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Ihren Ausgang nehmen seine Erzählungen bei der Sinnlichkeit

Martin Mosebach wird nahezu einhellig für die Unnachahmlichkeit seines eleganten Stils, seines lakonischen und mit Humor verfeinerten Erzählens gerühmt. Es sind vor allem seine Romane, auf die sich das Lob bezieht. Nun hat er zwei neue Bücher herausgebracht.

Ein Beitrag von Hans-Jürgen Heinrichs | 29.08.2011
    Martin Mosebach hat Peter Handkes berühmten Buchtitel "Als das Wünschen noch geholfen hat” variiert und auf das Reisen angewandt - mit gutem Recht, insofern Reisen und Wünschen geradezu identisch sind. Das neue Buch des in Frankfurt lebenden Autors, der am 31. Juli seinen 60. Geburtstag feierte, ist ein Buch über Musik, Architektur und Religionen, über Schriftsteller, Bücher und Orte, über Städte und Landschaften, mit denen er sich verbunden fühlt, und auch Ausdruck eines Abschiedsschmerzes angesichts des rapiden kulturellen und ästhetischen Verfalls.

    Für sein umfangreiches Romanwerk erhielt Martin Mosebach 2007 den Georg-Büchner-Preis. In seiner Laudatio hat ihn Navid Kermani als Einzelgänger bezeichnet, der von Anfang an auf die Tradition des Romans und den in ihm zur Entfaltung kommenden breiten Weltentwurf gesetzt habe.

    Mosebach glaubt an den Roman ... als die Anmaßung, ein Abbild der Wirklichkeit zu schaffen, der gesamten Wirklichkeit... Deshalb braucht der Roman den zeitlichen oder örtlichen Abstand...

    Eigentlich geht Mosebach mit Schreibprojekten auf Reisen, die erst einmal nichts zu tun haben mit dem Ort, zu dem er aufbricht. In innerer Freiheit zu der selbst gewählten Umgebung bewegt er sich eher wie ein Flaneur auf die Objekte zu, beginnt sie zu erforschen und eine Sprache für das Wahrgenommene zu finden.

    Wie sehen die Usbeken aus? Im Gedränge des großen Basars von Taschkent, der unter pantheonhaften Betonkuppeln seine Stände präsentiert, bewegt sich eine Menge, in der jedes Gesicht einem anderen Volk anzugehören scheint ... Die Frauen tragen schöne einfache Kleider, wie Dienstmädchen oder Reispflückerinnen in einem italienischen veristischen Film der vierziger Jahre.

    Martin Mosebachs Bücher vermitteln ein geschichtlich genaues Bild von dem, was in Kulturen verloren gegangen ist, was sich in veränderter Form erhalten hat und was wert ist, neu belebt zu werden. Er ist ein die Vergangenheit immer wieder aus einem anderen Blickwinkel überdenkender Forscher und bleibt dabei doch Schriftsteller, Essayist und Romancier, einer, der Geschichtsschreibung in unauflösbarer Nähe zum eigenen Leben und dem Wunsch, das Versunkene wieder zu verlebendigen, betreibt. Gleichgültig, ob er ein Porträt von Havanna, Shanghai oder Sarajevo, Frankfurt oder Kairo, vom Rheingau oder von Sizilien, von Indien oder Georgien mit Worten malt, man hat den Eindruck, als sähe man - im Sinne des Palimpsests - gleichzeitig die Oberfläche und durch sie hindurchscheinend die früheren Schichten. Die Kunst, die das ermöglicht, besteht in dem Zusammenwirken der Erzählung, der poetischen Verknappung und der schrittweisen Erschließung des Tiefengrunds. Darin gleicht Mosebach dem Vorbild des Archäologen und des Psychoanalytikers, der verborgene und in den Symptomen doch sichtbare seelische Ebenen freilegt. Er folgt aber auch dem Ethnologen, der in den verstreuten kulturellen und sozialen Phänomenen Gesetzmäßigkeiten und Strukturen erkennt. Und wie die Psychoanalytiker, die Ethnologen, Archäologen und Historiker weiß er, dass wir von der nie im "Original” zugänglichen Wirklichkeit immer Geschichten erzählen: So könnte es gewesen sein ...

    Ihren Ausgang nehmen seine Erzählungen, wie es sich für einen Reisedichter gehört - und wie wir es von Peter Handkes schönster Reiseerzählung "Noch einmal für Thukydides”, von Julien Gracq oder Philippe Jaccottet, von Francis Ponge oder Joseph Brodsky gelernt haben - bei der Sinnlichkeit. Dabei spielt es keine Rolle, ob Mosebach über Orte innerhalb oder außerhalb Europas schreibt.

    Schweigend saßen die Mongolen in dem verwunderten Kreis ... Aus ihren unbewegten Gesichtern quoll in kaum mehr wahrnehmbarer Tiefe ein Ton wie ein schwerflüssiger Strom hervor. Es war, als ... sei der Gesang der Sänger nur das ferne Echo mächtiger chthonischer Bewegungen.

    In der Flut reportagehafter und nur für den Tag geschriebener Reisetexte ist es wohltuend, einen Schriftsteller, der die bereisten Städte und Landschaften in ihrer Geschichte zu erforschen versucht hat, auf seinen Erkundungen zu begleiten und dabei zu erfahren, dass geschichtliches Wissen den Text nicht beschwert. Martin Mosebach fügt dem Beruf des Historikers und Kulturforschers die so oft vermisste Dimension affektiver Wahrnehmung hinzu.

    Seine größte Sorge gilt der Trostlosigkeit und ästhetischen Dummheit, wie sie in der Architektur unserer Städte besonders sichtbar wird.

    Die meisten Hochhäuser Frankfurts waren architektonisch von einer Trostlosigkeit, die sie schon beinahe wieder in die Unsichtbarkeit hob, so austauschbar und beliebig sahen sie aus.

    Wenn Mosebach die Betonlawinen in den Städten und die massentouristische Zerstörung von Landschaften beklagt, folgt er aber nicht nur einer kulturpessimistischen Haltung, sondern stellt die Prozesse und Mentalitäten dar, die zu dieser Entwicklung geführt haben. Und zuweilen wird eine ästhetische Deformation ohne das Zutun der Stadtplaner wieder zurechtgerückt:

    ... eine ‘Stadtkrone' ist der Hochhaushaufen unversehens geworden ... ein unwillkürliches Entstehen von Schönheit.

    Seine Kritik hat ihren tiefsten Beweggrund im Wunsch, das Bild von der Stadt als einer "einzigartigen aus Geschichte und Landschaft geborenen Individualität” zu bewahren. Sein Aufsatz über Havanna besticht durch die Verbindung einer scharfen Analyse der Chimäre revolutionärer Freiheit, die Kuba in bitterste Armut gestürzt hat, und einem sich nicht verbergenden Blick für die Schönheit:

    Dieses zerbröselnde, ruinierte Havanna ist von einer düsteren, ergreifenden Schönheit.
    Nicht verloren geben möchte Mosebach seinen Glauben an die "Wirksamkeit geistiger Akte” und daran, dass die Individualität und das Denken des Einzelnen auch allen anderen Menschen grundsätzlich zugänglich sind. Von hier aus wäre es im Grunde nur ein Schritt, um im Synkretismus der Formen, Riten und Kulturen auch ein höher zu bewertendes kreatives Potenzial zu erkennen und dem einen dichterischen Ausdruck zu verleihen.

    Die von Mosebach gewählte Position der Distanz ist eine Stärke, vermeidet sie doch die Illusion, man könne die fremde Kultur von innen heraus, mit den Augen der anderen, sehen und deren Kleider tragen. Sie ist aber auch eine Schwäche, weil sie sich nicht mit vollem Risiko existenzieller Selbstverunsicherung auf die Brüche, auch auf die mögliche Schönheit des Verfalls, des Niedergangs von Kultur und geschichtlich gewachsener Größe einlässt. Wählt Mosebach zu schnell den Rückzug auf die Position des Niedergangsdiagnostikers und unterwirft alle wahrgenommenen Phänomene seiner kulturkritischen Position? Kommen deswegen die Absurdität und Komik, das Burleske und Theatralische, das dem kulturellen Synkretismus auch eigen ist, nur ungenügend zur Darstellung?

    Die Anordnung seiner Texte leuchtet nicht immer ein - warum folgt zum Beispiel auf "Koreanisches Kriegstheater” eine Rede auf Walter Kempowski? -, und einige Texte (wie "Braucht Deutschland einen Bundespräsidenten?”, "Der Schriftsteller und die Fremdwörter” oder "Rede auf Robert Gernhardt”) wirken doch recht fremd in einem Buch über das Reisen. Auch Essays wie "Der Roman als Geschichtsschreibung” oder "Walter Kempowskis glückliche Schuld” liegen außerhalb dessen, was der Titel des Bandes in Aussicht stellt, sind aber von poetologischer Prägnanz, sodass man sich von ihnen mit auf die Reise nehmen lässt.

    In seinem Buch "Das Rot des Apfels. Tage mit einem Maler” macht sich Martin Mosebach anhand der Porträts, die der 2007 verstorbene Maler Peter Schermuly von ihm in dem langen Zeitraum von 35 Jahren gemalt und gezeichnet hat, auf die Suche nach sich selbst und wie er Schriftsteller wurde.

    Bei der Lektüre dieses Buches ist immer die Freude des Schriftstellers gegenwärtig, dass er über sich sprechen und dafür seine in Kunst verwandelte Person zum Ausgangspunkt nehmen kann. Er braucht sich nicht selbst zu erheben, da er vom Maler schon erhoben und verewigt worden ist. Die Intensität der Gespräche, die er mit dem Maler während der Modellsitzungen führt, ergibt sich aus dem genauen Wissenwollen des Schriftstellers und der Präsenz des Malers, dessen ganzes Leben sich nur um den kreativen Vorgang drehte und wie Epochen ineinander übergehen, sich transformieren:

    ... er dachte malend, empfand malend, glaubte malend und er verband sich über die Malerei mit anderen Menschen ... Er war ein Mensch, der aus Paradoxa zu bestehen schien: der traditionalistische Avantgardist, der abstrakte Figurative, der radikal-subjektivistische Objektivist, der zeitfremde Zeitgenosse, der weltläufige Eremit.

    Die spannendsten Passagen in den Gesprächen mit diesem Außenseiter seiner Zeit betreffen die von Mosebach hoch geschätzten Fähigkeiten, die Phänomene der Welt nicht ihres Andersseins und ihrer Fremdheit zu berauben, die Empirie nicht hinter der Theorie zum Verschwinden zu bringen. Es ging Schermuly vielmehr darum, jede Theorie an der Praxis auszuprobieren und auch die Malerei daran zu messen, wie ein malerischer Einfall in die Kunst des Handwerks und zum Beispiel in die Wollfäden eines Wandteppichs übersetzt werden könne.

    Das Buch enthält wertvolle Miniaturen zu einer zeitgenössischen Ästhetik, wie sie von einem ganz der Malerei hingegebenen Künstler entwickelt worden ist und die ohne die Gespräche nur aus den sehr wenig bekannten Bildern, und auch nur in einigen Aspekten, herausgelesen werden könnte. In Schermuly hatte der kulturpessimistische Autor Martin Mosebach, wie er selbst bemerkt, einen Widersacher gefunden, der ihm darzulegen versuchte, dass wir das 20. Jahrhundert eigentlich noch gar nicht kennen.

    Martin Mosebach: "Als das Reisen noch geholfen hat. Von Büchern und Orten.” Carl Hanser Verlag München, 400 Seiten., 29,90 Euro

    Martin Mosebach: "Das Rot des Apfels. Tage mit einem Maler.” Zu Klampen Verlag Springe, 160 Seiten, 24,00 Euro

    Mit Hinweisen auf die im Hanser Verlag erschienenen Bände "Stadt der wilden Hunde” und "Ultima ratio regis” mit der Laudatio von Navid Kermani