"Jetzt erwärmen wir gerade mit einem Industrieföhn eine Komponente aus einer Formgedächtnislegierung. Die Temperatur, die der Föhn erzeugt, sorgt jetzt dafür, dass die Komponente sich an ihre alte Struktur, ihre alte Form wieder erinnern möchte. Die Komponente ist in einer Vorrichtung eingebaut, wo sie verspannt ist. Das heißt, sie kann sich gar nicht ausdehnen. Und als Reaktion bekommen wir dann eine Kraft. Das Ganze wird übertragen auf einen Computer, der uns dann in einer interaktiven Grafik das Kraftsignal darstellt. Und wir können dann mit diesem Signal, wenn wir es ausgewertet haben, entscheiden, wie wir in Zukunft die Legierung optimieren."
Christian Großmann, einer der drei Gründer des Start-up-Unternehmens Ingpuls. Für den Laien entpuppt sich die von Großmann beschriebene Komponente als ein paar Zentimeter langer, Millimeter dünner Metalldraht, der in einer Klemmvorrichtung steckt. Erst auf dem Computermonitor wird sichtbar, dass in diesem Drähtchen etwas passiert. Bei diesem Drähtchen handelt es sich um den Vorläufer eines sogenannten Aktors aus einer Formgedächtnislegierung, die bei Erwärmung gezielt Kräfte freisetzt. Abgesehen von solchen Testverfahren geben die Produkte, die Ingpuls herstellt, keinen Laut von sich, merkt Mitinhaber André Kortmann mit einem Lächeln an.
"Das Alleinstellungsmerkmal ist einfach, dass man mit diesem Material völlig geräuschlose Aktorsysteme realisieren kann. Es zischt nichts, es klappert nichts, man hört absolut keine Geräusche."
Und nachdem der leistungsstarke Föhn ausgeschaltet ist, herrscht auch in der etwa 200 Quadratmeter großen Halle auf einem ehemaligen Zechengelände in Bochum bis auf das unterschwellige leise Summen diverser Rechner wieder Ruhe. Die promovierten Werkstoffwissenschafter betreiben eine besondere Art von Metallverarbeitung – eben ganz ohne Lärmpegel.
"Im Zentrum unserer Arbeit stehen sogenannte Formgedächtnislegierungen. Das sind Metalle, die sich nach einer Verformung durch Erwärmen an ihre ursprüngliche Gestalt wieder zurückerinnern können."
Und dabei ganz gezielt Kräfte entfalten. Diese Legierungen werden auf den von den Kunden gewünschten Zweck zugeschnitten, ob in der Automobilindustrie oder der Medizintechnik. Dabei kommt es stets auf die richtige Mischung an. Als Grundelemente sind übrigens immer Nickel und Titan mit im Spiel. Die jeweilige Abmischung bleibt natürlich Firmengeheimnis, doch Christian Großmann verrät zumindest soviel:
"Sie klappen das Periodensystem der Elemente auf und schauen sich alle Elemente an, die zwischen Nickel und zwischen Titan liegen. Und das können dann zum Beispiel sein Kupfer, Eisen, Vanadium, Chrom, Hafnium, Palladium, Platin. Es kann auch Silber sein, Niob. Und je nachdem, was wir gerade brauchen, dann suchen wir uns das Element einfach aus. Und dann hat die Legierung ganz einfach spezifische Eigenschaften."
Die Zusammenstellung der Metalle und das Einschmelzen finden hinter verschlossenen Türen statt. Geliefert werden Formgedächtnislegierungen, zugeschnitten auf den jeweiligen Kundenwunsch. Zum Beispiel für Unternehmen aus der Medizintechnik zur Herstellung von Stents, sprich Implantaten zur Gefäßerweiterung. Doch nicht nur auf diesem Sektor registriert man nach den Worten von André Kortmann eine ständig wachsende Nachfrage.
"Und dann gibt es natürlich branchenübergreifend Automobilindustrie, Haushaltsgeräte. Die sind natürlich jetzt alle interessiert an solchen kleinen Aktoren, wo ich wenig Material brauche, wenig Energie benötige. Und die zudem noch kostengünstig sind."
Zu den Kunden von Ingpuls gehören alle namhaften deutschen Hersteller von Premiumfahrzeugen und deren Zulieferer. Für Automobilbauer geht es um kostengünstige und zugleich energieeffiziente Lösungen für die Serienfertigung ihrer Modelle. Und in einem Auto gibt es nach Überzeugung von Materialwissenschaftler Kortmann reichlich Einsatzmöglichkeiten für Formgedächtnislegierungen:
"Das Beispiel mit der Spiegelverstellung. Da sind jetzt aktuell kleinere Motoren drin. Zwei Stück für die zwei Bewegungen, die man da ausführt. Die kosten einen gewissen Betrag, nehmen Bauraum ein. Und das Ganze könnte man durch einen kleinen Formgedächtnisdraht und eine kleine Formgedächtnisfeder ebenso bewerkstelligen. Und wenn man überall kleinere oder größere Elektromotoren ersetzen kann, wo immer viel Kupfer verbaut ist, das wiegt viel, kostet auch viel, dann kann man da zum einen Kosten einsparen, aber auch Gewicht. Was ja auch für den Energie-, Spritverbrauch entscheidend ist."
Aber auch in der Gebäudetechnik, etwa bei Heizungsventilen oder Aufzugsystemen, sind diese Formgedächtnislegierungen auf dem Vormarsch. Ebenso in der Elektronik und der Messtechnik. Inzwischen, sagt Christian Großmann nicht ohne Stolz, entwickelt und liefert das Start-up-Unternehmen aus Bochum Produktlösungen für Unternehmen in aller Welt:
"Indien, Australien, die Schweiz, Österreich, Italien, Frankreich, Spanien. Ich habe jetzt die ganze Liste nicht im Kopf."
Mit knapp einem Dutzend Mitarbeiter erwirtschaften die Jungunternehmer zurzeit einen Jahresumsatz im mittleren sechsstelligen Bereich. Der Sprung über die Millionen-Marke ist absehbar. Für das strategische Wachstum ihres Unternehmens hält man den Einstieg von Investoren durchaus für sinnvoll. Doch als bodenständige Unternehmer, die ihr Rüstzeug an der Ruhr-Universität Bochum erworben haben und Personal am Standort einstellen wollen, schränkt Christian Großmann im nächsten Atemzug ein:
"Ziel ist natürlich von uns, dass wir weiterhin die Kontrolle im Unternehmen behalten, dass wir unsere Vision, hier im Ruhrgebiet FGL zu produzieren, auch umsetzen können. Und dass das nicht davon abhängig gemacht wird, ob in irgendeiner Konzernzentrale oder bei irgendeinem Finanzinvestor jetzt entschieden wird, was wohl für das Ruhrgebiet das Beste ist."
Im Hintergrund heult wieder der Industrieföhn auf, der Test zur Kraftmessung einer neuen Legierung, auf die der Kunde bereits wartet, geht in die nächste Phase.