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Ideale und Kriege

Die Geschichte beginnt harmlos. An einem Abend im Oktober 1998 setzt sich die polnische Journalistin Joanna Olczak-Ronikier auf die Spuren ihres Ururgroßvaters, eines Wiener Oberrabbiners. Sie beginnt eine Suche, die sich über Jahre hinziehen und die sie selbst verändern wird. Eine Suche nach den Lebenslinien ihrer weit verzweigten Familie durch eineinhalb Jahrhunderte.

Von Mechthild Müser | 04.01.2007
    " In einem der Filme von Carlos Saura gibt es eine ergreifende Szene, in der die erwachsene Heldin durch einen Türspalt ins Speisezimmer ihrer Kindheit schaut. Um den Tisch versammelt ist ihre gesamte Familie: die lange verstorbenen Eltern und sie selber als kleines Mädchen. ... Ich versuche ein schwierigeres Kunststück als das Überschreiten der Schwelle zur eigenen Kindheit; ich möchte die Tür einen Spalt öffnen, die vor mehr als einem Jahrhundert in die Wohnung meiner Urgroßmutter, Julia Horwitzowa, führte. "

    Das Ergebnis ist spannend. Denn zu dieser jüdischen Familie gehören Verleger und Gelehrte, Kaufleute, Anwälte, Ärzte, Schriftsteller, Lehrer, Berufsrevolutionäre und Bankdirektoren. Männer und Frauen, die aktiv am gesellschaftlichen Geschehen teilnehmen, die ganz bewusst die ihnen zugedachten Rollen abstreifen, die sich begeistern lassen und neue Identitäten suchen. Sie leben in politischen Umbruchzeiten, bevorzugt in europäischen Großstädten wie Warschau, Wien, Paris, Amsterdam, Berlin, Moskau, Zürich, Krakau. Sie sind persönlich mit Lenin und Sigmund Freud bekannt, Picasso und die Pariser Bohème empfangen sie bei sich zu Hause. In ihren Biografien spiegelt sich das soziale und politische Leben einer Zeit voll hehrer Ideale und blutiger Kriege.

    Die Autorin zitiert aus Tagebüchern, Briefen, Memoiren, politischen Botschaften und Behördendokumenten, sie präsentiert Fotos, und manchmal fühlt sie sich nicht wohl dabei.

    " Vielleicht habe ich deshalb Gewissensbisse, weil ich sorgfältig verborgene Empfindungen meiner Nächsten ans Licht zerre. Als wäre ich in eine fremde, abgeschlossene Schublade eingebrochen. Dabei versuche ich nur mich der Wahrheit anzunähern. Die Wahrheit aber setzt sich, sofern es um Menschen geht, aus Licht und Schatten zusammen. "

    Joanna Olczak-Ronikier zeichnet ein differenziertes Bild ihrer Protagonisten. Ihre Aufmerksamkeit gilt besonders den inneren Antrieben und Leidenschaften, die ihre Verwandten diesen oder jenen Weg einschlagen ließen. Für ihr Buch "Im Garten der Erinnerung" wertet die Autorin alles aus, was Umzüge, Fluchten und die Flammen des Warschauer Aufstands überdauerte. Und sie spricht mit denen, die sie noch befragen kann. Ihr Urgroßvater Gustaw, ein jüdischer Philosoph, zählt nicht dazu. Er verstarb bereits 1882 in Warschau nach einer Operation auf dem mit einem Laken abgedeckten Küchentisch.
    Sein früher Tod ändert die Geschicke der Familie drastisch. Denn die hinterbliebene Witwe, Julia, eine reiche Kaufmannstochter, mit der er neun Kinder hat, streift die jüdische Tradition ab wie eine alte Haut. Statt jiddisch spricht die Familie von jetzt an nur noch polnisch, religiöse Rituale geraten in Vergessenheit. Die neue Devise heißt: vertraue auf deine eigene Kraft. Aber die Versuche, sich zu assimilieren, nützen wenig.

    " Der Ehrgeiz schrie, dass Lebensleistungen eine Notwendigkeit seien. Das Minderwertigkeitsgefühl, der Abstammung geschuldet, flüsterte, dass man im Land seiner Geburt stets ein Fremdling bleiben werde, was immer man auch leiste. Der Stolz befahl dagegen anzukämpfen und sich einen würdigen Platz in der Gesellschaft zu suchen. "

    Die nächste Generation radikalisiert sich. Zwar heiraten einige Töchter von Julia und Gustaw äußerst begüterte Ehemänner, u.a. einen gewissen Monsieur Citroen, und ziehen ins Ausland, aber die meisten bleiben. Und engagieren sich politisch. Manche streiten für ein von Russland unabhängiges Polen, andere kämpfen für die proletarische Revolution und die Internationale. So spielt das Leben der Familie zwischen Extremen: die einen wandern wegen politischer Untergrundarbeit immer wieder ins Gefängnis, die anderen vergnügen sich bei Kuraufenthalten in mondänen Bäderstädten. Doch wie verschieden die Lebensentwürfe auch aussehen, man hält Kontakt zueinander.

    Die Großmutter der Autorin, Janina, heiratet den sozialistischen Verleger und Kunstliebhaber Jakub Mortkowicz. Er ist besessen davon, die Literatur Polens auf Ausstellungen und internationalen Buchmessen bekannt zu machen.

    " Er wirkte wie eine Gestalt aus einer romantischen Tragödie. Er hatte Sendungsbewusstsein, verzeichnete Erfolge, doch niemals war er mit sich zufrieden.... Wie ein fahrender Ritter trat er in den Dienst der polnischen Kultur. Als Gegenleistung bekam er zu hören, dass er bloß ein jüdischer Händler sei und seinen Platz kennen, nicht den Künstler markieren sollte. Das tat weh. "

    Als Mortkowicz sich 1931 in einem Anfall von Verzweiflung mit einem Revolver erschießt, übernimmt seine Witwe Janina gemeinsam mit Tochter Hania Verlag und Buchhandlung. Wenig später, 1934, wird die Autorin geboren. Zu ihren Kindheitserinnerungen gehört, dass sie auf dicken Teppichen liegt und in großen Büchern blättert. Und dass sie viel Zeit mit ihren Cousins verbringt. Die unbeschwerte Zeit geht zu Ende, als die Nazis Polen besetzen. Olczak-Ronikier flieht mit Mutter und Großmutter, um dem Ghetto zu entgehen. Jahrelang überleben sie in Verstecken auf dem Land.

    Die Revolutionäre der Familie waren schon in den 20er Jahren nach Moskau emigriert. Auch sie trifft das Schicksal hart: bei Stalin in Ungnade gefallen, werden sie in Gefängnisse und Arbeitslager gesteckt oder sie verschwinden spurlos. Ihre Kinder erzählen später, wie sehr der politische Kampf jener Jahre ihr Privatleben geprägt hat, wie sie bei jedem Klopfen an der Tür mit Hausdurchsuchungen und Festnahmen rechneten.

    Joanna Olczak-Ronikier hat ein wunderbares Buch geschrieben, das in einem großen Wurf mehr als ein ganzes Jahrhundert polnisch-russischer Geschichte entrollt. Für diese im leichten Erzählton gehaltene Arbeit wurde sie in Polen mit dem bekannten Literaturpreis Nike ausgezeichnet.

    Es gelang der Autorin im Zuge dieses Projekts, 26 Nachfahren ihres Urgroßvaters Gustaw zu einem gemeinsamen Treffen zu bewegen. Sie reisten aus verschiedenen Kontinenten an, um sich an einen Tisch zu setzen. Die Familie war wieder zusammen. Damit verortete Joanna Olczak-Ronikier auch sich selbst neu.

    " Ich habe nach verlorenen Spuren gesucht und Gefühle wiedergefunden. Habe Schatten herbeigerufen, geantwortet haben mir Lebende. Und so sind wir zurückgekehrt in den Garten der Erinnerung. "

    Joanna Olczak-Ronikier:
    "Im Garten der Erinnerung"
    (Aufbau Verlag)