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Ins Offene

Im "österlichen Frühlingslicht" beginnt der Roman des Debütanten Karl-Heinz Ott: "Heute, im ersten österlichen Frühlingslicht, fahre ich über jenes hügelige Land, in dem ich groß geworden bin." Mit dem ersten Satz dringt der Text zu seinen zentralen Themen vor und nimmt mit einem elegischen, doch nie sentimentalen Grundton für sich ein. Der Ich-Erzähler erhält einen Anruf aus dem Krankenhaus seines Heimatortes, daß seine Mutter nur noch wenige Wochen zu leben habe. Wie in Trance bricht er auf. Er fährt von der Stadt über die Dörfer, durch die vertraute liebliche Landschaft, es ist Ostern, und alles leuchtet. Ostern und Licht - das älteste Fest der Christenheit steht neben einer Verbindung von Licht mit Heimat, die an Emst Blochs Definition dieses so deutschen Begriffs erinnert: danach ist Heimat etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war.

Katrin Hillgruber |
    Karl-Heinz Ott wurde 1957 in Oberschwaben geboren. Er studierte Philosophie, Germanistik und Musikwissenschaft und arbeitet heute als freiberuflicher Dramaturg und Autor in Freiburg. Sein Buch ist eine einzige große Verlustanzeige, ein Requiem. Anders als Peter Handkes Reaktion auf den Selbstmord seiner Mutter, die Erzählung "Wunschloses Unglück" von 1972, unternimmt Ott jedoch gar nicht erst den Versuch einer literarischen Objektivierung persönlicher Erfahrungen. Das Leben der Mutter, das sich dem Ende zuneigt, wurde - so lautet die Anklage - in diesem an Klöstern reichen oberschwäbischen Landstrich weniger gelebt als verbüßt.

    Die Szenen am Krankenbett sind durchsetzt von Erinnerungen an die Kindheit und Jugend des Erzählers, seiner Mutter und Großmutter sowie an den Wandel des dörflichen Umfeldes. "Ins Offene" steht in der Tradition des kritischen Heimatromans. Im Kirchenchor wurde die ledige Schwangere einst beschimpft, man drohte, sie von der Empore herabzustoßen. Die uneheliche Geburt des Sohnes kam für die Mutter einem biographischen Bruch gleich, der unbewältigt blieb. Unausgesprochen macht sie noch den Erwachsenen für ihre Stigmatisierung durch die Dorfgemeinschaft mitverantwortlich. Mutter und Sohn sind durch diese frühen Erlebnisse unlöslich miteinander verstrickt. Der Junge wächst in einem symbiotischen Verhältnis mit Mutter und Großmutter auf, Gespräche über den abwesenden Vater werden vermieden.

    Höhepunkt der Woche ist der sonntägliche Gang auf den Gottesacker. Die Welt kennt die Mutter nur von Wallfahrten in die nähere Umgebung - ihr Realitätssinn ist durch die Gläubigkeit stark gefiltert. Die Heimat als Grundlage aller Erfahrungen wird durch die Zwänge und Schreckensbilder des Katholizismus eingeschränkt. Diese Religion, die hier geschildert wird, birgt und tröstet nicht, sie ist lebensfeindlich, sie erstickt das Ich wie eine Krake. Den Sohn überkommt Wehmut, weil er sieht, daß die Mutter bis zuletzt in der anerzogenen Vorstellungswelt gefangen ist. Vor diesem Hintergrund kann es kein Zufall sein, daß ihn in seiner Jugend eine Verfilmung von Albert Camus' Roman "Der Fremde" nachhaltig beeindruckte. Der Fremde im Film, ein Agnostiker, nimmt den Tod seiner Mutter mit Gleichmut hin. Erneut arbeitet der Autor bei dieser Schlüsselszene mit Lichtmetaphorik: Die gleitende Helligkeit der Wüste im Kino wird der religiösen und kleinstädtischen Düsternis entgegengesetzt.

    Unbeirrbar, mit einem heutzutage ungewöhnlichen existentialistischen Ernst wagt es Ott, von den letzten Dingen zu sprechen: Vom Tod, der nach Rainer Maria Rilke in uns zu weinen wagt, wenn wir uns mitten in Leben meinen. Die Szenen im Krankenhaus und später in der Leichenhalle fallen kurz und konzentriert aus. Ihre Schlichtheit offenbart Trostlosigkeit. Das Vanitas-Motiv ist in dieser Prosa, die von der Lieblichkeit und barocken Üppigkeit ihrer Erzähllandschaft lebt, allgegenwärtig. So heißt es an einer Stelle: "Nur die alles übertönenden Martinshörner erinnern daran, daß die gewaltsame Unterbrechung und der Tod zum Innersten dieser Welt gehören." Der Tod der Mutter läßt einen Sohn zurück, der sich noch stärker schuldig fühlt als zu ihren Lebzeiten, als er eher schlecht als recht versuchte, sich von ihr wenigstens räumlich abzusetzen.

    Der Erzähler gibt sich einer Art deterministischer Geißelung hin. Der tröstliche Satz Epikurs, demzufolge der Tod ein Nichts ist, da wir im Moment der Auflösung keine Empfindung mehr besitzen, kann ihm, der dem dreistufigen Universum von Himmel, Erde und Hölle verhaftet bleibt, keinen inneren Frieden bescheren. Für ihn bedeutet die Angst vor dem Sterben der Mutter eine Initialzündung für sein eigenes Dasein, das "nur noch aus Warten auf den eigenen Niedergang bestehen kann".

    Souverän reiht sich "Ins Offene" in den jahrhundertealten europäischen Todesdiskurs ein, ohne epigonal zu wirken. Dafür ist die Sprache, sind die Bilder zu frisch. Sie scheinen in völligem Einklang mit ihrer geographischen Herkunft zu stehen, jener Heimat, die sich zwar stark verändert hat, doch noch wiederzuerkennen ist, auch wenn früher ein anderes Flimmern und Leuchten geherrscht haben muß. Selten kommt es zu reiner Gedanken- oder Thesenprosa, das Übergewicht des Erzählerischen bleibt ungefährdet. So weist auch der Anklang an Hölderlin im Titel einen Weg: den des unruhigen Sinnierens, das, wie es heißt, "gleichzeitig ins Offene und zurück zum Gewesenen strebt". Karl-Heinz Ott ist eines der überzeugendsten Debüts in der aktuellen deutschsprachigen Literatur geglückt. Ohne es zu kennen, hat man dieses Buch bislang vermißt.