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Indien ist mehr als ein Land

Egal, was man über Indien behauptet, so eine bekannte englische Wirtschaftswissenschaftlerin, das Gegenteil stimmt genauso. Exzellent ausgebildete IT-Fachkräfte, eine hoch motivierte Mittelschicht und traumhafte Wachstumsraten - das ist das eine. Armut, Kastenwesen, Überbevölkerung - die Kehrseite. Eine Ambivalenz, die der renommierte Heidelberger Indologe Dietmar Rothermund in den Fokus seines von Helmut Heinzelmeir besprochenen Buches stellt.

    Indien ist kein einheitlicher Nationalstaat. Es ist die Heimat vieler Ethnien und Sprachgruppen. In seiner Größe und Vielfalt kann man es mit der Europäischen Union vergleichen.
    Indien ist mehr als ein Land. Es ist ein Subkontinent. Mit rund 1,1 Milliarden Menschen zählt es weit mehr Einwohner als ganz Afrika. Es vermag Trägerraketen und Satelliten, Kernkraftwerke und Atombomben zu bauen. Es stellt ausnehmend viel, gut ausgebildetes wissenschaftliches und technisches Personal. Es ist aber auch ein Land außerordentlicher Gegensätze, wo Holzpflug neben Kernkraftwerk, unfassliche Armut und anstößiger Reichtum unverbunden nebeneinander stehen. Zwischen Industrie- und Agrarsektor, zwischen Stadt und Land klaffen schier unüberbrückbare Gegensätze. Und Indien ist ein Vielvölker- und Vielreligionenstaat, zerrissen von zahlreichen regionalen, sozialen und religiösen Spannungen.

    Komm herab zu uns mit deinem Donner, gieß Wasser aus!
    Du brülle und donnere und gib Fruchtbarkeit!
    Lass die Ströme frei sich ergießen!
    Tränke Himmel und Erde mit Überfluss!

    Diese Hymne wurde vor mehr als dreitausend Jahren gedichtet. In bewegender Anschaulichkeit beschwört sie Regen auf das Land. Sie wird noch immer gebetet. Auch heute noch hängt das Wohl hunderter von Millionen indischer Bauern vom rechtzeitigen Einsetzen ergiebiger Monsunregen ab. Erst dann verwandelt sich die ausgedörrte Erde in üppig sprießenden Reis- und Weizenfelder. Bleibt der Monsun aus, droht Abermillionen Hunger. Fällt er zu reichlich aus, drohen verheerende Überschwemmungen. Indien ist noch weithin ein Agrarland. Der Autor:

    Zwei Drittel der indischen Bevölkerung – über sechshundert Millionen Menschen – leben von der Landwirtschaft, tragen aber nur ein Fünftel zum Sozialprodukt bei. Das Wachstum in der Landwirtschaft lahmt. Nicht zuletzt die Bevölkerungsexplosion hat – durch ständige Erbteilung – die Fragmentierung des Landbesitzes erschreckend vorangetrieben. Von weniger als einem Hektar Land lässt sich jedoch kaum eine Familie ernähren.
    Der flüchtige Besucher Indiens mag über die Armut auf den Straßen Neu Delhis oder Kalkuttas erschüttert sein. Dieser Eindruck lässt jedoch eines vergessen: die große, die überwältigende Armut Indiens findet sich auf dem Lande. In hunderttausenden von entlegenen Dörfern. Insbesondere im Elendsgürtel des Nordens. In Staaten wie Bihar mit allein einhundert Millionen Menschen. Eingebunden in ein unentrinnbares Schicksal aus rigiden Kasten- und feudalen Klassenstrukturen. Mindestens dreißig Prozent der Bevölkerung – mindestens dreihundert Millionen Menschen – leben unterhalb der Armutsgrenze. Weitere fünfzig Prozent der Bevölkerung müssen mit oft nur unwesentlich mehr als einem Dollar pro Trag zu Rande kommen. Was bleibt, sind noch zwanzig Prozent. Rund zweihundert Millionen Menschen. Eben jene zweihundert Millionen Menschen - so viele, wie die Bevölkerung Deutschlands, Frankreichs und Italiens zusammengenommen – sind gemeinhin gemeint, wenn heute von Indien als kommende Großmacht gesprochen wird. Der Autor belegt in seinem ungemein faktenreichen Buch das bemerkenswerte Wirtschaftswachstum Indiens in den letzten Jahren. Er weiß aber auch um zentrale Schwächen:

    Mit einer Wachstumsrate von neun Prozent scheint Indiens Zukunft sehr gut auszusehen. Doch um auf diesem Wachstumspfad fortzuschreiten, muss Indien die Fesseln der Wasserknappheit, der unzureichenden Wasserversorgung und der mangelhaften Infrastruktur sprengen.

    Mit solchen Problemen steht Indien übrigens nicht alleine. Auch der große Nachbar im Norden, das weitaus wirtschaftsstärkere China, kämpft mit vergleichbaren Herausforderungen. Und an China musst sich Indien. Trotz mittlerweile verbesserter Beziehungen bleibt zwischen den beiden Milliardenvölkern eine gewisse Rivalität bestehen. Demgegenüber haben sich die indisch-amerikanischen Beziehungen in den letzten Jahren außerordentlich verbessert. Die USA sind mittlerweile Indiens größter Handelspartner. Insbesondere auf dem Gebiet der Informationstechnologie sind beider Wirtschaften auf das Engste miteinander verflochten – begünstigt auch durch eine bemerkenswert betuchte und einflussreiche indische Minderheit in den USA. Der Autor:

    Aufgrund gezielter Auswahlkriterien für Immigranten befinden sich unter den zwei Millionen Indern in den USA etwa zweihunderttausend Dollarmillionäre. Die sogenannte Indian-Lobby im amerikanischen Kongress gilt als durchsetzungsfähig.
    Washington verfolgt in seiner Zusammenarbeit mit Indien – auch im militärisch-strategischen Bereich – mehrere Ziele. Zwischen Indien und Israel liegen ausschließlich islamische Länder. Krieg an der Westfront, terroristische Anschläge sind für Indien – Stichwort Kaschmir – seit Jahrzehnten blutiger Alltag. Mit Israel verbindet Indien eine jahrzehntelange Zusammenarbeit in atomarer Aufrüstung. Heute ist Israel – nach Russland – Indiens wichtigster Rüstungslieferant. Und die
    amerikanisch-isrealischen Kontrollen über das pakistanische Nuklearpotenzial liegen auch in indischem Interesse. All diese Zusammenhänge sollten jedoch nicht zu Vereinfachungen verleiten. Auch nicht in Bezug auf China. Mag Washington in Indien auch ein Gegengewicht zu China sehen, Neu Delhi versteht sich – trotz einiger paralleler Interessen – nicht als Juniorpartner. Das Buch von Rothermund gibt einen fundierten Einblick in indische Innen- und Außenpolitik.

    Dietmar Rothermund: Indien. Erschienen im C.H. Beck Verlag in einem Umfang von 336 Seiten zu einem Preis von 24 Euro 90.