Freitag, 29. März 2024

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Ins Licht geschrieben (2/3)
Erweckung der Toten - Peter Altenberg und mein Bücherregal

Was ist der Tod, und wie gehen wir mit schier überwältigender Trauer um? Navid Kermani probiert mehrere Geisteshaltungen aus, die ihm die Prosaskizzen des Autors Peter Altenberg empfehlen. Ein Essay über die Wucht des Schicksals und die heitere Gelassenheit gegenüber dem eigenen Leben.

Von Navid Kermani | 12.04.2020
Der Schriftsteller Navid Kermani Schriftsteller gestikuliert im Februar 2018 vor einem Bücherregal.
Trauer bewältigen - dazu liest Navid Kermani Bücher von Peter Altenberg (imago / Eduard Bopp)
In seinem zweiten von drei Essays zu den Osterfeiertagen blickt Navid Kermani zurück auf die Zeit, in der sein Vater gestorben ist. Er steigt auf die Leiter vor seinem Bücherregal und versucht inmitten der Bücher zu begreifen, was der Tod ist.
Werke von Karl Kraus, Franz Kafka, Ilse Aichinger, aber auch von Rafik Schami und Fadi Azzam zieht Navid Kermani aus dem Regal. Manche Gedanken trösten ihn, manche klären zuvor Unverstandenes; dann wiederum durchdringen sich Bücherwelt und Lebenswelt stets gegenseitig, wenn Kermani die Angst spürt, manche Werke könnten ungelesen im Regal vermodern.
Trauer und Ohnmacht in Worte fassen
Besonderes Augenmerk richtet Navid Kermani hier auf den österreichischen Schriftsteller Peter Altenberg: Früh unglücklich verliebt, bald arbeitsunfähig geschrieben, den Drogen verfallen, brachte Altenberg zumeist nur Gedankensplitter zu Papier. Diese jedoch vermögen Trauer und Ohnmacht angemessen in Worte zu fassen: Altenberg schreibt etwa vom Schicksal, das uns „wie eine Hunnenhorde” überfällt. Wieviel von Altenbergs Dekadenz, Weltverachtung, aber auch Heiterkeit gegenüber dem eigenen Leben sind im Umgang mit Trauer angemessen?
Navid Kermani, geboren 1967 in Siegen, lebt als freier Schriftsteller in Köln. Er ist habilitierter Orientalist und Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie des 1. FC Köln. Für seine Romane, Essays, Reportagen und Monografien wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Kleist-Preis, dem Joseph Breitbach-Preis und den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zuletzt erschien von ihm „Morgen ist da. Reden” sowie seine Auswahl aus dem Werk von Friedrich Hölderlin, „Bald sind wir aber Gesang”, beide im Verlag C. H. Beck.
(Teil 3 am 13.4.2020)

Dieser Tage ein Schlaf, vor allem mittags, der noch matter zu machen scheint. Das muss eine Täuschung sein wie am Krankenbett. Die Erschöpfung macht sich beim Aufwachen einfach stärker bemerkbar, weil die ersten Sekunden noch ohne Beschäftigung, ohne Ablenkung sind, du nur mit offenen Augen liegst. Ins Nichts zu starren und zu lauschen, nach und nach das Zimmer wahrzunehmen, im Büro als erstes das Bücherregal gegenüber der Matratze, diese eigentlich berückenden Minuten des Tags zwischen dem Öffnen der Augen und dem Aufstehen, fühlen sich jetzt an, als würde jemand in aller Ruhe etwas Schweres auf dir ablegen, es mit Sorgfalt platzieren, vielleicht sogar festbinden oder montieren, damit es nicht abfällt, wenn du aufstehst. Du schlurfst in die Küche und machst einen Tee. Du setzt dich an den Schreibtisch und blickst nach jedem Halbsatz aus dem Fenster, zehn oder zwanzig Pausen allein auf diesen wenigen Zeilen, ohne eigentlich etwas zu denken. Im Grunde setzt du nur das Starren nach dem Aufwachen fort, allerdings nicht wie ein Entdecker, eher wie ein Verurteilter, dessen Schicksal unabänderlich ist.
Es endet ja doch jeder Grabredner selbst in einem Grab, fährt es mir durch den Kopf, als ich auf der Leiter die Rede des Schriftstellers Karl Kraus vom 11. Januar 1919 auf dem Wiener Zentralfriedhof lese. Wäre es ein Trost, wenn sich mit dem Redner auch die Gäste klarmachten, dass sie einer nach dem anderen ebenfalls aufgebahrt in einer Trauerhalle liegen oder als Staub in einer Urne enden werden, die der Bestatter mit einer Hand tragen kann? Oder wäre umgekehrt der Horror erst recht groß? Ich bin auf die Leiter gestiegen und gehe die Schriftsteller durch, die ungelesen im Regal vermodern. Schon unter A sind es mehr als geahnt, sehr bekannte darunter, David Albahari, Louis Aragon, Guillaume Apollinaire, die ich kaum je eines Blickes gewürdigt habe. Selbst in Achim von Arnims Werkausgabe stoße ich auf einen einzigen Titel, "Isabella von Ägypten", der mich vage an eine Geschichte erinnert. Andere Schriftsteller sind nicht mehr als ein unbekannter Name auf einem Grabstein, lebendig Begrabene, wenn man so will.
Die Seele trägt Schwarz
Von der Leiter aus erinnert der rote, blumengeschmückte Teppich auf dem bastfarbenen Boden ans Grab des Vaters, das wir heute besucht haben. Ein Rechteck dunkelbrauner, wie Torf lockerer, sorgsam begradigter Erde, groß genug auch für uns zwei und weitere Nachfahren. Eine Tochter hat bereits annonciert, dass sie hier ebenfalls begraben werden möchte. Als Markierung und schlichter Schmuck liegen zwei quadratische Steinplatten auf den unteren Ecken des Feldes, das dank der Blumengebinde wie ein Beet aussieht, ein Totenbeet, kein Acker. Im oberen Viertel, sehr auffällig, weil schräg Richtung Mekka statt parallel mit den Grabsteinen ringsum, ist die Erde wie zu einem Sarg aufgeschüttet und mit weiteren Kränzen bedeckt, die nach zwei Wochen noch nicht vollends verblüht sind. Eine Holztafel mit arabischer Basmallah, auch das fremd unter den Franken, und dem verkehrt herum geschriebenen Namen, Nachname zuerst, weil der schiitische Bestatter nicht achtgegeben hat. Das verkehrte Geburtsjahr ist immerhin nicht sein Fehler; wir hätten es ihm sagen müssen, dass es im Pass falsch steht. Man war früher in Iran nicht so pedantisch. Die Frage stellt sich, ob wir die Tafel austauschen oder warten, bis sie ohnehin mit dem Grabstein ausgetauscht wird, ob wir also pedantisch sind.
Die Mutter wollte den Vater eigentlich gestern besuchen, vor der Feier, die dieses Jahr keine sein konnte, vor der Feier der anderen, aber gestern trafen wir zu spät ein, weil der Friedhof ohne Ankündigung oder Erklärung eine Stunde früher geschlossen worden war; um viertel nach vier kam man noch raus, aber man kam nicht mehr hinein, was einen seltsamen Anblick ergab: Während die einen durch eine eiserne Drehtür auf die Straße traten, als wären sie wiedererweckt worden, rüttelten die anderen vergeblich am Tor, als wäre ihnen der Tod verwehrt. Einige von denen, die zu spät waren, legten ihre Blumensträuße auf der Friedhofsmauer ab oder warfen sie hinüber. Die Blumen gelten dann allen Toten, nehme ich an, was vielleicht sogar die bedeutendere Geste ist.
Was ist Trauer? Selbst die Mutter hat sich vorläufig wieder gefangen, mindestens in Gesellschaft. Die Seele trägt Schwarz. Du tust alles, was dir auferlegt ist, oder wovon du dir einbildest, es sei auferlegt, flichtst die gewöhnlichen Beschäftigungen in den Tag ein, ohne geregelten Beruf ein bisschen später und zögerlicher, als wenn du morgens auf der Matte stehen müsstest, du lachst auch wieder, ja, du lachst!, obschon nicht übermäßig, vermeidest Geselligkeiten, bist jedoch dankbar für den ersten Kinobesuch, ein Konzert, bei dem die Gedanken ausruhen oder schweifen, du lebst, ja, blickst sogar zärtlicher auf die Dinge und die Menschen, bist du dir doch der eigenen Verletzbarkeit bewusster, bist freundlicher als sonst, wie dir auch freundlicher als sonst begegnet wird, du könntest sogar das erste Mal wieder einen Körper begehren, in einen Körper schleichen, du könntest sogar Erlösung finden für ein paar Sekunden, die niemand mitzählt.
Ich steige von der Leiter herab, die Bücher unter dem Arm, und stapele alle ungelesenen Autoren mit A auf dem Schreibtisch, ein farbenfroher Turm so hoch wie mein Unterarm lang. Zum ersten Mal beachte ich den Klappentext von Fadi Azzams Roman "Sarmada", den mir Rafik Schami geschenkt hat. So ist das mit Geschenken, mit meinen bestimmt genauso, aber für Rafik Schami noch trauriger, weil niemand sich für sein Land interessiert, aus dem er selbst vor einem halben Leben bereits geflohen ist und an dem er wie jeder Exilant deshalb um so treuer hängt; Syrien bringt hier niemanden um den Schlaf, obwohl der Krieg bald länger als beide Weltkriege zusammen dauern wird. Afrin und Ost-Ghouta sind die Städtenamen, die zuletzt geläufig geworden sind, ohne dass sich in der Welt nennenswerter Widerstand gegen das Hinschlachten und die ausländische Beteiligung, nein: Federführung regt, keine Demonstrationen, keine Mahnwachen, keine Petitionen, keine Debatten im Bundestag oder im Europäischen Parlament.
Es gibt auch ein Foto von Fadi Azzam im Klappentext des Romans "Sarmada", ohne dass man etwas über sein Alter, sein Werk erfährt und wo er heute lebt: ein nachdenklicher Mann, um die 40 vielleicht, sofort sympathisch, mit langen braunen Haaren und Bart, eine Hand unterm Kinn, schräg von unten vor einem bedeckten Himmel, der mehr nach Europa als nach Orient aussieht. Er ist in einem Dorf namens Taara geboren, steht unter dem Foto, nahe der Stadt Suweida, wo es keinen Strom gab.
"Ich habe bei Kerzenlicht lesen gelernt und deshalb leuchten Buchstaben für mich, selbst wenn die Welt dunkler wird. Worte machen uns frei. Immer wenn ein Ort oder eine Zeit schiefgehen … "
Die Übersetzung ist offenbar genauso nachlässig wie der Klappentext
" … wenden sich die darunter Leidenden an Worte.
Peter Altenbergs "Das Buch der Bücher"
Im Impressum finde ich den Hinweis, dass Rafik Schami selbst das Foto gemacht hat, der Autor muss ihm viel bedeuten. Gut, er lebt noch, hat anderswo Leser, wird mit einer besseren Übersetzung vielleicht auch in Deutschland noch bekannter, deshalb lege ich Fadi Azzam auf den Stapel zurück und nehme wieder "Das Buch der Bücher", dreibändig, von Peter Altenberg zur Hand.
"Edler Mann! Edler Mann! Wehe dem Jahrhundert, das dich verstieß!"
So endete Karl Kraus seine Rede am Grab von Peter Altenberg – mit dem Wort der Getreuen, die um Götzens Leichnam stehen:
"Wehe der Nachkommenschaft, die Dich verkennt!"
Er will die Menschen, besonders die ahnungslosen und damit unschuldigen jungen Frauen, vor der Destruktion ihrer Wirklichkeit beschützen, schreibt Wilhelm Genazino im Vorwort, der in seinen Büchern ein gar nicht so verschiedener Flaneur durch die Alltäglichkeiten ist, allerdings melancholisch-freundlicher, ohne ätzenden Spott, auch genießerischer, schon äußerlich wohlbeleibt, als hätte er sich die Ahnungslosigkeit besser als Altenberg bewahrt, und zitiert:
"Traum von etwas, was nicht da ist und was nicht kommt."
Altenberg kam ein einziges Mal in seinem Leben aus Wien heraus, als er sich 23jährig in ein zehn Jahre jüngeres Mädchen verliebt hatte; er durchweinte seine Nächte, verlobte sich mit ihr und wurde Buchhändler in Stuttgart, um rasch Geld zu verdienen und später für sie sorgen zu können, wie er schrieb:
"Aber es wurde nichts aus alledem."
Nein, es wurde nichts: Seit der Stuttgarter Zeit berufsunfähig geschrieben wegen einer Nervenkrankheit, zerfiel Altenberg gegen Ende im Drogenkonsum, so dass seine Notate zunehmend nur noch Gedankensplitter waren.
"Es sind manche hübsche Sätze in meinen Büchern, nur muss man sie aus dem Miste herauszuklauben versuchen."
Peter Altenberg sah sich als Gescheiterten. Aber gilt, was er über sich selbst schreibt, nicht für jeden Menschen?
"Wir trauern um unser eigenes Ich, das im Drang des Lebens verkrüppelt. Diese Trauer heißt Schamgefühl."
Ein befreundeter Kollege berichtete, gerade fällt es mir ein, dass kürzlich in Frankfurt ein zittriger, magerer alter Mann vor ihm gestanden habe, ein Greis fast und offenbar etwas verwirrt, der ihn todtraurig begrüßte. Der Kollege brauchte lange, bis er Wilhelm Genazino wiedererkannte.
"Später überfiel uns das Schicksal wie eine unvorhergesehene Hunnenhorde und bereitete uns allenthalben schwere Niederlagen."
Schon will ich Peter Altenberg rechtgeben, dass wir seine hübschen Sätze, wie hier, aus dem Miste seiner Frauengeschichten herausklauben müssen, als ich den zweiten Band aufschlage:
"Die allerwenigsten Menschen haben auch nur die geringste Ahnung von dem Inhalt des Wortes 'Lebensenergien'. Es ist ein mysteriöses und ganz simples Wort zugleich: es bedeutet alle Kraft, die unser Nervensystem enthält, zur Betätigung unseres Lebens. Die Kraft erhalten, vermehren, heißt eigentlich: ein Kultivierter sein; sie schwächen, verringern, heißt: ein Unkultivierter sein. Wir verlieren täglich, stündlich Tausende wertvollster Lebensenergien durch irrige Lebensführung jeglicher Art, und dann auch noch durch den Mangel an Rücksicht der Nebenmenschen auf unser Nervensystem. Tausend Ungezogenheiten und Taktlosigkeiten der Menschen zerstören unsre angesammelten Lebensenergien. Ferner Sorge, Kummer, Eifersucht, Alkohol, schlechtes Essen, ungezogene Kellner, ungezogene Friseure, ungezogene Freunde, alles, alles das frisst uns täglich, stündlich unsre angesammelten Lebensenergien weg, und zwar auf eine merkwürdig schwächende, lähmende, Zuckerkrankheiten vorbereitende Art! Frauen besonders sind genial geschickte Zerstörerinnen unsrer aufgestapelten Lebensenergien, durch Erzeugung von Eifersucht, diesem Krebsbazillus der Seele! Man wird plötzlich grün und gelb, und die Lebenselastizität lässt nach. Jeder Mensch ist eigentlich ein feiger, heimtückischer Mörder eines jeden, den er in Unruhe setzt ohne zwingendsten Grund!"
Wenn Franz Schubert sein Intimus gewesen wäre, behauptet Peter Altenberg, hätte er ihn beschworen, sich der bedürfenden Menschheit durch allersorgfältigste Schonung seiner Lebensenergien zu erhalten und hätte ihm so weitere 2.000 Lieder entlockt:
"Ich bin einmal unerbittlich gegen den göttlichen Leichtsinn, ich bin für die erdenschwere Bedenklichkeit."
Warum hält er sich dann nicht selbst daran?
"Weil ich dann vielleicht Lebensenergien entwickelte, um noch einige solcher Bücher wie bisher zu schreiben, und das muss unbedingt hintertrieben werden durch ungeordnete Lebensführung."
Altenbergs Frauenbild wäre heute ein Skandal
Im zweiten Band erfahre ich auch von der Dreizehnjährigen, der Altenberg gleich einem liebestrunkenen Sufi nachzog, Tochter eines Schuhmachers, einem von elf Kindern. Die Älteren arbeiteten bereits, die Kleinen wurden von ihr betreut. Selten kam er in ihre Nähe,
" … und auch dann glitt mein Blick von freundschaftlichster Zärtlichkeit an ihren Augen ab, wie Öl über Wasser."
Einmal setzte sich Annas siebenjähriger Schwester Josefa zu ihm auf die Bank, der schenkte er zwei Biskuits.
"Schenken S‘ mir noch zwei Biskuits, ich trag' sie nach Hause für die Annerl. Sie darf net kommen mit Ihnen, weil sie schon zu groß ist. Was kann sie dafür, dass sie schon zu groß ist?!?"
Altenberg gab ihr 20 Biskuits für die Schwester, das war's, das war die große Liebe im Leben von Peter Altenberg, der sonst über Frauen wie über Genussmittel schrieb.
"Eine angezogene Frau hasse ich wegen ihrer Kompliziertheit, und eine ausgezogene wegen ihrer Primitivität! Wenn man einmal eine angezogene Frau fände, die man sich nicht ausgezogen wünschte, und eine ausgezogene, die man sich nicht angezogen wünschte! – Das wäre das Glück!"
Sicher, Peter Altenberg verlangte immerzu nach Genuss und ungestörtem Privatleben, und sein Frauenbild und erst recht seine pädophilen Gelüste wären heute ein Skandal. Aber Altenbergs Ästhetentum und Dekadenz, so bemerkte Theodor W. Adorno einmal, zielten auf gesellschaftliche und wohl auch ökonomische Verhältnisse, die nicht bleiben dürfen, wie sie sind, weil sie "die tragischen Schwächungen" herbeiführten. Altenberg selbst formulierte es so:
"Essen, wenn man nicht hungrig ist. Sich bewegen, wenn man ruhebedürftig ist. Sich begatten, wenn man liebelos ist."
Unrecht, Gewalt, Misshandlungen sind abzuschaffen aus dem egoistischen Grund, dass sie die Nerven belasten. Wir werden in unserer Zeit noch davon hören, weil die Kriege rings um Europa, die verhungernden oder ertrunkenen Kinder trotz aller Mauern und Feindbilder nicht aus dem Bewusstsein zu verdrängen sind. Ja, wir sind schon weiter als zu Altenbergs Zeit darin, uns "fremder Angelegenheiten" anzunehmen, es gibt Allgemeine Menschenrechte und so etwas wie eine globale, sicherlich heuchlerische, kommerziell verbrämte, politisch oft missbrauchte und doch von vielen, gerade jungen Menschen hochgehaltene Humanität. Im Januar 2015 machte die öffentliche Meinung einen Schwenk nach dem Bild des ertrunkenen Flüchtlingskinds am Strand im Süden der Türkei, und selbst Angela Merkel hielt bei einem Bürgerdialog kaum das palästinensische Mädchen nervlich aus, das mit ihrer Familie nur geduldet war und wegen des unsicheren Aufenthaltsstatus plötzlich anfing zu weinen. Kurz darauf machte sie in ihrer Flüchtlingspolitik kehrt, als die Flüchtlinge in Ungarn auf die Autobahn marschierten. Sicher, das ist auch schon wieder ein paar Jahre her, und gerade punkten Politiker allerorten mit ihrer Gnadenlosigkeit. Mag sein, dass sie weitere Wahlen gewinnen. Aber wessen Herz verhärtet, kann nicht glücklich sein. Peter Alternberg wussta das:
"Pferde-Misshandlung. Sie wird aufhören, bis die Passanten so irritabel dekadent sein werden, dass sie, ihrer selbst nicht mächtig, in solchen Fällen tobsüchtig und verzweifelt Verbrechen begehen werden und den hündisch-feigen Kutscher niederschießen werden – Pferde-Misshandlung nicht mehr mit ansehen zu können, ist die Tat des nervenschwachen Zukunfts-Menschen! Bisher haben sie eben noch die armselige Kraft gehabt, sich um solche fremde Angelegenheiten nicht zu kümmern."
Wie jemand, der sich nach einer Liebesnacht, einem Liebesurlaub nicht aufraffen mag, obwohl der Alltag ruft oder eben deshalb, harrt Peter Altenberg seit ein paar Tagen beschäftigungslos auf dem Tisch, nachdem alle drei Bände gelesen sind. Ich schlage noch einmal den zweiten Band auf, in dem ich die meisten Stellen angestrichen habe, und entdecke beim Zurückblättern eine offenbar überlesene Maxime für den Agnostiker, die für den Frommen mit Rücksicht auf das Jenseits im Diesseits sehr ähnlich gilt:
"Sein eigenes Leben nicht ernster nehmen als ein Stück von Shakespeare! Aber auch nicht minder ernst!"
Schmachtende Briefe an Emma Rudolph
Und was ist, wenn du ein Kind hast? Daran zerbricht selbst Altenbergs Maxime. Wenn es ums eigene Kind geht, wird's ernst. Da wird das Leben ernster als alles, was du liest, ob Shakespeare oder Koran, ernster als die eigene Krankheit, die eigene Liebe oder der eigene Tod; wenn’s ums Kind geht, kannst du nicht mehr tun, als wäre das Leben ein Spiel, auch nicht das Vorspiel einer wahrhaftigeren Existenz. Stieße dem eigenen Kind etwas zu, fiele noch der Frömmste vom Glauben ab, der sonst jede Plage gleichmütig trägt, einzig das Unglück des Kindes kann dafür sorgen, dass der Fromme den Schöpfer nicht mehr versteht, der selbst Kinder hat. Umgekehrt geht das Christentum genau von dem Schrecklichsten aus, das dem Menschen auf Erden widerfahren kann, und der Koran bestätigt implizit die Sohnschaft oder jedenfalls die Sonderstellung Jesu als Messias, indem er von dessen Leben alles übernimmt und nur die Kreuzigung ablehnt. Ein anderer sei gekreuzigt worden, ein ganz normaler Mensch, niemals der "Geist Gottes", wie Jesus im Koran genannt wird, das ließe Gott nie zu. Der Realismus des Neuen Testaments schockiert: Der Vater, der sein Kind verlässt. Ein Vater war Peter Altenberg nicht.
Eine Woche später bin ich in Wien und lese in der Zeitung, dass jetzt sogar die Kaffeehäuser umbenannt werden, damit sie in den Reiseführern besser klingen, Café Klimt und so weiter, und in den berühmten Literatencafés werden Komparsen bezahlt, die wie Schriftsteller aussehen. Rausgehen lohnt also nicht, jedenfalls nicht in der Innenstadt, in den Innenstädten passiert überhaupt nichts, gerade die hübschesten sind am brutalsten durch den Tourismus und den Putz, die Sauberkeit und die immer gleichen Ladenketten zugerichtet. Aber die Beine will ich mir dennoch vertreten und biege von der überfüllten Fußgängerzone ab, weil ein Schild aufs Literaturmuseum verweist. Von einem auf den anderen Meter wird's still. Weit und breit nur Touristen, die Innenstadt ein Ferienpark, aber wo es um Literatur geht, bin ich der einzige Besucher. Nun gut, Literaten geben keine Ikonen ab, und wenn ich nicht zufällig die schmachtenden Briefe Peter Altenbergs kennte, wäre das vergilbte Foto der jungen Frau auch vollkommen bedeutungslos. Das heißt, Emma Rudolph, früh verwitwet, eine riesenhafte weiße Schleife um den Hals, die braunen Haare nach hinten gelegt, jungenhaftes Gesicht, hat 100 Jahre später Bedeutung einzig durch den alten Trunkenbold, den sie seinerzeit wahrscheinlich keines Blickes gewürdigt hat – welche Ironie! Aber sind Ikonen nicht ebenfalls bloße Holzbretter, ein Büschel Haare oder löchrige Gewänder, wenn man sie ohne ihre Geschichte sieht? Ihr Morgenmantel ist so groß, plüschig und weinrot, dass ich sofort Heimito von Doderer vor Augen habe, wie er den Mantel ablegt, um das Frühstück beim Baden einzunehmen, etwas zerstreut:
"Ich goss den Tee in das zum Zähneputzen bestimmte Gefäß und warf zwei Stücke Zucker in die Badewanne, die aber nicht genügten, ein so großes Quantum Wasser merklich zu versüßen."
Wienerischer geht es kaum, manieriert in den Untergang, und genau das ist doch das Gute daran, also dass etwas anders als anderswo ist; nur darin haben die Nationalisten recht, aber die Lokalpatrioten noch mehr.
Ob die heutigen Komparsen auch todtraurig aussehen wie Peter Altenberg, von dem ein Foto ausgestellt ist aus dem Café Central? Er sieht überhaupt nicht wie ein Literat aus, eher wie ein vereinsamter, sogar schon lebensmüder Postbeamter, Halbglatze, Schnurrbart und abgetragener Dreiteiler mit Krawatte, also eher bieder eigentlich – wie soll man dann Literaten spielen? Vermutlich ist der Irrtum weitverbreitet, Dichter seien irgendwie besondere, gar auffällige Persönlichkeiten – die Quote der Extravaganten dürfte im Durchschnitt anderer Berufsgruppen liegen. Von den Postbeamten unterscheidet sie lediglich, dass sie ihr trübes Dasein festhalten, mehr ist es nicht und ist doch alles. Zu der Zeit der Briefe an Emma Rudolph notierte Altenberg:
"Ich war nichts, ich bin nichts, ich werde nichts sein. Aber ich lebe mich aus in Freiheit und lasse edle und nachsichtsreiche Menschen an den Erlebnissen dieses freien Innern teilnehmen, indem ich dieselben in gedrängtester Form zu Papier bringe."
Was könnte von mir einmal bleiben? Am ehesten noch meine blauen Pantoffeln, weil ich das Büro nicht mit Schuhen betrete. Oder die Pyjamahose, die ein Iraner zuhause am liebsten trägt. Viel ist das nicht. Aber wie gesagt, das ist ja nur Firlefanz, ein Kuriosum selbst bei Doderer. Es könnte irgendein Bademantel sein, und übers Werk sagt er ohnehin nichts. Hingegen der letzte Brief von Kafka, der allerletzte Brief, ja, das ist dann doch eine Reliquie, obwohl ihn Dora Diamant zu Ende geschrieben hat:
"Ich nahm ihm den Brief aus der Hand. Es war ohnehin eine Leistung. Nur noch ein paar Zeilen, die seinem Bitten nach, sehr wichtig zu sein scheinen."
Darunter, von Ottlas Hand:
"Montag geschrieben am 2.6.1924, gestorben 3.6.1924."
Nur noch ein paar Zeilen, um die Kafka gebeten hat. Sie gefunden beziehungsweise nicht gefunden, die Leerstelle gefunden zu haben, das Fehlen, das Nichtvollendete ist allemal sagenhafter als alle Attraktionen Wiens.
"Sehnen Sie sich nach dem Tod?"
Abends nach meiner Lesung erfahre ich aus dem Internet, dass Wilhelm Genazino gestorben ist, der mir Peter Altenberg aufgetan hat. Soll ich hoffen, dass der Tod eine Erlösung war? Das würde bedeuten, dass sein Zustand sich weiter verschlimmert hat, seit ihn der Kollege auf der Straße traf. Wer Gott um Erlösung bittet, spricht ihn zugleich schuldig. Oder wie Genazino selbst in seinem Wirtschaftswunderroman "Die Liebe zur Einfalt" schrieb:
"Das Leben war etwas, das noch einzutreten hatte."
In Wilhelm Genazinos Romanen, fällt mir ein, taucht Kafka immer wieder auf, häufiger wahrscheinlich als jede andere Figur. In "Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman" etwa hält der jugendliche Held seiner Freundin eine flammende Rede über Kafka.
"Erst kurz vor der Haustür der Souterrainwohnung endete mein heutiger Vortrag. Ich ging mit Gudrun in den Hausflur und küsste sie mit einer Erregung, von der wir glaubten, sie sei ein Zeichen unserer Liebe und unserer Zukunft. In Wahrheit ahnte ich, dass ich durch Gudrun hindurchküsste und im Hintergrund Franz Kafka dafür dankte, dass er mich wieder so lebendig gemacht hatte."
Zurück in Köln, klappe ich "Das Buch der Bücher" zu und steige wieder auf die Leiter, um die Autoren mit A zurück in die obersten Regale zu stellen. Oben angekommen, fällt der Blick auf ein Gesprächsbuch über den Tod. Gesprächsbücher halte ich tendenziell für überflüssig – entweder ist es ein Gespräch oder ein Buch –, aber mit dem Teppich unter mir schlage ich es dennoch auf. "Sehnen Sie sich nach dem Tod?" wird Ilse Aichinger gefragt. "Ja", antwortet sie glatt.
"Tod schon, aber ohne Sterben. Nun schreibt ja zum Beispiel Ingeborg Bachmann von 'Todesarten'. Der Titel ist falsch wie das meiste, was sie geschrieben hat. Denn es gibt keine Todesarten. Das ist ein pathetisches Wort. Es gibt nur Sterbensarten. Der Tod ist der Tod, ein Zustand, kein Prozess wie das Sterben. Weniger schön, aber korrekt – das Genaue ist meist weniger schön und weniger eingängig – müsste es 'Sterbensarten' heißen. Mein einziger Kummer ist, dass man ihn nicht erfährt, den Zustand 'Tod'. Das ist wie wenn man sehr gut schläft; was mir aber auch selten passiert. Da sage ich auch immer: Was habe ich jetzt davon? Ich möchte, während ich tot bin, denken 'Ich bin jetzt tot!'. Ich finde es erbitternd, dass ich den Triumph, weg zu sein, dann nicht auskosten kann. Das ist natürlich ein Widerspruch, denn wenn ich dann tot bin, hoffe ich, wirklich vollkommen weg zu sein, wie ich es eigentlich immer sein wollte."
Es gibt die Sekunden nach dem Schlaf in einem fremdem Zimmer, bis du dich orientiert hast, wo du bist. Wie freischwebend, ja, wie in der Luft, du könntest überall landen, wie wenn du vor dem Regal überlegst, welches Buch du aufschlägst. Vor dem Regal ist es keine Illusion.
Ich stelle Ilse Aichinger zurück und steige zwei Sprossen an meiner Grabwand herab, wo die Autoren mit B stehen.