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Inmitten von Machos

Abgrundtief bittere und treffsichere Sätze, kennzeichnen Karen Duves Roman "Taxi". Im Mittelpunkt steht eine junge Frau, die sich eher treiben lässt, als ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Als Taxifahrerin unter Macho-Kollegen fröhnt sie nicht nur ihrer Lust an der eigenen Kränkung, sondern entwickelt einen Hass auf die ganze Welt.

Von Gisa Funck | 25.05.2008
    Junge Frauen betonen heute gern, dass der politische Kampf um Gleichberechtigung a là Alice Schwarzer für sie erledigt ist. "Kampf der Geschlechter - wozu?", rufen sie. Solidarität mit Männern ist für Frauen doch viel karriereträchtiger! Und, wenn in aktuellen Ratgebern sogenannter "Alphamädchen" wie Meredith Haaf, Susanne Klingner, Barbara Streidl, Jana Hensel und Elisabeth Raether überhaupt noch einmal das Wort "Feminismus" fällt, dann allenfalls in Form eines pragmatisch abgeschwächten Feminismus 2.0.

    Dem geht es weniger um Grundsatzfragen nach Chancengleichheit – als um lebenspraktische Tipps und einen Erfahrungsaustausch, wie frau heutzutage Kinder und Beruf unter einen Hut bringt. Die Einladung eines Mannes zum Abendessen annehmen oder nicht? Was tun, wenn der eigene Lebenspartner schon ein Kind mit einer anderen hat? Und wie kann man sich als Frau richtig "sexy" fühlen? Das sind die Fragen, die die sogenannten "neuen deutschen Mädchen" interessieren.

    Im Gegensatz zu diesem betont unideologischen Blick auf die deutsche Frauen-Existenz, machte die 1961 in Hamburg geborene Schriftstellerin Karen Duve noch nie einen Hehl aus ihrer kämpferisch-emanzipatorischen Gesinnung. Sie schreibe "über Männer, die das Selbstwertgefühl von Frauen verbal zu zerstören versuchen", charakterisierte die Autorin erst kürzlich selbst ihre schriftstellerische Mission in einem Interview mit einer großen deutschsprachigen Tageszeitung.

    Und tatsächlich könnte man sagen, dass Duves Romane und Kurzgeschichten davon erzählen, wie sehr Frauen auch heute noch unterdrückt sind. Doch lauert der wahre Feind der Gleichberechtigung hier weniger in äußeren, patriarchalischen Machtstrukturen – als im Inneren der Heldinnen selbst.

    Denn Duves heranwachsende Protagonistinnen treibt eine auffällige Lust an der eigenen Kränkung, derentwegen sie sich selbsthasserisch am allermeisten selbst im Weg stehen. Und sich nur allzu bereitwillig von Männern und Jungs einreden lassen, weniger zu können und weniger wert zu sein.

    So bilanzierte schon die namenlose Ich-Erzählerin aus Duves 1999 erschienener Kurzgeschichte "Keine Ahnung" resigniert, obwohl sie eigentlich gerade erst ihr Abitur bestanden hatte:

    Mir war noch nie etwas Entscheidendes in meinem Leben gelungen, aber aushalten konnte ich alles.

    Ein defätistischer Glaubenssatz, den nicht nur die Bulimie-kranke Martina Ulbricht aus Duves "Regenroman" ebenfalls sofort unterschrieben hätte, sondern auch die Essgestörte Anne Strelau aus dem Nachfolge-Roman "Dies ist kein Liebeslied" von 2002, deren Selbsthass sich in diversen Radikal-Diäten austobte - und schließlich in 117 Kilogramm Übergewicht mündete.

    Auch die hübsche Schulabgängerin Alexandra Herwig aus dem neuen Duve-Roman "Taxi" passt ins bewährte Heldinnen-Schema einer jungen Frau mit ausgeprägtem Hang zur Selbstentwertung. Denn wenngleich Alexandra, die sich "Alex" nennt, mit ihrem Aussehen eigentlich ganz zufrieden ist: Auch sie traut sich von vorneherein nicht viel für die eigene Zukunft zu.

    Man schreibt das Jahr 1984. Alex hat ebenfalls gerade ihr Abitur bestanden. Womit ihr eigentlich als junger, attraktiver und gut ausgebildeter Frau alle Wege offen stünden. Würde sie sich nicht - wie schon ihre Vorgängerinnen Anne und Martina - mit der Entscheidung, was sie mit ihrem Leben anfangen soll, völlig überfordert fühlen. Und das Entscheiden deshalb lieber anderen, vornehmlich Männern, überlassen.

    Dieser Charakterzug zur Selbstdemontage zeigt sich schon auf der allerersten Seite des neuen Romans, wo erzählt wird, dass Alex nur ihren Eltern zuliebe eine Ausbildung bei einer Versicherung beginnt, sie aber gleich wieder abbricht, um danach noch ratloser zu sein, wie es nun weitergehen soll:

    Ich versuchte, ohne Geld von Hamburg nach München zu laufen, in der Hoffnung, dass sich unterwegs irgendetwas ergeben würde. Ich hätte ja zum Beispiel mitten im Wald auf ein Auto stoßen können, ein Auto mit einem halbverwesten Toten hinter dem Lenkrad. Und neben ihm auf dem Beifahrersitz, hätte zwischen lauter Maden ein Koffer mit zehntausend Hundertmark-Scheinen in unsortierter Nummerierung gelegen. Hätte doch sein können. (…) "Ich hoffe, dass du weißt, was du zu tun hast, wenn du in der Gosse gelandet bist", sagte mein Bruder nach meiner Rückkehr. "Nicht, dass die Familie nachher noch für dich aufkommen muss."

    Mein Bruder tat immer so, als wäre unsere Familie eine verschworene Gemeinschaft, in der nur ich quer schießen würde. (…) Ich musste mir langsam etwas einfallen lassen. Meine ehemaligen Mitschüler studierten schon seit anderthalb Jahren, und wenn ich nichts tat, würden sich meine Eltern wieder irgendeinen langsamen Tod in einem Büro für mich ausdenken. Ich fing an, die Stellenanzeigen in der Bild-Zeitung zu lesen. Gesucht wurden Mitreisende für Drückerkolonnen, Barfrauen auf Provision und Taxifahrer. Drückerkolonne ging nicht, weil ich ja überhaupt kein Durchsetzungsvermögen hatte.


    Die böse Drohung des Bruders, wonach die Schwester womöglich komplett versagen – und danach der Familie finanziell auf der Tasche liegen könnte, treibt Duves Ich-Erzählerin Alex in "Taxi" früh auch noch den letzten Mut für ein Studium oder für eine gehobene Ausbildung aus. Stattdessen nimmt sie aus lauter Angst vor dem Scheitern dieses quasi selbst vorweg, indem sie sich – trotz Abitur – kurzerhand als Taxifahrerin bewirbt: die klassische Karriere-Sackgasse.

    Ähnlich wie schon Anne Strelau aus "Dies ist kein Liebeslied", die freiwillig nach dem Abitur in einer Hundeleinenfabrik arbeitete, strebt auch Alex von vorneherein einen niederen Status an. Denn von dort aus kann man zumindest nicht mehr ganz so tief fallen. Und weckt außerdem keine falschen Erwartungen, die viel unberechenbarer wären als der eigene soziale Abstieg.

    Was für andere nur ein Übergangsjob ist, wird für die junge Taxifahrerin deswegen zum Schicksalsschlag, dem sie fatalistisch glaubt, ausgeliefert zu sein. Schon bald redet sich Alex erfolgreich ein:

    Ich hatte es verratzt. Einmal falsch abgebogen, einmal den falschen Beruf gewählt, einmal den falschen Mann geküsst und dein ganzes Leben war verkorkst.

    Alex fühlt sich in "Taxi" ohnmächtig einem undurchsichtig-unentrinnbaren Gang der Dinge unterworfen, beruflich wie privat. Denn eigentlich mag sie ihren Taxi-Kollegen Dietrich gar nicht besonders. Dann aber küsst sie ihn "höflicherweise", wie es heißt, doch, um gleich fünf Jahre mit ihm zusammen zu bleiben. Auch vom nervigen Taxifahrerkreis aus Möchtegern-Intellektuellen und Hobby-Künstlern lässt sich die einzige Frau der Firma in Beschlag nehmen, obwohl sie sich vor allem mit Dietrichs bestem Kumpel Rüdiger überhaupt nicht versteht.

    Denn anders als die anderen Taxikollegen, die größtenteils zwar selbstgefällige, aber harmlose Paschas sind, ist Rüdiger ein dezidierter Frauenhasser, der ständig ein hämisches Nietzsche- oder Weininger-Zitat zur angeblichen Unterlegenheit der Frau parat hat. Im Beisein seiner neuen Fahr-Kollegin Alex, die ihm seinen besten Freund Dietrich streitig macht, wartet Rüdiger natürlich besonders gern mit chauvinistischen Sprüchen auf:

    Rüdiger war ein pummeliger Typ mit einem Ballonartig großen Schädel. Er trug eine Prinz-Heinrich-Mütze und hielt ein altes in Leder gebundenes Buch in der Hand. Dünne, braune Ponyfransen klebten an seiner runden Stirn. Das Gesicht war gleichzeitig schwammig und kindlich. Auch wegen der Pickel. Er sah aus wie ein verlebter Vierzehnjähriger. (…) "Jetzt bist du also bei Dietrich eingezogen, hör ich", meinte Rüdiger zu mir, als ich in sein Taxi stieg. "Du weißt, dass Dietrich mein bester Freund ist?" Das war mir bekannt. (…)

    "Allerdings ist Dietrich nicht ganz einfach zu verstehen", fuhr Rüdiger fort. "Für eine Frau ist es ja sowieso schwer, den Charakter eines Mannes zu begreifen, dazu m-m-müsste sie sich ja auf das Geistige einlassen, also auf Männliches, auf eine genuin männliche Sichtweise der Dinge, und damit würde sie sich ja selbst den Boden unter den Füßen wegziehen. (….) "Jetzt mach aber mal ‚nen Punkt!", sagte ich. "Willst du hier als Fachmann in Fragen der Weiblichkeit auftreten, oder was?" (…) "Es ist ein Fluch, eine Frau zu sein", rief Rüdiger aufgekratzt. "Also auf ewig das Fleisch zu sein, der Hemmschuh für die Geistwerdung des Mannes."


    Vor allem männliche Literaturkritiker werfen Karen Duve schon seit ihren ersten Veröffentlichungen vor, dass sie in ihren Romanen einen allzu männerfeindlichen Blick habe. Treten in den Geschichten der Autorin doch tatsächlich immer wieder ziemlich unsympathische Männerfiguren auf, die Frauen regelmäßig schikanieren. Rüdiger aus "Taxi" ist nun ein besonders ekelhaftes Prachtexemplar, der als Stotterer und ehemals von seinem Vater misshandelter Sohn außerdem nicht ganz am küchenpsychologischen Klischee eines Machos der Marke "Harte Schale - klebriger Kern"vorbeischrammt.

    Was die Kritiker bei ihrer Männerhass-Kritik an Karen Duve allerdings oft übersehen, ist - neben der Tatsache, dass der deutsche Alltag nun einmal auch zweifellos seine frauendiskriminierenden Seiten hat - dass die Autorin Männern in ihren Büchern nie eine generelle Schuld zuweist. Stattdessen geht es Duve in ihren Frauen-Entwicklungsromanen vielmehr darum, den Mechanismus weiblicher Selbstentwertung ebenso lakonisch-schwarzhumorig wie nüchtern-genau auszuleuchten, für den ein männlicher Chauvinismus stets nur unterstützender, nie aber auslösender Faktor ist.

    Von daher gibt es in allen Duve-Romanen neben den bösen Chauvi-Jungs immer auch positive, männliche Gegenfiguren. Das ist auch in "Taxi" so, wo neben Rüdiger etwa auch ein Fahrkollege von Alex namens "Tossi" auftritt, der einmal einer Frau, die vor ihrem Freund verfolgt wird, uneigennützig Unterschlupf bietet.

    Vor allem aber übernimmt Marco in diesem Roman Rüdigers Gegenpart des Anti-Machos: ein ebenso kleingewachsener wie selbstbewusster Psychologiestudent, mit dem Alex früher einmal auf dasselbe Gymnasium ging. Und den sie – nach neunzig Seiten - endlich in einer Bibliothek zufällig wieder trifft.

    Endlich deswegen, weil bis dahin, also bis zur Seite 90, Alex’ Werdegang im Roman tatsächlich etwas arg durchgängig in der Negativschleife verharrt. Sie, der schon bald der Ruf einer legendären "Zwodoppelvier" vorauseilt - Alex wird wie alle ihre Taxikollegen nach der Nummer ihres Dienstwagens gerufen - bietet den Anwürfen Rüdigers zwar ständig hitzig Paroli. Doch, wenn es um ihre eigene, private Befreiung geht, wirkt die junge Frau wie gelähmt.

    So glühend Alex da im Beisein ihres Freundes Dietrich und ihres Hassfeindes Rüdiger auch als Rhetorikerin der Emanzipation auftritt, so sehr bleibt sie doch aus lauter Angst vor Enttäuschungen lange Zeit nur passive Dulderin und nicht aktiv Handelnde ihrer Biografie.

    Nicht ohne Grund liest die Taxifahrerin in ihrer Freizeit am liebsten Bücher über "große Menschenaffen", bei denen jedes Herdenmitglied von der Gemeinschaft seinen festen Platz zugewiesen bekommt, den Alex für sich selbst nicht erkennen kann.

    Duves junge Ich-Erzählerin fühlt sich grundsätzlich falsch. Wie "ein einzelner Orang Utan (...) im Schimpansengehege", wie sie einmal meint. Irgendwie schief in die Welt gebaut, ohne zu wissen, wie sie etwas daran ändern könnte.

    Ihr Leben ist für Alex das, was ihr zustößt. Nicht das, worauf sie zusteuert. Und hat diesen Namen somit nur bedingt verdient. Denn Alex’ Taxi-Alltag ist in Duves Roman – Martin Scorseses "Taxi Driver" lässt grüßen – sehr hart und monoton. Mehr ein Vor-Sich-Hin-Vegetieren für Geld als ein Leben. Bis zu sechzehn Stunden dauern ihre Schichten manchmal.

    Tagsüber schläft Alex bei zugezogenen Gardinen. Und, da sie bevorzugt nachts Taxi fährt, bekommt sie es vorrangig mit dem sozialen Bodensatz der Gesellschaft zu tun. Prostituierte, Zuhälter, Arbeitslose, Obdachlose, Alkoholiker, Randalierer und zudringliche Partygäste machen ihr den Job zusätzlich schwer.

    Eine mehrheitlich unsympathische, wenn nicht gar gefährliche Kundschaft, von der sich die Taxifahrerin ständig neu beschimpfen, maßregeln, um Geld betrügen, bedrohen und demütigen lassen muss. Einmal bekommt Alex von einem Fahrgast sogar einen Fausthieb ins Gesicht.

    Kurzum: Der Berufsalltag von Duves Ich-Erzählerin ist alles andere als dazu angetan, deren sowieso schon grau-schwarze Sichtweise entscheidend aufzuhellen. Stattdessen steigert sich Alex’ Selbsthass zunehmend in einen allgemeinen Hass auf die gesamte Menschheit:

    Ich hatte mir keine Vorstellung vom Ausmaß der Schlechtigkeit meiner Mitmenschen im Umgang mit Dienstleistenden gemacht, und ich musste es erst lernen, zahlungsunwilligen, betrunkenen Fahrgästen das Geld gewaltsam abzuknöpfen. Wer kein Taxifahrer ist, ahnt ja gar nicht, wie viele Verrückte und ambulant Schizophrene frei herumlaufen. Und dann der Schmutz. Unvorstellbar, wie viel Dreck die Fahrgäste jede Nacht in mein Taxi schleppten. Ich fragte mich, wo der herkam, der ganze Dreck; ob der den Leuten aus der Tasche fiel oder vom Körper bröselte oder wie.

    Bei so viel genussvoll vorgetragener Häme lautet ein zweiter Lieblingsvorwurf der Kritiker an Karen Duve schon etwas länger, dass es keine oder zu wenig Entwicklung in ihren Romanen gäbe. Zu misanthropisch, zu schicksalsergeben, überhaupt zu negativ seien ihre Heldinnen. Schon am Anfang der Geschichten, so heißt es gern, wisse der Leser, worauf alles hinauslaufe: auf ein weibliches Verhängnis nämlich.

    Auch "Taxi" wurde dieser Vorwurf bereits gemacht, weil Duve ihrer Taxifahrerin Alex – in bewährter Manier und durchaus zum Amüsement des Lesers – viel Gelegenheit gibt, sich über die Erbärmlichkeit ihrer Kollegen und Mitmenschen mit bitterem Galgenhumor aufzuregen.

    Doch man sollte sich vom frotzeligen Verweigerungssound dieser Erzählerin nicht täuschen lassen. Denn schließlich schlummert hinter jeder Verweigerung immer auch eine unerfüllte Sehnsucht, die sich im Falle von Alex schließlich auch Bahn bricht. Nur, dass deren education sentimentale gewissermaßen genau umgekehrt zum klassischen Entwicklungsroman verläuft. Während der jugendliche Held der Literaturgeschichte nämlich traditionell mit großen Erwartungen startet, die notwendig an Grenzen stoßen, ist Duves selbstzweiflerische Gelegenheitsjobberin Alex schon von vorneherein so desillusioniert, dass es für sie nur noch aufwärts gehen kann.

    Und das Einzige, was man dieser Coming-of-Age-Geschichte vielleicht wirklich vorwerfen kann, ist, dass deren Aufwärtstrend - wie schon erwähnt – ein bisschen spät einsetzt. Nämlich erst nach neunzig Seiten, als Alex in Gestalt ihres ehemaligen Mitschülers Marco endlich einmal jemanden trifft, der ihre defätistische Weltsicht wohltuend bricht. Und der ihre Chronik damit gerade noch rechtzeitig aus der dramaturgischen Endlosschleife der misanthropischen Kassandra-Schrift erlöst.

    Alex beginnt mit Marco eine Liebesaffäre. Auch, weil sie fälschlicherweise glaubt, ihm, dem Kleinwüchsigen, überlegen zu sein. Doch, obwohl Marco dank seiner körperlichen Behinderung viel mehr als Alex auf die Hilfe seiner Mitmenschen angewiesen ist, lebt er doch sehr viel freier und selbst bestimmter als sie, wie schnell in den Gesprächen der beiden deutlich wird:

    "Interessiert dich eigentlich noch etwas anderes außer deiner miesen Laune und der Schlechtigkeit der Welt?", fragte Marco. Ich sah ihn erstaunt an. (…) "Du denkst natürlich, das Leben ist schön", antwortete ich ihm dann. "Bloß, weil du selber gerade keinen Krebs hast und zufällig nicht in einem Krisengebiet lebst?"

    "Ich habe immerhin einen Schwerbehindertenausweis", sagte Marco. (…) "Also, meinetwegen: die Welt ist böse und ungerecht. Aber gibt es noch irgendetwas anderes, was dich interessiert? Was ist mit der Maueröffnung? Geht das völlig an dir vorbei, was gerade in Deutschland passiert? Der Untergang der DDR interessiert dich überhaupt nicht, stimmt’s? Das ist wirklich bemerkenswert."

    "Das konnte ja gar nicht klappen mit der DDR", antwortete ich. "Die vorrangigen Primaten-Interessen heißen nun einmal nicht Gleichheit und Brüderlichkeit, sondern Macht und Geltung."

    "Ach ja, richtig", seufzte Marco. 2Für Affen interessierst du dich ja auch noch. Aber du kannst nicht immer alles mit Affen erklären. Die sind nicht für alles zuständig, deine Affen."


    Hinter der Fassade einer hämischen Menschheits-Abrechnung erzählt "Taxi" wie alle Duve-Romane eine Frauen-Befreiungsgeschichte, der diesmal – für die Autorin eher ungewöhnlich – sogar ein Happy End vergönnt ist. Und es ist, das verschweigt die Schriftstellerin in Interviews nicht, ein stark autobiografisch geprägter Roman. Denn Karen Duve ist selbst einmal dreizehn Jahre lang in Hamburg Taxi gefahren, bevor ihr der Durchbruch zur Schriftstellerin gelang. Doch genau darin, im geringen Abstand zum Thema, liegt ein bisschen das eigentliche Problem ihres neuen Buches.

    Läuft das Genre des Taxi-Romans doch naturgemäß schnell in Gefahr, allzu episodisch zu erzählen. Entsprechend wirken auch die mehrheitlich trüben Fahrgast-Anekdoten von Alex, wenngleich sie spürbar auf wahren Erlebnissen beruhen, auf Dauer schon ein wenig ermüdend.

    Zum Glück aber ist Karen Duve eine so versierte Autorin, dass sie das Risiko der allzu quantitativen Aufzählung offenbar selbst gespürt hat – und darum den Fahralltag ihrer Heldin immer wieder mit deren privaten Dramen verschaltet, die schon bald um einiges überraschender ausfallen als die Diensttouren.

    Vor allem aber kommt in "Taxi" einmal mehr Duves Ausnahmetalent zur schonungslosen, Pointierung zum Tragen, mit der sie Alex’ Mikrokosmos der späten achtziger Jahre ausleuchtet, der mit seinem Hype um Topmodels wie Tatjana Patitz und in seiner gleichzeitigen Penny-Supermarkt-Tristesse merkwürdig aktuell wirkt.

    "Jemand wie ich war einfach ein gefundenes Fressen für jemanden, der keinen Menschen, sondern seine Vorstellung von einem Menschen wollte", resümiert Alex da einmal hellsichtig ihr eigenes Dilemma. Ein anderes Mal meint sie, nachdem sie eine Affäre mit einem benachbarten Journalisten anfängt, der als hyperaktiver Don Juan eine ähnlich extreme Borderline-Persönlichkeit darstellt: "Sein Körper schob sich wie ein Sargdeckel über mich."

    Das sind abgrundtief bittere und treffsichere Sätze, die eine weibliche Ich-Schwäche auf den Punkt bringen, die – inmitten einer nicht umsonst oft als "Borderline-Gesellschaft" bezeichneten Lebenswelt von heute – leider keineswegs schon überwunden zu sein scheint.

    Karen Duve: "Taxi"
    Verlag Eichborn Berlin 2008
    320 Seiten, 19.95 Euro