Mittwoch, 17. April 2024

Archiv

Internationales Theaterfestival in Sao Paulo
Infektiöse Zeiten

Wie geht Theater in Zeiten von Rechtsruck, diktatorischen Strukturen und Corona? Erreicht man Andersdenkende oder bleibt die Filterblase geschlossen? In Brasilien musste das internationale Theaterfestival in São Paulo abgebrochen werden. Zurück bleiben ratlose Kulturschaffende und die Angst.

Von Michael Laages | 15.03.2020
Regisseur Je Oliveira inszeniert Chico Buarques altem Stück "Gota d'Agua (Preta)" beim Theaterfestival MITsp 2020 in São Paulo
Neue Fassung eines alten Stückes: Je Oliveira inszeniert "Gota d'Agua" beim Theaterfestival MITsp 2020 in São Paulo (MITsp 2020 / Teatro do SESI / Nereu Jr)
Der "Pesadelo", der absurde Alptraum, dauert an – das sagt Nuno Ramos; der bildende Künstler, Autor und Regisseur war im vorigen Jahr in Zürich und Frankfurt zu Gast. Das eigene Land sieht er speziell angesichts der Barbarei auf dem Feld der Kultur in drei Gruppen zerrissen: Hier die Fans des Präsidenten, die sich durch keine der alle paar Tage losbrechenden Hass-Attacken, neuerdings vorzugsweise gegen Journalistinnen und Journalisten, beirren lassen im Vertrauen auf diesen Mann. Auf der anderen Seite die, wie Ramos sie nennt, "Katastro-phisten" der politischen Liberalen und Linken. Und irgendwo dazwischen die "Naturalisten" der klassischen Konservativen, die meinen, dass der antizivilisatorische Wirbelsturm irgendwie zu überstehen sein wird, den die, so Ramos, Post-Faschisten" entfesselt haben.
Grenzen des zivilen Umgangs überschritten
Gewalt gegen fast alle – das, so Nuno Ramos, sei der einzige gemeinsame Nenner der radikalen Rechten: Gewalt gegen Frauen, Schwarze und derzeit vor allem die indigene Bevölkerung. Aber auch einfach gegen arme Leute, denen die Militärpolizei wie zum Spaß Arme und Beine bricht. Täglich werden genau die Grenzen des zivilen Umgangs miteinander überschritten, auf die Nuno Ramos noch hofft.
Wie geht Theater unter diesen Bedingungen? Die brasilianischen Produktionen beim abgebrochenen Festival haben dezidiert Positionen gefährdeter Minderheiten vertreten; Rodolfo Garcia Vazquez allerdings, Leiter des kleinen "Satyros-Ensembles" in Sao Paulo, ahnt, dass im Theater derzeit fast nur die eigene "bubble" bedient wird, die Gruppe derer also, die ohnehin Bescheid wissen.
"Wir haben eigene Künstlerinnen und Künstler, die machen diese Protest-Theaterstücke jetzt; sie sind sehr erfolgreich. Aber sie sprechen immer nur für diese 'bubble'."
Rechter Radikalismus
Der Regisseur Je Oliveira setzt vielleicht gerade darum auf ein sehr populäres Projekt. Fürs Festival hat er eine moderne, schwarze Fassung von Chico Buarques altem Stück "Gota d'Agua" erarbeitet. An der ist künstlerisch nichts neu, aber die Zeichen gegen den rechten Radikalismus der Politik sind auf dieser Basis deutlich und klar.
Rodolfo Garcia Vazquez ahnt derweil, wohin die Reise geht:
"Jetzt ist es klar, dass Bolsonaro liebt unsere Militär-dictatorship; er wollte diese dictatorship zurück!"
Und er zieht eine für fremde Ohren extrem erschreckende Parallele:
"Jetzt verstehe ich ein bisschen die Juden in Nazi-Regime, in Hitler-Zeit – das ist ein Kampf, das ist ein Krieg!"
Theater braucht langen Atem
Ist dieser Krieg tatsächlich schon erklärt? Ruy Filho, einer der profiliertesten jüngeren Theaterkritiker in Sao Paulo, befürchtet, dass jeder Widerstand sehr langen Atem brauchen wird; auch an der Wende nach rechtsaußen jetzt sei ja über Jahrzehnte gearbeitet worden. Für diesen langen Atem aber wird es gerade das Theater brauchen, das so gefährlich ist für die neuen Diktatoren, weil es, wenn es will, der Ort kollektiver Kommunikation sein kann, sagt Ruy Filho.
Jetzt aber muss es nicht bloß dem politischen Virus standhalten, sondern auch noch dem, das die Lunge befällt.