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Irène Heidelberger-Leonard, Jean Améry. Revolte in der Resignation - Biographie

. Die erste Biographie über Jean Améry wollen wir Ihnen heute vorstellen. Dann befassen wir uns mit der Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Das Porträt der Politiker, verfasst vom Politiker Hermann Scheer, wird Thema sein. Außerdem werden wir die Erinnerungen von Ulrike Thimme an ihren Sohn Johannes vorstellen, der durch eine selbstgebastelte Bombe für die RAF zu Tode kam. Und zum Schluss geht es um die US-amerikanische Geldaristokratie, genauer um die politische Geschichte des Reichtums in den USA.

Von Horst Meier |
    1966 erschien Jean Amérys Buch ’Jenseits von Schuld und Sühne’, eine Essaysammlung, die im Untertitel als Bewältigungsversuche eines Überwältigten ausgewiesen wurden. Améry wurde durch diese Reflexionen über seine Erfahrungen in Auschwitz mit einem Schlag bekannt und zählte zu den bedeutenden Intellektuellen in der Auseinandersetzung über die deutschen Verbrechen. Nun ist zum ersten Mal eine Biographie über den Schriftsteller und Publizisten erschienen. Ihr Titel: Revolte in der Resignation. Autorin ist die Herausgeberin der Améry-Werkausgabe im Verlag Klett-Cotta, Irene Heidelberger-Leonoard. Horst Meier hat die Biographie gelesen:

    Wer war Hans Mayer alias Jean Améry? Wer war jener Autor, der in Brüssel jahrzehntelang deutsche Texte schrieb und sich 1978, im Alter von 66 Jahren, das Leben nahm? Soweit überhaupt ein Begriff, wird sein Name mit vier Aspekten in Verbindung gebracht:

    Da ist zunächst der Essayist Améry, der seine Erfahrung als Häftling in Auschwitz reflektierte. Der zweite Améry, der sicherlich noch stärker wahrgenommen wurde, ist der Améry, der eine Studie "Über das Altern" schrieb. Der dritte Améry, der wohl am meisten Aufmerksamkeit erlangte, ist derjenige, der den "Diskurs über den Freitod" veröffentlichte. Und der vierte Améry - bis heute den Wenigsten bekannt - ist der Erzähler: Sein erster Roman, "Die Schiffbrüchigen", erschien in den dreißiger Jahren, noch vor dem Exil. Später, in den Siebzigern, folgten "Lefeu oder Der Abbruch" und "Charles Bovary, Landarzt".

    Die Brüsseler Literaturwissenschaftlerin Irène Heidelberger-Leonard, mit diesem Autor vertraut wie keine andere, gibt seit vorletztem Jahr eine auf neun Bände angelegte Werkausgabe heraus. Ihre Biographie über Jean Améry erscheint gerade zur rechten Zeit. Denn es ist noch nie so still um ihn gewesen wie heute. Dabei ist Améry der "erste jüdische Schriftsteller deutscher Zunge, der Schoah-Literatur geschrieben hat", sagt Heidelberger-Leonard:

    Heutzutage, wo man sich ausgiebig zu dem Thema Auschwitz und Gedenkkultur äußert, sollte man zu ihm zurückgehen. Es ist eine Frage des Grundsätzlichen. Ich denke, dass man heute nicht so über diese Probleme sprechen würde, wenn es ihn nicht gegeben hätte. Es baut sozusagen alles auf ihn auf, aber sein Name wird nicht mehr genannt.

    Mit der Lebensbeschreibung kommt jetzt die ganze Wegstrecke in den Blick: 1912 geboren. Vaterlose Kindheit und Jugend in Wien, später Bad Ischl. Buchhandlungsgehilfe, Tätigkeit in der Wiener Volksbildung. Begegnung mit dem Neopositivismus, Konversion des romantischen "Waldgängers" zum kritischen Rationalisten. Hoffnungsvolle literarische Anfänge. 1938 Flucht nach Belgien. Kontakte zum Widerstand, 1943 Verhaftung durch die Gestapo. Folter. Deportation nach Auschwitz und Bergen-Belsen.

    "Auferstanden von den Toten", hielt er sich mit Auftragsarbeiten für eine Schweizer Agentur über Wasser: zwanzig Jahre "Artikelfron", resümierte Améry. Dann, nach langer Inkubationszeit, der Durchbruch in der Bundesrepublik: 1966 erschien der Essayband "Jenseits von Schuld und Sühne". Er handelt von der Ohnmacht des Intellektuellen in Auschwitz und vom Einsturz des Weltvertrauens unter der "Tortur", verteidigt seine "Ressentiments" gegenüber den Deutschen und ihrer "Vergangenheitsbewältigung", reflektiert die Erfahrung der Heimatlosigkeit und der durch den Nationalsozialismus aufgezwungenen jüdischen Identität. Hier trifft man auf einen Autor, der radikale Subjektivität mit Klarheit des Denkens verbindet. Die "Revision in Permanenz", wie er einmal formulierte, mündet in die Demontage aller Gewissheiten.

    Sein Gegen-Sich-Denken hat Methode. (...) Er denkt und schreibt prinzipiell immer gegen sich – und fordert ganz nebenbei in seinen Denkkreisen, die er vor dem Leser zieht, auch den Leser dazu auf, gegen sich zu denken...


    Es dauerte nicht lange, da schmeckte ihm der späte Erfolg bitter, wurde zum Stachel des Unglücks. Er war es leid, das "Berufs-Nazi-Opfer", den "Auschwitz-Clown" zu spielen. Inzwischen an die 60, mühte er sich mit nachlassenden Kräften, seine von Exil und Lagerhaft durchkreuzte Karriere als Schriftsteller fortzusetzen: "Endlich muss es mir doch gelingen", schrieb er einem Redakteur, "die Deutschen, die mich ewig nur als 'Essayisten' wollen, mit einem anderen Jean Améry bekannt zu machen." Daran, an seinen literarischen Ambitionen, maß er zuletzt alles, wie Irène Heidelberger-Leonard zeigt. Seinem Schulfreund Ernst Mayer, mit dem ihn eine dreißigjährige Korrespondenz verband, schrieb er von "verkrachter Existenz", ja "verpfuschtem Leben".


    In der kleinen Brüsseler Wohnung tippt seine Frau Maria die Manuskripte, besorgt die Korrespondenz, kümmert sich um Honorare und die Zumutungen des Alltags. Filterlose Zigaretten und Cognac, schwarzer Kaffee und ein ganzes Arsenal an Aufputschmitteln und Schlaftabletten gehören zu seiner "Grund-Ausstattung". Im Laufe der Zeit werden ihm die vier Wände seines Arbeitszimmers zur Fremde. Er verspürt "ein tiefes Verlangen, stumm sein zu dürfen". Eine unglückliche Liebesaffäre tut ein Übriges. Den ersten Suizidversuch, 1974, überlebt er; den nächsten, vier Jahre später in einem Salzburger Nobelhotel umsichtig vorbereitet, nicht mehr. Dass ihn am Ende "Auschwitz einholen" werde, hatte man es nicht kommen sehen? Zum Glück arbeitet die Biographin solchen Fehlurteilen entgegen: Tod und Selbstmord zählen, wie sie belegt, zu den "Urthemen" dieses Menschen - lange vor seiner Traumatisierung in den deutschen Lagern.

    Nichts war vorbestimmt. (...) Sein Werk, sein Lebens-Essay, der sich nicht von der Fülle, sondern - auf produktivste Weise - von Verlusten nährt, er ist ein essai, ein Versuch, schreibend mit der immer offen gehaltenen Wunde zu überleben.

    Die sorgfältig recherchierte Biographie wertet neue Quellen aus, vor allem den umfangreichen Briefwechsel – und legt dabei Zusammenhänge und Widersprüche offen, die selbst für die kleine Améry-Gemeinde neue Einsichten bieten. Améry, ein Meister der Selbststilisierung, wob zum Beispiel die Legende, es habe ihn der Rundfunkredakteur und Schriftsteller Helmut Heißenbüttel 1965 auf die deutsche Bühne geholt: Dabei hatte er selbst die Sache zielstrebig eingefädelt.

    Die vorliegende Lebensbeschreibung ist vielfach mit Textexegese verwoben. Das wirkt hier und da ein wenig seminaristisch, ist allerdings stets erhellend und wird einem Autor gerecht, für den Texte und Literatur "um so viel wirklicher als die so genannte Wirklichkeit" waren. Irène Heidelberger-Leonard macht aus ihrer Bewunderung für diesen tapferen und klugen Mann keinen Hehl, wahrt aber die notwendige Distanz. Ihre spannende Biographie ist ein Glücksfall. Zusammen mit der Werkausgabe bietet sie beste Voraussetzungen, den Essayisten, den Literaturkritiker, den Schriftsteller Jean Améry wiederzulesen oder ganz neu zu entdecken.

    Horst Meier besprach: Jean Améry, Revolte in der Resignation von Irène Heidelberger-Leonard. Der bei Klett Cotta erschienene Band hat 408 Seiten und kostet 24 Euro.