einige? Und ich glaubte und glaube auch unverändert, dass wir eine deutliche Mehrheit haben in der SPD dafür, im Rahmen des Völkerrechts eintreten zu können und, ja, auch Massenmorde und ähnliche Dinge in anderen Ländern stoppen zu helfen. Und das ist ein Anliegen, was Sozialdemokraten haben können. Insofern fühle ich mich in der Sache der ... sehr gerechtfertigt schon ...
Burchardt: Also, bezogen auf den Balkan hat Joschka Fischer da ja auch so seine Erlebnisse gehabt. Aber wenn man Einsatz deutscher Soldaten im Ausland nimmt und das Wort Ihres Vaters, niemals in Kommisstiefeln auf den Balkan, da hat sich einiges verändert?
Müntefering: Man muss immer vorsichtig sein, dass man nicht leichtfertig damit umgeht und sagt, man darf jetzt machen, was man will, was ich ein bisschen US-amerikanische ... amerikanischer Gestus immer war. Auf der anderen Seite haben wir zum ersten Mal eine Generation, die den Anspruch der Menschenrechte weltweit versucht zu realisieren. Was uns positiv unterscheidet von der Vätergeneration bei uns – und manchmal treffe ich noch ganz alte, auch in unserer Partei –, die sagen, nein, das ist ein anderes Land, das geht uns nichts an. Und die beziehen sich auf nationales Recht und sagen, ja, das müssen die machen. Dann schlagen die sich halt die Köpfe ein, das können wir nicht ändern. – Das sehe ich nicht mehr so und das sehen die nicht mehr so ...
Burchardt: ... Sehen Sie das so wie Peter Struck es seinerzeit sagte: Wir verteidigen unsere Sicherheit am Hindukusch ...
Müntefering: ... gut, das war ein plastisches Wort, aber im Prinzip hat er recht gehabt. Aber ich sehe es darüber hinaus, es geht nicht nur darum, unsere Sicherheit zu verteidigen, sondern die Menschenrechte weltweit möglich zu machen. Und ich begrüße sehr, dass es internationale Gerichtsbarkeit gibt und dass man heute so weit ist – das gab es ja in der Geschichte der Menschheit auch noch nie –, dass Diktatoren als Verbrecher, die politisches Mandat hatten, aufgegriffen und verurteilt werden können. Es gibt so etwas wie eine internationale informelle Fraktion der Gutwilligen und dazu zähle ich außer der manchen in der Politik auch große NGOs oder auch die Kirchen, die unter der Maßgabe der Menschenrechte weltweit unterwegs sind und versuchen: Das muss die Messlatte sein, in der man das alles orientieren kann. Denn es gibt keine Weltregierung, es gibt keine Weltpolizei. Und ich glaube, dass in einer so kommunikationsintensiven Welt, wie wir sind, wo wir alles voneinander wissen, dass wir nicht einfach sagen können, das geht uns nichts an, sondern man muss sich da reinschmeißen.
Burchardt: Trotzdem jetzt noch mal zurück zur Innenpolitik: Seit 1998 gab es die Regierung Schröder, Sie waren auch eine der wichtigsten Persönlichkeiten in dieser Regierung, in der Partei auch, in der SPD, abgesehen davon, dass Sie da auch Vorsitzender waren. Und damit verbindet sich ein Datum, das ja bis heute ambivalent interpretiert wird, nämlich die Agenda 2010. Es heißt bisweilen auch unter Kollegen, na ja, das haben Münte und Schröder irgendwann abends im stillen Kämmerlein unter sich ausgemacht und dann auf den Weg gegeben – Hartz IV. Darunter leiden heute Zigtausende in dieser Republik, zumindest subjektiv sehen sie es so und objektiv stimmt es teilweise ja auch. Wie denken Sie heute selbst über die Agenda nach? Ist das die Erfolgsgeschichte aus sozialdemokratischer Sicht oder war das ein Sündenfall?
Müntefering: Nein, das war richtig. Es hat einzelne Akzente gegeben, die man besser hätte machen können handwerklich, aber das Ganze ist entstanden nach der Bundestagswahl 2002 ...
Burchardt: ... es war März 2003, ja ...
Müntefering: ... leere Kassen, wachsende Arbeitslosigkeit, große Probleme vor uns, und dann am 14. März 2003 die Agenda, die ja viel breiter war als Arbeitsmarktreform. Da waren zum Beispiel auch energetische Gebäudesanierung drin, ich will sagen, Maßnahmen für Arbeitsplätze, das Land muss umstrukturiert werden. Da steckte viel mehr drin als ...
Burchardt: ... es hieß ja fordern und fördern ...
Müntefering: ... und das ist auch richtig und das bleibt auch richtig. Was haben wir gemacht: Bei Arbeitslosengeld II, bei Hartz IV, wir haben etwa 800.000, 900.000 Menschen, die Sozialhilfeempfänger waren und die abgeschrieben waren und die nicht als Arbeitslose zählten, sondern die aussortiert waren, die haben wir reingenommen. Ob das taktisch klug war ... Wenn mir einer sagt, ja, das war vielleicht einer der Gründe dafür, dass – fünf Millionen Menschen arbeitslos gezählt - dann wir in Nordrhein-Westfalen eine Wahl verloren haben am, es war, glaube ich, am 22. Mai des Jahres, dann sage ich, ja, das kann sein, dass wir dazu beigetragen haben, und es war vielleicht alles nicht ganz klug, aber in der Sache war es richtig, keinen Menschen aufzugeben, sondern zu sagen, auch die, die nicht so gut können, müssen eine Chance haben, ins Erwerbsleben hineinzukommen. Die Hälfte davon ist auch wieder integriert worden. Nicht alle, aber im Prinzip war das richtig. Nun kann man streiten über die Strukturen, wie viel Geld kriegen die und so. Das ist alles eine andere Frage. Die Strukturentscheidung, die wir getroffen haben, das war richtig und dazu stehe ich sehr.
Burchardt: Noch mal zu dem, was man die Entstehungsgeschichte nennt: Ist es denn richtig, dass das wirklich im kleinsten Kreise ausgedacht worden ist, dass man weder die Partei, noch die Öffentlichkeit genügend – wie es immer so schön heißt – mitgenommen hat?
Müntefering: Ja, gut, ich meine ... Es war die Frage ... Ich war dann Fraktionsvorsitzender 2002 und da hatten viele ihren Anteil dran, da hat es viele Gespräche gegeben mit Wissenschaftlern, da hat das Kanzleramt dran gearbeitet, wir haben das dann noch mal ein bisschen verschoben ... Das war, Anfang Februar war das schon mal ziemlich so weit, dass man es gehabt hätte, verschoben bis dahin ... Es war dann nötig es zu tun, weil wir ohne das gar nicht weitergekommen wären. Und ich glaube, dass das ein wirklicher Befreiungsschlag gewesen ist für die Politik in Deutschland insgesamt, nämlich das Setzen auf Wachstum und Zukunftsfähigkeit, Forschung und Technologie, groß unterstrichen worden dabei, und eben Klärung auch am Arbeitsmarkt, das war unser Wille. Und das gelingt nicht in jedem Details, aber in der Linie richtig.
((Musikeinspielung))
Müntefering: Dieser Finanzkapitalismus, der muss gebremst werden.
Sprecher: Die Heuschreckenwarnung, Generationenfragen und Blick in die Zukunft.
Burchardt: Herr Müntefering, wenn wir jetzt einen Blick in die ummittelbare Gegenwart wagen: Mit Ihrem Namen verbindet sich ja eine Formel, die nämlich von der Heuschreckenplage, um es mal so zu formulieren. Sie haben den Begriff der Heuschrecken geprägt im Hinblick auf Hegdefonds, auf das, was im Grunde genommen ja, ja, man kann ja sagen, die finanzielle Ausbeutung der Finanzmärkte, und zwar der internationalen, ist und worunter die Regierung nicht nur in Europa ja bis heute leidet. Fühlen Sie sich nach wie vor bestätigt und glauben Sie, dass man politisch da anders gegenhalten müsste, als es bisher geschieht?
Müntefering: Ja, ich ... Es war damals vom ... Ich bin ja kein Finanzexperte, ich habe das unter demokratiepolitischen Gesichtspunkten gesagt und ein bisschen bedauere ich im Nachhinein, dass ich das nicht lauter gemacht habe. Ich hatte schon das richtige Gefühl, aber dann waren viele andere Dinge da und dann haben viele auch wieder versucht, mich zu beruhigen. Aber ich hatte sehr recht und das gilt unverändert so, da sehe ich eine der größten Gefahren, dass in dieser Zeit ... Wir denken nationalstaatlich, aber in Wirklichkeit ist das Geld international unterwegs und versucht, die Politik in die Enge zu treiben. Die Politik hat es nicht hingekriegt, den Primat der Politik bundesweit, europaweit, weltweit so durchzusetzen, dass sie das Geld unter Kontrolle haben. Und das muss sein, Geld hat eine dienende Funktion, nichts anderes. Und da sind längst inzwischen Leute unterwegs an vielen Stellen, denen ist das überhaupt piepegal, ob Leute arbeitslos werden, ob die arm werden, ob Länder kaputtgehen, ob ganze Staaten in die Knie gehen. Und das ist eine richtige Herausforderung, dieser Finanzkapitalismus, der muss gebremst werden. Und ich hatte damals eine richtige Intention, habe aber nicht laut genug geschrien, ja.
Burchardt: Wenn man Ihnen so zuhört, dann klingt es so, als sei das eine Bewerbungsrede für ein neues Bundestagsmandat. Haben Sie damit schon abgeschlossen oder wie sieht Ihre mittelbare Zukunft aus ...
Müntefering: ... das habe ich gelernt, dass man das vernünftigerweise nicht macht. Also, ich bin jetzt im Bundestag, wenn zu normaler Zeit gewählt wird, dann ist das 2013, und rechtzeitig davor werde ich dann auch wissen und sagen, was ich eigentlich meine. Ich sage das nicht des Alters wegen, sondern ich glaube, dass eine gute Mischung von Alter da ganz ordentlich ist. Ich habe nicht recht, weil ich 72 bin, habe aber auch nicht unrecht, weil ich 72 bin. Und das gilt bei den 30-Jährigen umgekehrt auch. Meine Lebenserfahrung ist, dass man am Alter ganz schlecht sehen kann, ob einer recht hat oder nicht und was er kann und was er nicht kann.
Burchardt: Also, die Formel von der Rente mit 67 ...
Müntefering: ... richtig ...
Burchardt: ... kommt ja auch von Ihnen, Sie erwähnen jetzt die Zahl 72, irgendwo gab es auch schon mal Vorschläge, Rente mit 70. Wie sehen Sie denn das?
Müntefering: Nein, also das mit 67 ...
Burchardt: ... die Partei ist ja auch sehr gespalten ...
Müntefering: ... ja, ja, klar ... Ja, das bedauere ich sehr, also, ich finde, man muss da viel offensiver mit umgehen. Denn wir leben länger und die 66-Jährigen heute sind mindestens so fit wie die 64-Jährigen vor 50 Jahren. Da kann keiner dran vorbeireden. Aber wir müssen vor allen Dingen stärker individualisieren, wir müssen eine größere Flexibilität da reinkriegen. Da will ich auch gerne mithelfen dabei. Aber keine Illusion, das kann nicht nach Beliebigkeit sein. Wenn der Sozialstaat funktionieren soll an der Stelle, dann muss auch klar sein, dass die Menschen sich anstrengen müssen und dass man nicht rausgehen kann, wenn man gerade Lust hat, sondern dass man auch verantwortlich ist für das Ganze und sein Können und seine Erfahrung auch einbringen muss.
Burchardt: Herr Müntefering, Sie haben ja sehr von Willy Brandt geschwärmt, wer tut es nicht aus der Sozialdemokratie. Ich habe irgendwo gefunden, Ihr großes Vorbild sei Charlie Chaplin. Stimmt das und warum?
Müntefering: Vorbild nicht, aber ich mag den unglaublich, ja. Das ist aber von klein auf und jenseits von Politik. Also, Charlie Chaplin, ich habe geraden noch wieder zum Geburtstag eine Biografie über ihn geschenkt bekommen und lese die natürlich wieder gerne. Ja, der Chaplin ist ein Melancholiker, ein heiterer Mann, aber auch einer, der auch seine Tiefe hat und seine Dimension hat. Ich habe die alten Filme von dem auch immer mal wieder gern gesehen. Das ist eine Figur ... Meist hängt auch irgendwie ein Bild von dem in meinen Zimmern rum, dabei habe ich ihn ...
Burchardt: ... Charlie Chaplin hat ja im Alter mehr als 80 noch ein Kind gezeugt. Peter Ustinov hat mal gesagt, dazu war er noch fähig, aber er konnte das Baby nicht mehr in den Arm nehmen. Sie haben noch eine sehr junge Frau geheiratet, Sie wirken sehr glücklich. Ist da bei Ihnen noch "irgendetwas", in Anführungsstrichen, zu erwarten?
Müntefering: Das wäre nun, sagen wir, was sehr Persönliches und darauf will ich mich auch nicht einlassen. Aber ich glaube nicht, dass man daran erkennt, ob eine Beziehung glücklich ist, ja oder nein.
Franz Müntefering: Ich wünsche ihm, dass er da rauskommt, dass er den richtigen Weg findet und dass er für sich und das Land das Richtige tut.
Sprecher: Aktuelle Anmerkungen zur Präsidentenkrise.
Rainer Burchardt: Herr Müntefering, eigentlich sind Sie ja für dieses Gespräch als Person interessant, aber insofern auch natürlich, als zu der einen oder anderen Entwicklung Ihre Meinung nicht ganz unwichtig ist: Was treibt Sie eigentlich um, wenn Sie, angesichts der augenblicklichen Vorkommnisse um das Schloss Bellevue im Allgemeinen und Herrn Wulff im Besonderen?
Müntefering: Ja, ich habe mich da so weit wie möglich zurückgehalten in Äußerungen und glaube, da wird schon genug darüber geredet, will aber doch sagen: Ich habe natürlich bei der Bundesversammlung den Bundespräsidenten Wulff nicht gewählt, wir hatten einen eigenen guten Kandidaten. Über das, was dann gelaufen ist in den letzten Wochen, war ich enttäuscht, denn man wünscht sich doch, dass dann an der Spitze des Landes es so läuft, dass die Menschen Vertrauen haben können und dass es gut läuft. Und einiges von dem, was passierte, hat mich auch entsetzt. Und das ist auch noch nicht weg und ich hoffe, dass es da bei dem Bundespräsidenten ein Einsehen gibt.
Burchardt: Es gibt ja zwei Ebenen in dem Zusammenhang: Die erste Ebene ist das, was so teilweise auch sehr kleinteilig ihm vorgeworfen wird, auf der anderen Seite das sogenannte Krisenmanagement, was ja nun wirklich katastrophal ist. Hätten Sie aus Ihrer Erfahrung andere Vorschläge gebracht, wenn man Sie gefragt hätte?
Müntefering: Ich war nicht in einer Position, wo man mich hätte fragen müssen, und das will ich auch nicht im Einzelnen bewerten. Aber in der Tat, wenn ich gesagt habe, ein bisschen auch Entsetzen, das bezieht sich auf das Krisenmanagement, auf die Tatsache, dass ein Bundespräsident anruft und auf Box spricht und dem Gegenüber jedes Wort in die Hand gibt und ... Also, das ist schon ein Grad von Unbeherrschtheit und von Dilettantismus, der bedrückend ist und ... Ich wünsche ihm, dass er da rauskommt, dass er den richtigen Weg findet und dass er für sich und das Land das Richtige tut.
Sprecher: Deutschlandfunk, das "Zeitzeugen"-Gespräch. Heute mit dem SPD-Politiker Franz Müntefering.
Müntefering: Die Bundesrepublik Deutschland war bis in die 60er-Jahre hin ein ziemlich vermieftes und reaktionäres Land. Das ist die Wahrheit.
Sprecher: Herkunft aus dem Sauerland und die frühe Nachkriegszeit der Bonner Republik.
Burchardt: Es gibt nicht wenige Beobachter gerade auf der politischen Bühne, die sagen, das sei das typische Verhalten von Leuten, die eigentlich in kleinen Verhältnissen aufgewachsen sind und jetzt irgendwo ganz oben angekommen sind und dann vielleicht auch ein wenig Realitätsverlust haben. Sie selbst sind ja auch aus relativ kleinen Verhältnissen stammend, Ihr Vater war Angestellter in der Landwirtschaft, Ihre Mutter war Hausfrau. Haben Sie selber jemals das Gefühl gehabt, ich muss jetzt mehr als meine Eltern bringen und da ist es mir auch ganz egal, wie ich da hinkomme?
Müntefering: Also, ich mag ehrlich gesagt diese Begrifflichkeit der einfachen Leute und der kleinen Leute überhaupt nicht. Für mich sind alle auf gleicher Augenhöhe und ich fühle mich da nicht unten, ich fühle mich nicht klein. Und ich habe auch schon Journalisten angemacht, die meine Eltern als einfache Leute bezeichnet haben, weil, ich fand die nicht einfach, ich fand die wirklich in Ordnung und ... Aber wenn Sie danach fragen, ob es da so ein Aufholbedürfnis gibt von Menschen, die das anders sehen, die unten und oben sehen und die sich dann oben fühlen, weiß ich nicht, kann ich nicht sagen. Mich hat es jedenfalls nie berührt und ich glaube auch nicht, dass das so ist. Ich habe Menschen in sehr unterschiedlichen Situationen kennengelernt aus unterschiedlichen Lagern der Bevölkerung, und ich glaube nicht, dass die Tatsache, dass einer sich hoch arbeitet in Jobs, dass er anerkannt wird, dass er Funktionen bekommt, dass er das irgendwie kompensatorisch macht, sondern das sehe ich ganz und gar anders.
Burchardt: Sie sind Jahrgang 1940, den Krieg, denke ich, haben Sie nicht mehr bewusst miterlebt ...
Müntefering: ... die letzte Zeit noch, ich habe schon noch ein paar Dinge erlebt, also ... Ich hatte Angst vor Flugzeugen, weil man gelernt hat als Kind, wenn man in den Kindergarten ging, man musste sofort in die Büsche sich schlagen. Und als dann der Krieg vorbei war und die Flugzeuge kamen, habe ich das immer noch getan und das gab dann erst mal Gelächter. Ich habe einige Monate gebraucht, vielleicht ein Jahr, ehe ich geglaubt habe, dass Flugzeuge nicht mehr gefährlich sind.
Burchardt: War das denn ein Schock mit Auswirkung auf länger noch oder war es nach einem Jahr dann erledigt?
Müntefering: Ja, nein ... Man hat schon, ich habe noch so ein paar Dinge gesehen und erlebt, auch wie Bomben fielen und so was, was einen nicht verlässt. Und am tiefsten war eigentlich der Hunger und das Elend, was wir gehabt haben. Und ich habe heute noch meine Probleme, wenn ich sehe, wie viel wir wegschmeißen in Deutschland. Und hatte mit meinen Kindern ab und zu Krach, wenn die ihre Butterbrote aus der Schule wieder mit zurückgebracht haben. Natürlich, wir leben im Übermaß da an der Stelle, aber das ist etwas, was man nie verliert, was sich nie verliert.
Burchardt: Einschlägige Leute wissen, der Mann kommt aus dem Sauerland – man hört es ja auch – und aus der Stadt Sundern. Sie sind sogar Ehrenbürger in dieser Stadt.
Müntefering: Ja, ja ...
Burchardt: Ich muss zugeben, ich bin noch nie in Sundern gewesen. Wie war da eigentlich das Klima als aufwachsender Schüler? Sie sind dort ja auch zur Schule gegangen von '46 bis '54, glaube ich. Wie war das? Kleinstädtisches Milieu, jeder kannte jeden?
Müntefering: Ja, dörflich, also der Kernbereich waren 10.000, 12.000 Einwohner, insgesamt eine Stadt heute von knapp 30.000. Es war eine katholische Volksschule, in die ich ging, es gab auch eine evangelische Volksschule. Der Glaubenskrieg war noch keineswegs schon ausgetragen...
Burchardt: ... gab es da Prügeleien? ...
Müntefering: ... ich will das nicht ausführen ... - Bitte?
Burchardt: Gab es da Prügeleien?
Müntefering: Na, jedenfalls eine Distanz, die uns Kindern immer komisch war. Weil, wir haben miteinander Fußball gespielt und das war nicht so leicht zu begreifen. Aber es war schon ein Unterschied, also, die dominante katholische Gruppe, die hat schon da hingeguckt. Und ich kannte von zu Hause aus nur Zentrum, also, die alte katholische konservative Partei, und die CDU, da gehörte meine Verwandtschaft, steht mal dafür, und als ich das erste Mal einen Prospekt gesehen habe mit der SPD, habe ich zu meinem Vater gesagt, was ist das denn jetzt? Da hat er gesagt, die evangelischen Flüchtlinge. – Also, falscher Glaube und aus Ostpreußen oder aus Schlesien. Es war schon eine tiefe Kluft, aber das war nicht speziell Sundern, sondern das war in der ganzen Republik so. Die Bundesrepublik Deutschland war bis in die 60er-Jahre hin ein ziemlich vermieftes und reaktionäres Land. Das ist die Wahrheit. Und das, was so als 68er-Studentenproteste kam, war viel tiefer. Wir haben Mitte der 60er-Jahre zum ersten Mal begonnen, Offenheit zu haben, Liberalität zu haben, Aufklärung. Und Willy Brandts Aufruf, mehr Demokratie wagen, den heute ja eigentlich keiner mehr versteht, weil alle sagen, wir haben ja Demokratie, war, macht die Türen auf, macht das Tor auf und jeder kann leben, so wie er seinen individuellen Lebensentwurf hat, aber wir müssen dann dabei auch Rücksicht nehmen aufeinander. Diese Offenheit war nicht da. Ich will Ihnen sagen, '65 oder kurz davor gab es einen CDU-Familienminister, der hieß Wuermeling, der sprach von der gemeinschaftszersetzenden Berufstätigkeit der Frau. Ist noch tief in den Köpfen drin, tief in den Köpfen drin, bis heute kämpfen wir noch gegen solche Sachen. Also ... Oder das erste Mal, Mitte der 60er-Jahre, das Gespräch über Holocaust, über Auschwitz, die Auschwitz-Prozesse, große Theaterstücke, die kamen, die sich damit auseinandersetzten, wo zum ersten Mal offen gesprochen wurde, was war da eigentlich und wie war das eigentlich. Das war schon eine Zeit, wo man sich rauskämpfen musste dann.
Burchardt: Haben Sie das zu Hause eigentlich noch erlebt? Ihr Vater war ja selbst Wehrmachtssoldat und es gibt ja auch ein anrührendes Foto von Ihren beiden Eltern und Sie als Knirps davor, ich glaube, Sie waren da drei Jahre alt wahrscheinlich ...
Müntefering: ... ja, ja, ja ...
Burchardt: ... – hat das noch später Auswirkung gehabt? Ihr Vater ist ja erst nach sechs Jahren Kriegsgefangenschaft nach Hause gekommen.
Müntefering: Sechseinhalb Jahre, ich habe ihn gekannt, da wurde ich fast sieben, erst kennengelernt dann natürlich. Und er hat mir zwei Sachen mitgegeben. Ich war immer ganz stolz auf ihn, weil, er hat anders als manche Onkel den Krieg nie verherrlicht, der hat das nie dargestellt als einen Ausflug von einer Männertruppe, die immer Schönes erlebt. Er hat mir zwei Dinge mitgegeben: Erstens, geh nie in eine Partei, und zweitens, nie deutsche Stiefel auf dem Balkan, nie wieder! Und das hat mich auch lange getragen, bis in die 90er-Jahre hinein. Ich war tief in der Politik schon drin, als ich immer noch dafür, dass Deutschland nicht in der Welt unterwegs ist. Und dass für mich ein Prozess war zu lernen, dass – so sehe ich es – auf der Grundlage der Menschenrechte von '48 wir auch weltweit den Anspruch haben auf Sicherung der Menschenrechte und es erlaubt ist, auch wie eine Art Weltpolizei im Verständnis der Völker unterwegs zu sein und Menschen zu retten und zu helfen. Aber zu dem Einsatz unserer Bundeswehr auf dem Balkan, da musste ich richtig mich bemühen da hinzukommen, weil ich ihn nicht vergessen hatte. Und das war nicht unehrenhaft von ihm, sondern er wollte mir einfach sagen: Nie wieder Angriff! Und das machen wir ja auch nicht.
Burchardt: Sie sind ja Fußballfan, auch aktiver Fußballer gewesen, sogar in der Bundestagsmannschaft haben Sie gespielt. Mir fällt es nur jetzt ein, weil wir die Rückkehr Ihres Vaters sprechen: Es gibt ja diesen wunderbaren Film von Sönke Wortmann, "Das Wunder von Bern". Ich denke, Sie haben damals auch genau wie unsereins '54 gestrahlt, als Deutschland Fußballweltmeister wurde. Da gibt es auch eine Szene, die einen ja sehr nachdenklich macht: Als der Vater dieses Hauptdarstellers, des Sohnes, zurück aus dem Krieg kommt und gar nicht kapiert, dass plötzlich sich die Zeiten verändert haben. War das bei Ihnen zu Hause auch noch so?
Müntefering: Na ja, also ... Der war nun im Krieg gewesen, dann in Gefangenschaft gewesen und vieles war anders, als er es vorher gesehen hatte. Meine Mutter – drei ihrer Geschwister waren in den USA inzwischen – wollte, dass wir auch auswandern. Die wollten uns auch holen, das war auch schon alles vorgeklärt. Dann hat mein Vater angefangen, ein Haus zu bauen, hat gesagt, ich bin jetzt genug in der Welt herumgereist, ich bleibe hier. Er war kein Nazi, er war kein Mitglied in dieser NSDAP, aber es wurde nicht eigentlich gesprochen, es wurde nicht aufgeklärt, es wurde nicht gelesen. Ich habe ihn nie mit einem Buch gesehen, außer mit dem Gesangsbuch sonntags. Also, das war schon eine Arbeiterfamilie, auf die ich stolz bin, die ich mochte, meine Mutter in ganz besonderer Weise. Und die haben mir unheimlich viel, unglaublich viel mitgegeben. Aber mit der Entwicklung des Landes wurden sie halt auch nicht fertig, die wussten auch nicht so genau, wie das mit der Demokratie läuft und was das sein muss. Und als ich in der Klasse vier war und der Lehrer bei uns zu Hause war, der Rektor, da wurde überlegt, ob ich jetzt auf eine weiterführende Schule gehe oder ... Haben die aber ... Ich hätte weit fahren müssen, das kostete auch noch und mein Vater wollte ein Haus bauen und dann haben die gesagt, er kann auch so ein guter Katholik werden. Ja, und dann wurde entschieden, nein, ich gehe acht Jahre Volksschule. Bin mit 14 dann, gerade 14, aus der Schule gekommen.
Burchardt: Gab es zu Hause denn ähnliche Diskussionen, wie Sie die in Bezug auf die 60er-Jahre eben kurz mal erwähnt hatten? Gab es Konflikte mit Ihren Eltern über die politische Entwicklung oder genauer gesagt über das, was damals als unbewältigte Vergangenheit so durch die Köpfe geisterte?
Müntefering: Konflikte nicht. Das kann man nicht sagen. Aber man hat sich da abgenabelt, weil, man kam da nicht weiter. Das musste man alles rausziehen. Was ist das für ein Haus, wer hat da gewohnt, ich habe gehört, da waren Juden drin? – Ja ... – Wieso sind die nicht mehr da? Wieso haben die das Haus, die das jetzt haben, was ist mit den Juden passiert und wer hat das gemacht? – So, und das war alles in hohem Maße beschwiegen und verschwiegen und nicht aggressiv, aber man wollte eigentlich nicht darüber sprechen. Das war aber im Land insgesamt so, man hat ...
Burchardt: ... in der Schule auch ...
Müntefering: ... ja, die Lehrer ... Wir sind ja übers Kaiserreich nicht hinausgekommen, weil, da hatten ja viele Probleme für das, was danach war. Und das habe ich schon gelernt, dass der Kommunismus das Schlimmste ist, was es gibt. Das war auch ... Der Kommunismus, ich will den überhaupt nicht verteidigen und rühmen, da sind unglaubliche Untaten auch geschehen, aber er war ein bisschen das Alibi um abzulenken von dem, was da gewesen war.
Burchardt: Als Feindbild.
Müntefering: Ja.
((Musikeinspielung))
Müntefering: Ich habe eine tiefe Überzeugung, dass Menschen was bewegen können.
Sprecher: Erste Berufserfahrungen, Bundeswehrzeit und Wege in die Politik.
Burchardt: Sie sind nach der Schulzeit in die Lehre gegangen, Industriekaufmann in der Metallindustrie haben Sie gelernt und sind dann ja auch gewissermaßen dort zunächst mal als Angestellter tätig gewesen. Kann man sagen, Sie sind Metaller gewesen? Was mich nämlich irritiert, ist, Sie sind erst in die SPD eingetreten und dann in die IG Metall.
Müntefering: Ja, das war ein Betrieb, ein kleiner Betrieb. Als ich da ankam '54, waren wir noch zu 20 Beschäftigten, wir waren nachher so 60 bis 80, da gab es überhaupt keine gewerkschaftlichen Organisationen in diesen Kleinbetrieben. Und ich bin in der Tat ... Ich war Messdiener, Pfarrjugendführer, ganz aus der katholischen Ecke kommend, zwischen 18 und 25 ganz viel gelesen und habe da kapiert, man muss sich engagieren, muss was tun, das ist mit dem Lesen und dem Wissen nicht gut. Und da bin ich zur SPD gegangen. '65 haben die die Bundestagswahl verloren, ich hätte beschlossen, sie sollen gewinnen, aber dann haben sie doch verloren wieder. Bin ich hingegangen und ... Ja, mit der ganzen Arroganz der Jugend dann, jetzt komme ich und ...
Burchardt: ... ein Jahr später wurde ja Erhard vom Hofe gejagt, Kiesinger kam gemeinsam mit Brandt, große Koalition ... War das für sie das Erfolgserlebnis so nach dem Motto, so, das ist für mich jetzt der Anlass, auch in die SPD einzutreten?
Müntefering: Nein ... Also, unmittelbar nach der Bundestagswahl bin ich gegangen, zur SPD gegangen, bin dann im Januar oder Februar '66 Mitglied der Partei geworden, habe auch noch einen Brief geschrieben damals gegen diese Bindung der Großen Koalition ...
Burchardt: ... die war ja auch im Herbst erst ...
Müntefering: ... weil ich sehr dagegen war ... Na ja, also, wahrscheinlich haben sie doch recht gehabt, die das gemacht haben, das will ich ja nicht bestreiten, aber ich jedenfalls, ich fand das damals nicht so gut, habe mich dann auf die Kommunalpolitik aber gestürzt und bin dann sehr schnell in die Kommunalpolitik gegangen.
Burchardt: Da Sie eben den Kommunismus erwähnt haben: In diese Zeit fällt ja unter anderem – '52, da waren Sie zwölf – die Stalinnote mit der Drohung, oder zumindest so dargestellten Drohung einer atomwaffenneutralen Zone Mitteleuropa, gleichzeitige Wiedervereinigung oder zumindest ein gesamtes Deutschland wurde abgelehnt, dann '56 der Ungarn-Aufstand, '53 natürlich auch in Ostberlin der Aufstand, '68 dann später ja auch der Prager Frühling, aber ganz wichtig natürlich '61, da waren Sie 21, der Mauerbau. Wie ist das bei Ihnen angekommen, was hat das für Sie auch in der politischen Sozialisierung bewirkt?
Müntefering: Ich war in dem Jahr bei der Bundeswehr. Ich war sehr früh der Meinung, dass - auch anders als manche Freunde ...
Burchardt: ... wehrpflichtig ...
Müntefering: ... ja, ja, als Wehrpflichtiger bei der Bundeswehr in Osterode, dann im Herbst in Osterode nahe an der Grenze, als die Mauer kam. Ich vergesse das nicht, diesen Sonntag, weil sofort Alarm war, man hat ja kein Handy gehabt, es gab nur ganz wenige Telefone in dem Bataillonsbereich ...
Burchardt: ... am 13. August 61 ...
Müntefering: ... 13. August 61, und es wurde dann unsere Dienstzeit auch verlängert von zwölf auf 15 Monate in den Wochen danach, und schon ein bisschen Bammel davor, was dann eigentlich passiert. Also, ich habe schon in der Vorstellung gelebt, dass es Konflikte geben könnte, wenn man rückwärts guckte, hat man ja gesehen in seiner Kindheit, in seiner Jugend, alle paar Jahrzehnte war in Europa, waren Konflikte da. Und ich habe das nicht so harmlos gesehen. Ich war nur der Meinung, dass man sich wehren darf. Das ist unverändert, ich bin kein Pazifist, die ganze sozialdemokratische Idee war keine pazifistische, sondern man darf sich schon wehren, das glaube ich schon, dass das so ist. Man darf den Krieg nicht anfangen, aber man darf, muss sich auch nicht unterbuttern lassen. Ja, das war '61 bei der Bundeswehr ein Erlebnis ... Damals, das war für mich so eine Phase, in der ich sehr viel gelernt habe, wo ich dann vier Jahre danach in der Politik ankam und zur Überraschung meiner Eltern und der ganzen Nachbarschaft und des Dorfes bei der SPD. Also, zu begreifen, da ist noch ganz viel jenseits der Volksschule, die ich gelernt hatte, und das Ganze kann nur gut gehen, wenn man sich einmischt, wenn man mitmacht, wenn man sich engagiert und wenn man nicht einfach nur beurteilt von draußen, sondern wenn man selbst anpackt und die Dinge verändert. Ich habe eine tiefe Überzeugung, dass Menschen was bewegen können. Und das war der Wille und das fühlte ich auch als Verantwortung, da mitzumachen.
Burchardt: Sie sind in einer konservativ-katholischen Umwelt aufgewachsen und dann in die SPD gegangen. Das passte ja irgendwie nicht zusammen, was hat Sie da sozialisiert?
Müntefering: Ja, ich weiß es nicht. Ich meine, im Nachhinein ... Meine Mutter sprach von Nächstenliebe, Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, am größten aber ist die Liebe. Und ich glaube, dass die Solidarität, von der ich spreche, nicht so ganz was anderes ist. Dass zum guten Schluss doch die Frage des Einander-Zugewandtseins bleibt. Manchmal, wenn ich es so auf die Spitze treibe, sage ich, eigentlich sind die Parteien säkularisierte Kirchen. Wir nehmen für uns nicht in Anspruch, dem Leben den letzten Sinn zu geben, das haben wir ausdrücklich auch festgestellt als Sozialdemokraten, aber wir machen uns Gedanken um die Freiheit des Einzelnen und um das Miteinander der Menschen in der Gemeinschaft. Das ist Politik, da fängt Politik an. Und insofern ist das, was Hannah Arendt da gesucht hat, dazu gesagt hat, Politik ist angewandte Liebe zum Leben, ist eigentlich das, was mich trägt. Und ich erlebe in der Politik sehr unterschiedliche Menschen, Christen und Nicht-Christen, Gläubige und Nicht-Gläubige und ich kann die überhaupt nicht unterscheiden. Weil, das ist ein Impuls, den haben die Menschen unabhängig davon, ob sie religiös sind oder nicht – nicht alle Menschen, aber viele –, dass sie wissen, wir müssen uns engagieren und helfen, dass das eine menschliche Gesellschaft ist.
Burchardt: Sie haben ganz später mal gesagt – Sie sind ja zweimal SPD-Vorsitzender gewesen, ich glaube, der Einzige in der Parteiengeschichte, der es auch in so kurzem Abstand zweimal geworden ist –, Sie haben gesagt, das ist der zweitschönste Job nach dem des Papstes. War das für Sie auch sozusagen die Assoziation zum Status Kirche und Partei?
Müntefering: Ich will mal so sagen: Da ist wahrscheinlich meine Kindheit, meine Jugend noch mal durchgebrochen, weil, der Papst war natürlich etwas ganz Wichtiges und ganz Großes. Und ich glaube, dass alle, die nicht katholisch sind, das nicht so richtig verstanden haben, aber es war sozusagen der Ausdruck, den so ein katholischer Junge da hatte. Also, Papst zu werden, wäre natürlich immer eine schöne Sache gewesen, das geht natürlich nicht, wenn man verheiratet ist, also wird man halt dann Parteivorsitzender. Ein bisschen mit Augenzwinkern.
((Musikeinspielung))
Sprecher: Heute im "Zeitzeugen"-Gespräch des Deutschlandfunks: der SPD-Politiker Franz Müntefering.
Müntefering: Darin steckt ein Hochmut und eine Arroganz, die ich nie habe teilen können, dass wir die Guten sind und die anderen die Bösen.
Sprecher: Von der Blockkonfrontation im Kalten Krieg über die neue Ostpolitik zur Wiedervereinigung.
Burchardt: Wir sind dann in den 60er-Jahren noch mal. '68 gab es den Prager Frühling, dann auch brutal wieder niedergeschlagen worden, und '69 dann die sozial-liberale Koalition mit der Einleitung der Ostpolitik. Wie passte das aus Ihrer Sicht damals, rückblickend jetzt auch, zusammen?
Müntefering: Ich habe von Anfang an geglaubt, dass das, wo Brandt für stand, aber andere auch, nämlich, dass man miteinander sprechen muss, dass man versuchen muss, die Mauer löcheriger zu machen und mit den anderen Menschen zu sprechen, dass das der einzige richtige Weg ist. Das glaube ich heute auch noch. Dass das Sich-Gegeneinander-Stellen, die zwei Welten, die da waren, Ost und West, die Guten und die Schlechten, dass das nicht stimmt, dass das so nicht stimmen kann und dass man Wege suchen muss, miteinander zu reden ... Also, diese Annäherung, die da gesucht wurde und das Sprechen miteinander, das fand ich richtig und das hat sich ja Gott sei Dank auch bewahrheitet, dass das der richtige Weg war, um die Einheit möglich zu machen wieder, aber vor allen Dingen auch die Kriegsgefahr zu bannen und zu entspannen. Ich habe vor nicht längerer Zeit noch mal eine Rede gelesen von Willy Brandt 1985, also fünf Jahre vor dem Mauerfall, wo er sprach über die Gefährdnisse von atomaren Kriegen. Das war nicht alles Spaß, das war schon manchmal an der Grenze wirklich der Katastrophe, wo wir gelaufen sind in der Welt insgesamt und ... Gut, dass das vorbei ist. Der Irrtum, der sich daraus ergab dann hinterher, war, dass wir glaubten, es sei jetzt alles in Ordnung. In den 90er-Jahren haben wir die Zeit verschlafen und haben nicht kapiert, dass dieser Kapitalismus, der übrig geblieben ist, nicht automatisch soziale Marktwirtschaft ist, sondern dass er auch zu katastrophalen Ergebnissen führen kann.
Burchardt: Spielen Sie jetzt an auf den Schriftwechsel SED-SPD damals, von Erhard Eppler ja weitgehend protegiert?
Müntefering: Einige von uns waren sehr intensiv dabei, andere weniger. Aber es war richtig, das Gespräch zu suchen und ... Keiner wusste, wie das genau geht, es hat ja keiner geahnt, dass die Stelle kommt, wo Schabowski sagte, die können jetzt alle gehen. Das war ja nicht so, als ob das ein Masterplan gewesen wäre, sondern ... Ich kann mich an diesen Abend erinnern, wo wir in Bonn da gesessen haben im Bundestag und wo wir das hörten, ich habe fast die ganze Nacht nicht geschlafen, weil, wir haben lange zusammen ... Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das so zu Ende geht, dass das unblutig war, weil, man hatte all die Sachen, die Stationen erlebt, die Sie eben angesprochen haben. Und das Normale ... Ich dachte, da muss jetzt irgendwas passieren, das kann nicht sein! Und Gott sei Dank ist nichts passiert, aber ... Insofern war das kein Plan, der zu irgendwas geführt hat dann da, aber dass wir die Gespräche geführt haben und dass man versucht hat, Kontakt zu halten, ich glaube, das war schon richtig.
Burchardt: Wenn wir diese Zeit noch mal kurz Revue passieren lassen, Anfang der 70er-Jahre, insbesondere ja Ostpolitik, dann auch der Kniefall von Willy Brandt in Warschau '71. Wir hatten da im Bundestag ja wirklich, insbesondere ja vom rechts-katholischen Flügel der Union im Wesentlichen betrieben, eine massive Widerstandsbewegung gegen diese Art der Ostpolitik. Hat das Ihren Glauben eigentlich erschüttert?
Müntefering: Das hat mich eigentlich nicht mehr dominiert da in der ganzen Zeit. Darin steckt ein Hochmut und eine Arroganz, die ich nie habe teilen können, dass wir die Guten sind und die anderen die Bösen. Weil, da hat man natürlich längst gewusst, dass auch die Kirchen in Deutschland nicht nur geglänzt haben in der Zeit des Nationalsozialismus. Da waren auch Tapfere, aber nicht nur. Und im Nachhinein waren da ganz viele, die Märtyrer gespielt haben. Also, da haben wir keinen Grund, uns da erhaben zu fühlen, darüber ganz sicher nicht.
Burchardt: Im April '72 gab es das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt, das Ergebnis ist bekannt, man weiß immer noch nicht ganz genau bis heute, wie es wirklich entstanden ist. Es heißt, die Stasi habe Stimmen gekauft, was auch immer da im Wesentlichen eine Rolle war, Herbert Wehner hat mal in einem Interview gesagt, er war in der Toilette, als das Ganze stattfand. Wie denken Sie nachträglich: Wenn dieses Misstrauensvotum anders gelaufen wäre, wäre die gesamte politische Entwicklung dann auch insbesondere im Hinblick auf die deutsche Einheit anders gelaufen?
Müntefering: Hypothetisch, aber schon eine große Gefahr, dass so was gelaufen wäre. Denn natürlich, ich habe das in Erinnerung, dass nach '69 das Ganze eskalierte. Und das Bild, wo der Willy Brandt kniet, ich glaube, das war 1970, das kann man heute in [Word unverständlich] stellen in Deutschland, das finden alle gut, damals haben die das nicht gut gefunden. Und das wurde richtig klein gehalten, das wurde nicht verbreitet, der Brandt wurde beschimpft als Vaterlandsverräter, als solcher, der als uneheliches Kind auch nicht Bundeskanzler sein würde, alles Vorwürfe, die unglaublich sind heute. Aber das lief so. Ich habe das richtig als eine große Entscheidung, Schlacht ist das falsche Wort, das will ich nicht gebrauchen, aber als eine große wichtige Entscheidung empfunden, sowohl, was Demokratie und Aufklärung anging, als auch, was das Bemühen anging, diesen unglaublichen Konflikt mit dem Kommunismus und nach Osten hin aufzuarbeiten. Es gingen damals ja Bundestagsabgeordnete von der FDP, aber auch von uns dann auf die andere Seite, es gab dann keine Mehrheit mehr und so und ... Dieses Jahr '72, wo dann zum guten Schluss die Willy-Wahl ja rauskam hinterher, das war schon ein unglaubliches. Das war natürlich auch so ein Ereignis, was einen prägt auch fürs ganze Leben: Es kann glücken! Als der Willy Brandt ging als Parteivorsitzender, hat er eine Rede gehalten, die lohnt sich, nachzulesen. Und da kommt die Passage vor: Wenn du etwas hast, was dir ganz wichtig ist und wo du überzeugt bist, es ist noch nicht populär, dann darfst du es nicht aufgeben, dann musst du es populär machen! Habe ich immer verstanden als einen Hinweis auf diese Situation. Ganz viele haben gesagt, das kannst du nicht gewinnen, das geht schief, die Verbände, wer stand alles dagegen! Die haben dann trotzdem durchgezogen und das war richtig.
((Musikeinspielung))
Sprecher: Deutschlandfunk, das "Zeitzeugen"-Gespräch. Heute mit dem SPD-Politiker Franz Müntefering.
Müntefering: Im Nachhinein ist mir ganz klargeworden, dass Helmut Schmidt recht gehabt hat.
Sprecher: Sozialdemokratischer Spitzenpolitiker auf allen Ebenen. Leistungen und Versäumnisse.
Burchardt: Herr Müntefering, wenn man Ihren Lebenslauf in den 20 Jahren, ich sage jetzt mal, von 1975 bis 1995, nimmt, dann fällt auf, dass Sie immer hin und her gewechselt haben zwischen Landespolitik und Bundespolitik, Bundestag, Sie waren auch Mitglied des Landtages, Sie waren Minister bei Johannes Rau, wir können das jetzt nicht aus Zeitgründen im Einzelnen erörtern. Was war für Sie eigentlich wichtiger und erfüllender: Ihre Funktion auch als Minister in der Landespolitik oder das, was Sie dann als Parteivorsitzender der SPD, aber auch als, zunächst hieß es Geschäftsführer, dann waren Sie Generalsekretär ... Was geht in einem da vor, wenn man so zwischen den Fronten hin und her wechselt?
Müntefering: Wenn mich, als ich jung war, wenn ich mir was hätte wünschen können, hätte ich gesagt, Oberbürgermeister. Ich war von Überzeugung Kommunalpolitiker und glaube immer noch, dass die Kommunalpolitik unterschätzt ist in der Politik und dass wir dafür sorgen müssen, dass wieder klar wird, dass Kommunalpolitik nicht das Kellergeschoss ist, sondern dass sich da eigentlich das Leben realisiert und dass wir dringend unsere Kommunen stärken müssen, von der Struktur her und auch vom Geld. Aber Oberbürgermeister im Sauerland, das ging nicht, erst einmal waren die Städte nicht so groß, außerdem konnten Sozis ja nicht gewinnen. Und ja ...
Burchardt: ... na ja, Dortmund ...
Müntefering: ... na ja, aber das war nicht Sauerland und die hätten mich da sicher auch nicht reingelassen. Jedenfalls ging das, das war bei der Willy-Wahl '72, wo ich dann versucht habe, Kandidat zu werden, aber verloren habe, dann bin ich '75 nachgerückt. Und alles, was dann kam, war eigentlich ... Ja, das hatte eine gewisse Automatik. Ich bin immer gefragt worden, bei allen Jobs, die ich dann gehabt habe, ich habe nicht gesagt, ich will das jetzt machen. Dann hat irgendwann Johannes Rau mir gesagt, 1992, ich war Geschäftsführer bei Hans-Jochen Vogel in der Fraktion, komm ins Kabinett nach Düsseldorf. Da habe ich, monatelang habe ich da mich zurückgehalten, aber dann schließlich war ich doch da und dann ...
Burchardt: Können Sie nicht Nein sagen?
Müntefering: Doch, das kann ich schon, aber den Johannes Rau habe ich ganz, ganz hoch geschätzt und der hat mich halt weich gekloppt, das konnte der ja.
Burchardt: Was sind Ihre Frustrationen aus dieser Zeit? Wo sagen Sie, hier hätten wir was anderes machen sollen oder auch machen können? Es ist ja die Zeit, in der zumindest in der Bundespolitik Helmut Kohl ja mal angetreten war '82 mit der Formel der neuen geistigen und moralischen Erneuerung ...
Müntefering: ... geistig-moralische Erneuerung, ja, ich habe das nicht vergessen, ja ...
Burchardt: Das Ergebnis ist bekannt, sagen wir mal wertneutral ...
Müntefering: ... ja, was haben wir falsch gemacht ...
Burchardt: Aber da haben Sie doch sicherlich auch gedacht, wir müssen jetzt aber voll dagegenhalten? Und die SPD war teilweise ja nicht mehr spürbar.
Müntefering: Gut, was ist falsch gelaufen? Also, ich glaube, dass ... Einmal natürlich war 1982, als die Koalition zu Ende ging mit der FDP und Schmidt abgewählt wurde, das hat man dann, dann kommt erst mal ein Einbruch, dann muss man sich wieder neu sammeln, dann muss man wieder auf die Beine kommen. In den 90er-Jahren, glaube ich, haben wir in Deutschland insgesamt geglaubt, nun seien alle Probleme gelöst, die Mauer weg und keine Atomkrieg und die Waffen runter ...
Burchardt: Aber die CDU hat davon profitiert, nicht die SPD zumindest am Anfang ...
Müntefering: ... ja, gut, wir sind da in der Zeit ... Ja, ich meine, der Kohl hat dann noch mal gewonnen, als die Einheit kam, das war ganz klar, auch weil die Menschen in Ostdeutschland ihn erlebten als denjenigen, der das vorangetrieben hat. Und viele von uns in meiner Generation in der SPD waren ja auch skeptisch, ob das alles so schnell gehen konnte ...
Burchardt: ... Oskar Lafontaine vor allem ...
Müntefering: ... ja ... Es wäre auch gut gewesen, wir hätten Artikel 146 ziehen können und eine eigene Verfassung machen für Deutschland. Aber ich glaube, dass die, die recht hatten, dass die recht hatten, die Älteren bei uns, Brandt und Vogel, aber auch Kohl, die gesagt haben, wir müssen das schnell machen, sonst wird das mit der Einheit nichts. Im Nachhinein erst habe ich dann gemerkt, wie zurückhaltend Thatcher und Mitterand und andere gewesen sind in der Zeit. Und ob das alles gekommen wäre, wenn wir den langen Weg gesucht hätten, ich weiß es nicht. Jedenfalls, in den 90er-Jahren war keine Orientierung in dem Ganzen, nicht nur bei uns nicht, auch bei denen, die regierten, nicht. Und das ist sicher etwas, an dem wir heute noch am Aufarbeiten sind.
Burchardt: Ist denn der zahlreiche Wechsel der SPD-Parteivorsitzenden auch ein äußeres Zeichen für dieses Dilemma, das Sie gerade beschrieben haben?
Müntefering: Das hätte nicht zwangsläufig so sein müssen, also, da gibt es viele Gründe dafür, dass es so eine dichte Folge da gegeben hat, aber ... Es war jedenfalls, als Willy Brandt ging und Helmut Schmidt weg war, war, Wehner auch, dann ein großer Wechsel da, dem wir Jüngeren dann nicht früh genug gerecht geworden sind.
Burchardt: Wo standen Sie eigentlich damals, als Helmut Schmidt zum NATO-Doppelbeschluss ja nun auf dem, ich glaube, es war der Essener oder der Kölner Parteitag, der Kölner Parteitag, sozusagen nur noch 13 Getreue auf seiner Seite gehabt hat? Was haben Sie da empfunden?
Müntefering: Das war für mich immer eine sehr ambivalente Sache. Es gab eine große breite Mehrheit in der Partei und ich war da auch kein Widerständler, der da tapfer gesagt hätte jetzt, Herr Schmidt hat auf jeden Fall recht. Man hat irgendwie gehofft, dass Willy Brandt, der ja auch die andere Linie vertrat, recht haben könnte, dass man das alles sanfter hinkriegen konnte. Im Nachhinein ist mir ganz klar geworden, dass Helmut Schmidt recht gehabt hat und auch recht behalten hat.
Burchardt: Haben Sie es ihm mal gesagt?
Müntefering: Ja, also, ich habe ihn dann über die Jahre auch ein bisschen näher kennengelernt und habe großen Respekt vor ihm. Ich glaube auch, dass er, was die politische Tiefe angeht, auch die politische Philosophie angeht, uns heute immer noch viel zu sagen hat. Das ist kein Zufall, dass er sich da zu Wort melden kann und alle hören hin. Schmidt ist in der Partei – das hängt aber auch zusammen mit der Art und Weise, wie er auftrat, wir Jungen haben uns ja alle an ihm gerieben, der war ja, saufrech war der ja, das war ja so ...
Burchardt: ... Schmidt-Schnauze ...
Müntefering: ... ja, ja, Schmidt-Schnauze ... Das war schon einer, der wirklich gewusst hat, um was es ging, und seine Forderung, pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken, ist für mich schon ein bisschen eine Wegmarke gewesen. Also, du musst sehr pragmatisch da rangehen, die Dinge zu lösen, aber es muss einen sittlichen Zweck geben, es muss einen guten Zweck geben, zu dem das führt. Das ist ja nicht weltfremd, sehr praktisch, aber trotzdem mit einem hohen Anspruch versehen.
Burchardt: Aber Sie waren ja auch nicht gerade pingelig im Umgang mit zum Beispiel vermeintlich abtrünnigen Genossen. Sie haben ja auch durchaus mal die Drohkeule rausgeholt, als es um den Einsatz auf dem Balkan, oder Afghanistan war das ja damals, ging und Sie sagten, also, wer hier nicht mitzieht, der kann nicht sicher sein, dass er wieder ein Mandat kriegt. Das ist natürlich nicht – weder intern, noch extern – gut angekommen.
Müntefering: Ja, das ist klar. Man ist ... Nicht mit jedem Wort, was man macht, liegt man richtig dabei, das ist schon ...
Burchardt: ... bereuen Sie das heute?
Müntefering: Ach, nein ... Also, ich finde, also, mir ist auch so vieles entgegen gehalten worden, also, da würde ich mal sagen, eins zu eins. Da bin ich nicht so pingelig dabei. Was ich aber sagen wollte, ist, dass die Partei sich auch immer überlegen muss, so, was machen unsere Abgeordneten denn, einige? Und ich glaubte und glaube auch unverändert, dass wir eine deutliche Mehrheit haben in der SPD dafür, im Rahmen des Völkerrechts eintreten zu können und, ja, auch Massenmorde und ähnliche Dinge in anderen Ländern stoppen zu helfen. Und das ist ein Anliegen, was Sozialdemokraten haben können. Insofern fühle ich mich in der Sache der ... sehr gerechtfertigt schon ...
Burchardt: Also, bezogen auf den Balkan hat Joschka Fischer da ja auch so seine Erlebnisse gehabt. Aber wenn man Einsatz deutscher Soldaten im Ausland nimmt und das Wort Ihres Vaters, niemals in Kommisstiefeln auf den Balkan, da hat sich einiges verändert?
Müntefering: Man muss immer vorsichtig sein, dass man nicht leichtfertig damit umgeht und sagt, man darf jetzt machen, was man will, was ich ein bisschen US-amerikanische ... amerikanischer Gestus immer war. Auf der anderen Seite haben wir zum ersten Mal eine Generation, die den Anspruch der Menschenrechte weltweit versucht zu realisieren. Was uns positiv unterscheidet von der Vätergeneration bei uns – und manchmal treffe ich noch ganz alte, auch in unserer Partei –, die sagen, nein, das ist ein anderes Land, das geht uns nichts an. Und die beziehen sich auf nationales Recht und sagen, ja, das müssen die machen. Dann schlagen die sich halt die Köpfe ein, das können wir nicht ändern. – Das sehe ich nicht mehr so und das sehen die nicht mehr so ...
Burchardt: ... Sehen Sie das so wie Peter Struck es seinerzeit sagte: Wir verteidigen unsere Sicherheit am Hindukusch ...
Müntefering: ... gut, das war ein plastisches Wort, aber im Prinzip hat er recht gehabt. Aber ich sehe es darüber hinaus, es geht nicht nur darum, unsere Sicherheit zu verteidigen, sondern die Menschenrechte weltweit möglich zu machen. Und ich begrüße sehr, dass es internationale Gerichtsbarkeit gibt und dass man heute so weit ist – das gab es ja in der Geschichte der Menschheit auch noch nie –, dass Diktatoren als Verbrecher, die politisches Mandat hatten, aufgegriffen und verurteilt werden können. Es gibt so etwas wie eine internationale informelle Fraktion der Gutwilligen und dazu zähle ich außer der manchen in der Politik auch große NGOs oder auch die Kirchen, die unter der Maßgabe der Menschenrechte weltweit unterwegs sind und versuchen: Das muss die Messlatte sein, in der man das alles orientieren kann. Denn es gibt keine Weltregierung, es gibt keine Weltpolizei. Und ich glaube, dass in einer so kommunikationsintensiven Welt, wie wir sind, wo wir alles voneinander wissen, dass wir nicht einfach sagen können, das geht uns nichts an, sondern man muss sich da reinschmeißen.
Burchardt: Trotzdem jetzt noch mal zurück zur Innenpolitik: Seit 1998 gab es die Regierung Schröder, Sie waren auch eine der wichtigsten Persönlichkeiten in dieser Regierung, in der Partei auch, in der SPD, abgesehen davon, dass Sie da auch Vorsitzender waren. Und damit verbindet sich ein Datum, das ja bis heute ambivalent interpretiert wird, nämlich die Agenda 2010. Es heißt bisweilen auch unter Kollegen, na ja, das haben Münte und Schröder irgendwann abends im stillen Kämmerlein unter sich ausgemacht und dann auf den Weg gegeben – Hartz IV. Darunter leiden heute Zigtausende in dieser Republik, zumindest subjektiv sehen sie es so und objektiv stimmt es teilweise ja auch. Wie denken Sie heute selbst über die Agenda nach? Ist das die Erfolgsgeschichte aus sozialdemokratischer Sicht oder war das ein Sündenfall?
Müntefering: Nein, das war richtig. Es hat einzelne Akzente gegeben, die man besser hätte machen können handwerklich, aber das Ganze ist entstanden nach der Bundestagswahl 2002 ...
Burchardt: ... es war März 2003, ja ...
Müntefering: ... leere Kassen, wachsende Arbeitslosigkeit, große Probleme vor uns, und dann am 14. März 2003 die Agenda, die ja viel breiter war als Arbeitsmarktreform. Da waren zum Beispiel auch energetische Gebäudesanierung drin, ich will sagen, Maßnahmen für Arbeitsplätze, das Land muss umstrukturiert werden. Da steckte viel mehr drin als ...
Burchardt: ... es hieß ja fordern und fördern ...
Müntefering: ... und das ist auch richtig und das bleibt auch richtig. Was haben wir gemacht: Bei Arbeitslosengeld II, bei Hartz IV, wir haben etwa 800.000, 900.000 Menschen, die Sozialhilfeempfänger waren und die abgeschrieben waren und die nicht als Arbeitslose zählten, sondern die aussortiert waren, die haben wir reingenommen. Ob das taktisch klug war ... Wenn mir einer sagt, ja, das war vielleicht einer der Gründe dafür, dass – fünf Millionen Menschen arbeitslos gezählt - dann wir in Nordrhein-Westfalen eine Wahl verloren haben am, es war, glaube ich, am 22. Mai des Jahres, dann sage ich, ja, das kann sein, dass wir dazu beigetragen haben, und es war vielleicht alles nicht ganz klug, aber in der Sache war es richtig, keinen Menschen aufzugeben, sondern zu sagen, auch die, die nicht so gut können, müssen eine Chance haben, ins Erwerbsleben hineinzukommen. Die Hälfte davon ist auch wieder integriert worden. Nicht alle, aber im Prinzip war das richtig. Nun kann man streiten über die Strukturen, wie viel Geld kriegen die und so. Das ist alles eine andere Frage. Die Strukturentscheidung, die wir getroffen haben, das war richtig und dazu stehe ich sehr.
Burchardt: Noch mal zu dem, was man die Entstehungsgeschichte nennt: Ist es denn richtig, dass das wirklich im kleinsten Kreise ausgedacht worden ist, dass man weder die Partei, noch die Öffentlichkeit genügend – wie es immer so schön heißt – mitgenommen hat?
Müntefering: Ja, gut, ich meine ... Es war die Frage ... Ich war dann Fraktionsvorsitzender 2002 und da hatten viele ihren Anteil dran, da hat es viele Gespräche gegeben mit Wissenschaftlern, da hat das Kanzleramt dran gearbeitet, wir haben das dann noch mal ein bisschen verschoben ... Das war, Anfang Februar war das schon mal ziemlich so weit, dass man es gehabt hätte, verschoben bis dahin ... Es war dann nötig es zu tun, weil wir ohne das gar nicht weitergekommen wären. Und ich glaube, dass das ein wirklicher Befreiungsschlag gewesen ist für die Politik in Deutschland insgesamt, nämlich das Setzen auf Wachstum und Zukunftsfähigkeit, Forschung und Technologie, groß unterstrichen worden dabei, und eben Klärung auch am Arbeitsmarkt, das war unser Wille. Und das gelingt nicht in jedem Details, aber in der Linie richtig.
((Musikeinspielung))
Müntefering: Dieser Finanzkapitalismus, der muss gebremst werden.
Sprecher: Die Heuschreckenwarnung, Generationenfragen und Blick in die Zukunft.
Burchardt: Herr Müntefering, wenn wir jetzt einen Blick in die ummittelbare Gegenwart wagen: Mit Ihrem Namen verbindet sich ja eine Formel, die nämlich von der Heuschreckenplage, um es mal so zu formulieren. Sie haben den Begriff der Heuschrecken geprägt im Hinblick auf Hegdefonds, auf das, was im Grunde genommen ja, ja, man kann ja sagen, die finanzielle Ausbeutung der Finanzmärkte, und zwar der internationalen, ist und worunter die Regierung nicht nur in Europa ja bis heute leidet. Fühlen Sie sich nach wie vor bestätigt und glauben Sie, dass man politisch da anders gegenhalten müsste, als es bisher geschieht?
Müntefering: Ja, ich ... Es war damals vom ... Ich bin ja kein Finanzexperte, ich habe das unter demokratiepolitischen Gesichtspunkten gesagt und ein bisschen bedauere ich im Nachhinein, dass ich das nicht lauter gemacht habe. Ich hatte schon das richtige Gefühl, aber dann waren viele andere Dinge da und dann haben viele auch wieder versucht, mich zu beruhigen. Aber ich hatte sehr recht und das gilt unverändert so, da sehe ich eine der größten Gefahren, dass in dieser Zeit ... Wir denken nationalstaatlich, aber in Wirklichkeit ist das Geld international unterwegs und versucht, die Politik in die Enge zu treiben. Die Politik hat es nicht hingekriegt, den Primat der Politik bundesweit, europaweit, weltweit so durchzusetzen, dass sie das Geld unter Kontrolle haben. Und das muss sein, Geld hat eine dienende Funktion, nichts anderes. Und da sind längst inzwischen Leute unterwegs an vielen Stellen, denen ist das überhaupt piepegal, ob Leute arbeitslos werden, ob die arm werden, ob Länder kaputtgehen, ob ganze Staaten in die Knie gehen. Und das ist eine richtige Herausforderung, dieser Finanzkapitalismus, der muss gebremst werden. Und ich hatte damals eine richtige Intention, habe aber nicht laut genug geschrien, ja.
Burchardt: Wenn man Ihnen so zuhört, dann klingt es so, als sei das eine Bewerbungsrede für ein neues Bundestagsmandat. Haben Sie damit schon abgeschlossen oder wie sieht Ihre mittelbare Zukunft aus ...
Müntefering: ... das habe ich gelernt, dass man das vernünftigerweise nicht macht. Also, ich bin jetzt im Bundestag, wenn zu normaler Zeit gewählt wird, dann ist das 2013, und rechtzeitig davor werde ich dann auch wissen und sagen, was ich eigentlich meine. Ich sage das nicht des Alters wegen, sondern ich glaube, dass eine gute Mischung von Alter da ganz ordentlich ist. Ich habe nicht recht, weil ich 72 bin, habe aber auch nicht unrecht, weil ich 72 bin. Und das gilt bei den 30-Jährigen umgekehrt auch. Meine Lebenserfahrung ist, dass man am Alter ganz schlecht sehen kann, ob einer recht hat oder nicht und was er kann und was er nicht kann.
Burchardt: Also, die Formel von der Rente mit 67 ...
Müntefering: ... richtig ...
Burchardt: ... kommt ja auch von Ihnen, Sie erwähnen jetzt die Zahl 72, irgendwo gab es auch schon mal Vorschläge, Rente mit 70. Wie sehen Sie denn das?
Müntefering: Nein, also das mit 67 ...
Burchardt: ... die Partei ist ja auch sehr gespalten ...
Müntefering: ... ja, ja, klar ... Ja, das bedauere ich sehr, also, ich finde, man muss da viel offensiver mit umgehen. Denn wir leben länger und die 66-Jährigen heute sind mindestens so fit wie die 64-Jährigen vor 50 Jahren. Da kann keiner dran vorbeireden. Aber wir müssen vor allen Dingen stärker individualisieren, wir müssen eine größere Flexibilität da reinkriegen. Da will ich auch gerne mithelfen dabei. Aber keine Illusion, das kann nicht nach Beliebigkeit sein. Wenn der Sozialstaat funktionieren soll an der Stelle, dann muss auch klar sein, dass die Menschen sich anstrengen müssen und dass man nicht rausgehen kann, wenn man gerade Lust hat, sondern dass man auch verantwortlich ist für das Ganze und sein Können und seine Erfahrung auch einbringen muss.
Burchardt: Herr Müntefering, Sie haben ja sehr von Willy Brandt geschwärmt, wer tut es nicht aus der Sozialdemokratie. Ich habe irgendwo gefunden, Ihr großes Vorbild sei Charlie Chaplin. Stimmt das und warum?
Müntefering: Vorbild nicht, aber ich mag den unglaublich, ja. Das ist aber von klein auf und jenseits von Politik. Also, Charlie Chaplin, ich habe geraden noch wieder zum Geburtstag eine Biografie über ihn geschenkt bekommen und lese die natürlich wieder gerne. Ja, der Chaplin ist ein Melancholiker, ein heiterer Mann, aber auch einer, der auch seine Tiefe hat und seine Dimension hat. Ich habe die alten Filme von dem auch immer mal wieder gern gesehen. Das ist eine Figur ... Meist hängt auch irgendwie ein Bild von dem in meinen Zimmern rum, dabei habe ich ihn ...
Burchardt: ... Charlie Chaplin hat ja im Alter mehr als 80 noch ein Kind gezeugt. Peter Ustinov hat mal gesagt, dazu war er noch fähig, aber er konnte das Baby nicht mehr in den Arm nehmen. Sie haben noch eine sehr junge Frau geheiratet, Sie wirken sehr glücklich. Ist da bei Ihnen noch "irgendetwas", in Anführungsstrichen, zu erwarten?
Müntefering: Das wäre nun, sagen wir, was sehr Persönliches und darauf will ich mich auch nicht einlassen. Aber ich glaube nicht, dass man daran erkennt, ob eine Beziehung glücklich ist, ja oder nein.