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In Anlehnung an "Occupy"

Gleich mit zwei Premieren nimmt Stuttgarts Theater das Gedankengut der Occupy-Bewegung ins Zentrum der Auseinandersetzung. "Wir sind viele und reiten ohne Pferd" hat der Dramatiker Martin Heckmanns seine Auftragsarbeit übertitelt. Haus-Regisseur Volker Lösch stellt "Die Gerechten" von Albert Camus in denselben Zusammenhang.

Von Michael Laages | 22.05.2012
    Von wegen: 99 Prozent – den ziemlich selbstgerechten Quasi-Alleinvertretungsanspruch für das Schöne und Gute und den Neuanfang der Welt nach den Katastrophen der Gegenwart stellt Martin Heckmanns zunächst mal (und vernünftigerweise) in Frage

    Und diese Stellvertreter hasten nun in rasendem Tempo durch alle nur erdenklichen Konstellationen der zeitgenössischen Debatten-Kultur – "Delirantes Sprechen" wird geübt (das ist Polit-Palaver ohne konkrete Fundamente, Piraten-Sprech also), fairer Kaffee wird verkauft, verschiedenste Wohltätigkeiten inklusive, und repressionsfreier wird Kuchen gebacken; anhand der Versteigerung eines toten Esels führt Heckmanns vor, wie die sogenannten "Leerverkäufe" an der Börse funktionieren. Und kämpferische Senioren üben Widerstand im Wasserwerferstrahl. All diese grandios motivierten Bewegungen verfolgt der Dramatiker (dessen Arbeit zuvor ja gerade im Wettbewerb um den renommierten Neue-Stücke-Preis in Mülheim steht) mit sehr gesunder Skepsis.

    Was sich da auf den Straßen versammelt hat und nicht mehr schweigend zur Kenntnis und hinnehmen will, dass die Welt läuft, wie sie läuft und immer gelaufen ist, wird von Heckmanns als Ausdruck fortgeschrittenster Orientierungslosigkeit gezeichnet – bloß von sich selber weg streben diese liebenswerten Irren, weg von den Zwängen der Wähler-Mitschuld an so viel öffentlicher Verantwortungslosigkeit. Die Träume sind alt und haben wohl auf ewig Konjunktur.

    "Dona nobis pacem" säuselt das Ensemble-Quartett dazu – die Heckmanns-Inszenierung von Marc Lunghuß bildet die versammelten Gedanken- und Sprachspielereien in einer Art intellektuellem Rummelplatz-Theater ab; und zum Glück ist ihr auch anzumerken, wie viel Unernst im Spiel ist. Davon kann bei Volker Lösch (wie immer) keine Rede sein.

    Der seit dem furiosen Aufbruch mit dem "Dresdner Bürgerchor" bewährte Kollektiv-Stratege stellt diesmal die im Theater größtmögliche Ansammlung von Betroffenen in den Mittelpunkt: uns, das Publikum. Denn wenn an der Rampe und vor verschlossenem Eisernen Vorhang fünf Ensemble-Mitglieder sich gerade mal nicht mit Stentorstimme und geschwellten Brüsten durch zentrale Fragmente der Revolutions- und Terror- und Attentats-Debatte schreien, die Albert Camus mit "Die Gerechten" anzettelt (und die mit dem Terror des 11. September eine furiose Renaissance erlebte), nehmen sie uns in eine Art Geiselhaft – und verordnen einen Diskussion, wie sie in "Occupy"-Zirkeln wohl üblich ist. Ein strenger Streit-Code ist einzuhalten, mit Handzeichen und chorischer Verstärkung der eigenen schwachen Stimme, und die Themen sind so wohlmeinend wie belanglos: ob etwa das Premierenpublikum beschließen wolle, dass aus Baden-Württemberg keine Waffen mehr exportiert werden sollen. Da zittert bestimmt schon die halbe Chef-Etage bei Heckler und Koch.

    Lösch scheint auch diese Kollektiv-Strategien (die trotz Freibier zwischendrin zuweilen bedenklich nach "Scientology" klingen) für zukunftsträchtig zu halten; Kritik ist ihm eher fremd. Reflektiertes Nachdenken aber auch – wie das halt so ist bei Leuten, die 99 Prozent der Wahrheit mit Beschlag belegen.