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Indien erstellt einen landesweiten Plan zum Schutz der Artenvielfalt

Über den Erhalt der Artenvielfalt wird zwar viel geredet, aber realistisch betrachtet kann zumindest die industrielle Landwirtschaft nur erfolgreich im Wettbewerb bestehen, wenn sie auf Masse und auf Einheitlichkeit setzt. Die Folgen sieht man auf dem Getreideacker beispielsweise oder auch bei den Schweinehaltern, wo nur noch wenige Sorten den Markt bestimmen. Das hat natürlich Folgen für die Natur: die Genvielfalt nimmt ab, die Widerstandsfähigkeit der Arten sinkt und die Anfälligkeit für Krankheiten steigt. Außerdem ist jede Tier- und Pflanzenart, die verschwindet, eine auf ewig verlorene Ressource. In Indien will die Regierung gegen diese Verschwendung nun vorgehen und erstellt derzeit einen landesweiten Plan zum Schutz der Artenvielfalt bei Pflanzen.

Von Rainer Hörig |
    Trommeln und Schalmeien spielen auf, kündigen eine Karawane von zehn buntbemalten Ochsenkarren an. Neugierig laufen die Bewohner von Pasthapur, einem staubigen Flecken in der Steppe des Dekkhan, zur Hauptstraße. Jugendliche lassen sich zu ausgelassenen Tänzen hinreißen, Hausfrauen heißen die Prozession mit Süßigkeiten willkommen. Auf dem Dorfplatz kommt die Karawane zum Stehen, und die mit traditionellen Motiven und Ackerfrüchten verzierten Aufbauten der Karren werden geöffnet: Dutzende von Schubladen und Krüge kommen zum Vorschein, die seltene Schätze bergen: die Samen traditioneller Feldfrüchte, die selbst hier, im entlegenen Medak-Distrikt im Unionsstaat Andhra Pradesh in Vergessenheit geraten sind: Fuchsschwanz-Hirse und weißrote Kichererbsen beispielsweise, lokale Varianten von Sorghum und Sesam.

    Der Anblick des verlorengegangenen Saatguts löst im Publikum Debatten aus. Eine alte Frau bricht in Tränen aus und wünscht sich die alten Zeiten zurück. Da ist von kurzsichtiger Geldgier die Rede, die viele Bauern verlockt, auf cashcrops wie Zuckerrohr oder Baumwolle umzusteigen, und von einer fehlgeleiteten Agrarpolitik, die einzig den Anbau kommerziell relevanter Feldfrüchte fördert. Alle sind sich einig: die moderne Landwirtschaft hat ihre Ernährungsgewohnheiten verändert und darunter leidet auch ihre Gesundheit.

    Die Diskussion wird minutiös dokumentiert. Ähnlich geht es in 62 weiteren Dörfern zu, die das so genannte "Mobile Artenvielfalt-Festival" im Januar und Februar 2001 besucht. Die Kommentare der Bewohner münden in einen mehr als einhundert Seiten starken Bericht, der Möglichkeiten und Hindernisse für die Revitalisierung der nutzpflanzlichen Vielfalt im ländlichen Medak-Distrikt dokumentiert. Dutzende solcher Reports treffen in diesen Tagen bei der Umweltschutz-Initiative Kalpavriksh in Pune ein. Im Auftrag der indischen Regierung koordiniert Kalpavriksh den Entwurf des "Nationalen Artenvielfalt-Strategie- und Aktionsplanes" (NBSAP), eines der umfangreichsten und breitgefächertsten Planungsvorhaben, das je in Indien durchgeführt wurde, wie Koordinator Ashish Kothari betont.

    Die Mehrheit der indischen Bevölkerung ist auf eine biologische Artenvielfalt angewiesen. Millionen Menschen, wie Kleinbauern, Fischer und die Ureinwohner Adivasi brauchen diese Vielfalt für ihren Lebensunterhalt.

    Mit der Unterschrift unter die 1992 beim Erdgipfel in Rio de Janeiro verabschiedete Internationale Konvention zum Schutz der Artenvielfalt hat sich Indien verpflichtet, einen Strategie- und Aktionsplan zum Schutz der biologischen Vielfalt zu erarbeiten. Die Entwicklungsagentur der Vereinten Nationen UNDP stellt New Delhi dafür nahezu eine Million US-Dollar zur Verfügung. Das federführende Ministerium für Umwelt und Forsten beauftragte Kalpavriksh mit der Planung. Die vor mehr als 20 Jahren von Studenten gegründete Umweltschutzorganisation hat sich durch jahrelange Forschungs- und Dokumentationsarbeit über den Umgang traditioneller Dorfgemeinschaften mit Naturressourcen einen Namen gemacht. Mitbegründer Ashish Kothari:

    Wir haben versucht, in diesem Ansatz besonders viele verschiedene Gruppen einzubeziehen. Da nutzen wir zum Beispiel unsere Kontakte zu Graswurzel-Initiativen und werden auch Behörden und Wirtschaftsunternehmen mit einschließen. Viele Veranstaltungen und Anhörungen in 20 Sprachen haben in den vergangenen Monaten rund 20 000 Menschen erreicht. Die einzelnen Vorschläge werden dann in die weiteren Pläne eingearbeitet. Außerdem werden zehn spezielle Aktionspläne entstehen: für Gebirge, Flusstäler oder Küstenabschnitte, aber auch zu Themen wie Gesundheit und Kultur. Alle Pläne werden dann in einem nationalen Aktionsplan integriert - sie können aber auch unabhängig umgesetzt werden.

    In etwa eineinhalb Jahren werde ein umfangreiches, regional und kulturell differenziertes Kompendium von Aktionsvorschlägen vorliegen, das den Schutz der Artenvielfalt, ihre nachhaltige Nutzung und die sozial gerechte Verteilung der Nutzen sicherstellen soll. Der Plan schlägt vor, was getan werden muss, wer es tun soll, welche Finanzmittel und Gesetzesänderungen dafür nötig sind. Parallel dazu wird im Umweltministerium die Einrichtung eines Nationalen Amtes für Artenvielfalt erwogen. Das indische Parlament berät derweil über einen Regierungsentwurf für ein Gesetz zum Schutz der biologischen Vielfalt.

    Noch steckten die Aktionspläne im embryonalen Stadium, daher fiele es mächtigen Interessengruppen in Wirtschaft und Politik leicht, den Planungsprozess zu ignorieren, berichtet Kothari:

    Wir rechnen aber schon mit Widerstand. So gibt es mächtige Gruppen, die bisher ohne Hindernisse auf Naturressourcen, wie Wasser und Land oder Holz sowie Mineralien zurückgreifen konnten. Sie fürchten durch so einen Plan natürlich Komplikationen. Aber wir sind auf der Hut. Denn wenn die Regierung den Aktionplan im Aktenschrank verstauben lassen sollte, werden die Dorfgemeinschaften hoffentlich selbst aktiv. Sie wissen ja jetzt, um was es geht und werden ihre Vorstellungen mit aller Kraft durchsetzen.

    Ein Jahr nach Beginn der Beratungen sind bereits erste Ergebnisse sichtbar: Mit der Dokumentation des "Mobilen Artenvielfalt-Festivals" in Andhra Pradesh liegt der erste Aktionsplan auf Graswurzelebene vor. Die Ideen und Vorschläge der Bauern von Parthapur und anderer Dörfer reichen vom Wunsch nach staatlicher Unterstützung für den Anbau traditioneller Feldfrüchte bis zum Protest gegen die unkontrollierte Verschmutzung von Luft, Wasser und Boden durch den nahen Industriekomplex von Patancheru.