Donnerstag, 02. Mai 2024

Archiv


In Sicherheit fliegen?

Fliegen ist ein für Menschen unnatürliches Verhalten. Wer dennoch fliegt, muss ein gewisses Maß an seelischer Energie aufwenden, um diese Einsicht abzuweisen. Geselligkeit kann dabei helfen, allerdings nur, solange die Gesellschaft nicht so groß ist, dass sich der Gedanke an ihr Gewicht wieder gewaltsam aufdrängt.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 28.12.2009
    Zu den ungeselligen Ablenkungen gehört der frenetische Konsum von Bildern, Texten und Tönen, die man sich vorzugsweise selber mitbringt, da niemand den Geschmack seines Sitznachbarn teilen möchte.

    So kommt es, dass bald nach dem Start jede Menge iPods, Laptops und Kindles eingeschaltet werden, denn die fliegende Klasse ist logischerweise besonders technikaffin. Tatsächlich stärkt die Benutzung einer ans Unerklärliche grenzenden Unterhaltungselektronik auch das Systemvertrauen, das der Fluggast in 10.000 Meter Höhe ohnehin braucht.

    Auch die bekannten Rituale, die mit dem Fliegen einhergehen, die groteske Vorführung der Sauerstoffmasken, der sinnlose Tomatensaft, ja schon die absurden Sicherheitskontrollen am Check-in dienen der Stärkung des Systemvertrauens. Nicht beruhigt die Passagiere mehr als die Erfüllung ihrer Erwartungen.

    Doch gerade dies soll jetzt durchbrochen werden. Die neuen Maßnahmen der US-Sicherheitsbehörde sind, nach deren eigenen Worten, "dazu ausgelegt, unvorhersehbar zu sein. Passagiere sollten daher nicht damit rechnen, überall dasselbe zu erleben". Das klingt ein bisschen nach Konzeptkunst, nach Radikaltheater und Zerstörung von Wahrnehmungsmustern. Fliegen wird also zum Improvisationstest: Hier darf man in der letzten Stunde vor der Landung nicht mehr aufstehen, dort darf man nicht mehr nach seinem Handgepäck greifen und den Text, den man während der Reise noch in den Laptop hacken wollte, schreibt man besser mit der Hand.

    Komischerweise sieht man ab und zu in den modernsten Verkehrsflugzeugen Leute sitzen, die ein seltsames Objekt in ihren Händen halten: Es ist kaum größer als ein halber Laptop und aus vorsintflutlichen Materialien gefertigt: gebleichter und getrockneter Zellulosebrei, ein typisches Ding aus der Kohlenstoffwelt, weder Hard- noch Software, sondern etwas ähnlich Organisches wie der Mensch, also Wetware. Der Gegenstand besteht aus vielen Seiten, auf denen nach subtilen Regeln Farbe verteilt ist – der Fachbegriff lautet "gedruckt". Ein solches sogenanntes Buch vermag die Aufmerksamkeit stundenlang und ähnlich stark zu binden wie iPod, Laptop und Kindle zusammen. Es braucht keinen Strom, man braucht es nicht anzuschalten, es stört weder die Bordelektronik noch die Sicherheitsbeamten. Wer viel im Flugzeug unterwegs ist, weiß: Das energiesparende, ausfallsichere, multikompatible Buch ist in unserer High-Tech-Zivilisation das ultimative Gadget der Zukunft.