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Intellektuelle Krise

Mehr als 250 Verlage aus 22 Ländern nahmen dieses Jahr an der Moskauer Buchmesse "non/fiction" teil. Im Rahmen des Deutsch-Russischen Jahres war Deutschland Ehrengast und größter ausländischer Aussteller auf der Messe der so genannten intellektuellen Literatur. Doch viele Intellektuellen schienen auf der "non/fiction" zu fehlen.

Von Katrin Hillgruber |
    Als Erstes fällt der Blick auf die Füße. In welchem Schuhwerk hat sich das Gegenüber durch die Schneeverwehungen rund um den Moskauer Gorki Park gekämpft, um die Buchmesse "non/fiction" halbwegs trockenen Fußes zu erreichen? Vor der Garderobe im Erdgeschoss werden extra Bänke für den Schuhwechsel aufgestellt.

    Der Publikumsandrang ist gewaltig, gilt die "non/fiction" doch als die spannendere, die geistig anregendere der beiden Moskauer Buchmessen. Das sieht auch Olgert Libkin so, als Generaldirektor des "Text"-Verlags eine Eminenz der russischen Literaturszene. Siebzig Prozent des Verlagsprogramms besteht aus Übersetzungen, etwa von Bertolt Brecht, Urs Widmer oder Durs Grünbein. Olgert Libkin, ein schmaler, freundlicher älterer Herr, hat in der Schule Deutsch gelernt. Er zieht aber ein Gespräch auf Englisch vor.

    "Ich mag diese Messe wirklich sehr. Denn es gibt ja noch die größere Internationale Buchmesse, nicht hier, sondern auf dem Messegelände im Norden Moskaus. Deren Ziel ist es, so viele Bücher wie möglich zu verkaufen: Thriller, Fantasy und so weiter. Ich nehme natürlich auch an der September-Messe teil, aber sie ist nicht so interessant wie diese hier. Diese Messe hier erinnert mich an eine sehr, sehr kleine Frankfurter Buchmesse. Es herrschen der gleiche Geist, die gleiche Atmosphäre vor, und die Besucher sind intellektueller."

    Die Frankfurter Buchmesse ist seit 1992 mit einem eigenen Büro in Moskau vertreten und verantwortet den deutschen Gemeinschaftsstand auf der "non/fiction". Mehr als 250 Verlage aus 22 Ländern haben dieses Jahr an der Buchmesse der sogenannten intellektuellen Literatur teilgenommen. Im Rahmen des Deutsch-Russischen Jahres war Deutschland Ehrengast und damit größter ausländischer Aussteller mit einem rege besuchten Kulturprogramm und einem eigenen Buchladen.

    Passend zu zwei Ausstellungen über Hannah Arendt und Herta Müller direkt neben den Ständen veranstaltete das Moskauer Goethe-Institut mehrere Diskussionsrunden über das virulente Thema "Freiheit". Auch sie stießen auf starkes Interesse.

    Herrschte also allenthalben Optimismus? Als Michael Kumpfmüller mit seinem russischen Übersetzer Michail Rudnitzkij seinen neuen Roman "Die Herrlichkeit des Lebens" über Franz Kafkas letzte Jahre vorstellte, schien es so. Oder auch bei der kontroversen Diskussion über die Kriterien des Übersetzungsförderungsprogramms "Litrix" des Goethe-Instituts.

    Der Literatur- und Kunstkritiker Alexej Mokroussow jedoch sieht auch die "non/fiction" von kapitalistischen Einflüssen getrübt. So könnten sich viele potenzielle Aussteller die Standmieten von mehr als 2000 Euro nicht leisten.

    "Wir haben hier eine intellektuelle Krise, kann man sagen. Viele Intellektuelle sind weg, viele müssen so viel arbeiten, dass sie gar keine Kräfte mehr haben, abends noch rauszugehen. Moskau ist einfach zu groß. Du kannst nicht ein, zwei Stunden fahren für eine anderthalbstündige Lesung."

    Alexej Mokroussow ist nicht nur Kritiker, sondern gibt auch die Zeitschrift "Moscow Review of Books" heraus. Er flüchtet sich in Galgenhumor:

    "'Moscow Review of Books' ist auf Russisch erschienen und existiert nur im Internet. Keiner will heute etwas kaufen, nur umsonst lesen. Unsere Literaturzeitschriften, die es vorher gab, stehen heute vor der Pleite und existieren wahrscheinlich nicht mehr lange. Aber wer weiß, vielleicht, wenn es gar keine gedruckten Zeitschriften mehr gibt, werden die Menschen auch wieder Geld ausgeben für Internet-Ausgaben."

    Doch es gibt auch positive Tendenzen auf dem russischen Buchmarkt:

    "Wir haben jetzt ein inoffizielles Netz von guten kleinen Buchhandlungen in Russland, die versuchen, die intellektuelle Literatur zu verkaufen, und das ist neu. Das ist eine neue Generation von Menschen, die versteht, dass wir auch eine andere Art von Büchern zur Macht bringen müssen. Denn wir haben ein, zwei Ketten, die zu großen Verlagen gehören, und sie verkaufen meist nur Schrott."

    Während die "non/fiction" zu Ende geht, sind auch die gewaltigen Schneemassen geschmolzen. Nun gilt es, durch die Straßen zu waten, statt zu stapfen. Oder man bleibt im Trockenen und besucht den modernen Teil der Tretjakow-Galerie, der im selben Gebäude wie die Buchmesse untergebracht ist.

    Gerade die Werke aus den experimentierfreudigen Zwanziger Jahren wie Nikolai Sagrekows "Mädchen mit Reißschiene" huldigen ähnlichen Werten wie die "non/fiction". Idealismus aber ist im heutigen Russland Mangelware.