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In Syrien "ist wohl ein Endkampf ausgebrochen"

40.000 Syrer hätten auf türkischem Gebiet Zuflucht gefunden, berichtet Rupert Neudeck, der Vorsitzende der Hilfsorganisation Grünhelme. Sie empfänden Angst und Wut, denn die Milizen des Assad-Regimes mordeten mit unvorstellbarer Brutalität.

Rupert Neudeck im Gespräch mit Jürgen Liminski | 18.07.2012
    Jürgen Liminski: Während der Sicherheitsrat über die Lage in Syrien berät und sich streitet, hat der Bürgerkrieg im Land mittlerweile auch die Hauptstadt Damaskus erfasst, und dort können sich die Rebellen sogar behaupten. Auch in der regulären Armee bröckelt die Zustimmung für den Despoten Assad, jetzt ist der bisher ranghöchste General desertiert.

    Mitgehört hat Rupert Neudeck, der Vorsitzende des Hilfswerks "Grünhelme". Er war bis gestern Abend an der syrisch-türkischen Grenze, da wo die Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland erste Zuflucht gefunden haben. Herr Neudeck, wie ist die Lage der Flüchtlinge, sind sie einigermaßen versorgt?

    Rupert Neudeck: Man kann sagen, dass die Flüchtlinge, die in die Türkei kommen, recht gut versorgt sind. Alles das, was ein Mensch braucht, um zu überleben, bekommt er da. Und es sind wahrscheinlich 38.914 gezählt, die in den Lagern Zuflucht finden. Aber ich habe erleben können, dass wahrscheinlich eine gleich große Zahl von Menschen über die Grenze geht, weil sie es in Syrien nicht mehr aushält. Also man muss davon ausgehen, dass der Strom der Menschen wirklich größer geworden ist.

    Weil der Terror im Lande aus der Luft durch die Armee, die nicht mehr die Lage beherrschen kann, wie das ja Ihr Korrespondent eben schon gesagt hat, weil der Terror aus der Luft so groß geworden ist, schicken Männer ihre Familien mit vielen Kindern über die Grenzen. Ich bin mit einem Bürgermeister in einem kleinen Dorf direkt in der Grenznähe gewesen, da kamen innerhalb von einer Stunde wieder zwei Familien an, abgerissen und ausgelaugt, und sie können auch Unterkunft bekommen, weil die Bevölkerung dort in der Grenznähe ist sehr, sehr freundlich zu den Flüchtlingen.

    Liminski: Was berichten denn die Menschen von den Zuständen in ihrer Heimat?

    Neudeck: Die sind unglaublich wütend. Es sind zwei Emotionen, die ich erlebt habe: Wut und Angst, die haben beide ihre Konkurrenz zueinander in diesen Menschen. Die Angst hindert sie immer noch, offen zu sprechen, weil sie immer noch denken, dass das System ihres Landes auch über die Grenze hinaus gilt. Es ist bekannt geworden, dass Assad eben auch in die Türkei einige seiner Geheimdienstleute – er hat ja eine Armee von 250.000 Geheimdienstleuten -, es sollen auch einige eingeschleust sein in die Türkei. Deshalb gibt es auch viel Angst, das hindert die Menschen daran, Namen zu nennen. Aber die Wut ist unglaublich groß und die hat sich mir auch gegenüber in den Gesprächen geäußert, die Wut auf die Unterstützer von Assad, die Wut auf Russland, China, Iran.

    Manchmal kam dann auch Kofi Annan, dann muss man den Mann auch noch in Schutz nehmen, den UNO-Vermittler, der ja nichts dafür kann, dass er keine Macht hat. Aber die Wut auf Russland, das ja Waffen liefert in Hülle und Fülle weiter an das syrische Regime, ist unglaublich groß, die Wut auf China und Iran. Also das sind so die beiden großem Emotionen. Man berichtet von Menschenrechtsverletzungen, die man so gar nicht nennen kann, weil das ist ein viel zu ordentliches Wort. Es wird gemordet von den Milizen, die natürlich sich im Endkampf befinden, die auch ihre Felle wegschwimmen sehen, und deshalb ist wohl ein Endkampf ausgebrochen, der mit noch größerer Brutalität im Lande tobt, als wir das uns überhaupt noch vorstellen können.

    Liminski: Was denken denn die Flüchtlinge über die syrische Opposition?

    Neudeck: Ich denke, sie haben noch gar keine Vorstellung davon, was das eigentlich sein könnte. Die letzten Generationen, die Generationen von Vater Assad über den Sohn Assad, waren ein solch totales Geheimdienst-System, ein solches totales Unterrichtungs-System, dass sie gar nicht wissen können, dass es so etwas überhaupt gibt. Das einzige, was sie für ihre Söhne und für ihre Männer, die jetzt im bewaffneten Widerstand sind, was sie für die erhoffen, sind Waffen, die ja auch wohl über die türkische Grenze jetzt in kleinerer Zahl kommen. Libysche Waffen sollen da kommen, aber sie wissen noch nicht, dass es eigentlich eine Opposition gibt, sie wissen auch noch nicht, dass es in Asas, einer Stadt an der Grenze, die etwas weiter nördlich zur Türkei liegt, dass es da schon wohl eine formierte Opposition der Freien Syrischen Armee gibt. Also da ist noch wenig Substanz da, dass die Menschen überhaupt eine Hoffnung haben können. Sie wissen nur, dass sie gegen das System sind, und sie wissen, dass das System auf Dauer sich nicht halten lassen kann.

    Liminski: Wollen die Flüchtlinge zurückkehren?

    Neudeck: Das, glaube ich, ist ganz sicher. Sie wollen nämlich in Grenznähe bleiben. Das ist immer ein Zeichen dafür, dass das Wichtigste bei diesen Menschen, die vertrieben worden sind, oder die geflohen sind, dort ist, und das muss auch der Westen, das muss Europa wissen, das müssen unsere Regierungen wissen, das muss die türkische Regierung wissen: die wollen alle zurück und deshalb ist es wichtig, dass diese Menschen gut behandelt werden, vielleicht auch jetzt durch Aktivitäten von humanitären Organisationen – deshalb war ich auch da – jenseits der Grenze in ersten Hospitälern schon westliche Ärzte, Organisationen tätig sind, die dafür sorgen, dass die Schwerverletzten versorgt werden, die Krankenhäuser sind total zerstört, dass auch Krankenstationen aufgebaut werden. Das könnte man jetzt beginnen, denn über die Grenze kann man rüber, das ist eigentlich kein richtiges Problem mehr. Man kann es zu Fuß machen, manchmal sogar mit dem Auto. Also das wäre jetzt eine große wichtige Aktivität, die diesen Menschen sehr helfen könnte.

    Liminski: Rupert Neudeck, Chef des Hilfswerks "Grünhelme", mit Informationen aus den Flüchtlingslagern an der türkisch-syrischen Grenze. Besten Dank für das Gespräch, Herr Neudeck.

    Neudeck: Danke auch.
    Der Grünhelm-Geschäftsführer Rupert Neudeck vor seinem Wohnhaus in Troisdorf, wo auch das Büro des Vereins ist.
    Rupert Neudeck (AP)