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Irland
Wer Yes sagte, soll beichten

Vor gut einer Woche stimmten die Iren dafür, Schwangerschaftsabbrüche zu erlauben. Das Votum ist auch ein Zeichen dafür, dass die katholische Kirche als moralische Instanz unglaubwürdig geworden ist. Was lernt sie daraus?

Von Martin Alioth | 06.06.2018
    26. 5. 2018: Gegner des Abtreibungs-Verbot feiern das Ergebnis des Referendums in Irland
    Frauen feiern das Ergebnis des Abtreibungs-Referendums in Irland (AFP / Barry Cronin)
    Mit 66,4 Prozent fiel das Ergebnis weit deutlicher aus als erwartet. Die Stimmbeteiligung betrug über 64 Prozent. Im Dáil, der irischen Abgeordnetenkammer, zog die sozialistische Abgeordnete Clare Daly, eine Vorkämpferin der Reform, anschließend Bilanz:
    "Die Abstimmung hat eine riesige Last entfernt, die Kette und Kugel des Sträflings, die uns ein Leben lang fesselte, ist weg."
    Leidenschaftlich fuhr sie fort - sinnigerweise mit einer religiösen Formulierung: Es sei, wie wenn die irische Gesellschaft Abbitte leisten wollte für all das Unrecht, das sie Frauen zugefügt habe. Für die Ächtung von Frauen in Krisen-Schwangerschaften, für die Magdalenerinnen-Wäschereien, für die Ausgrenzung lediger Mütter, für das auf Schande gebaute System.
    Das Ergebnis ist Resultat eines Wandels - nicht sein Auftakt
    Für die Verlierer des Referendums, für die Katholische Kirche, meldete sich Kevin Doran, der Bischof von Elphin im irischen Westen, beim irischen Rundfunk: Wer "Ja" gestimmt habe, im Wissen darum, dass dies zur Abtreibung führe, möge erwägen, zur Beichte zu kommen - wo er oder sie mit dem für alle reuigen Sünder geltenden Mitgefühl behandelt werde.
    Die Akademikerin Ailbhe Smyth gehört zum feministischen Urgestein Irlands. Sie weiß, wie Niederlagen an der Urne schmecken. Sie gehörte zu den Wegbereiterinnen dieses Referendums.
    Smyth interpretiert das Resultat eher als demokratischen Nachvollzug eines gesellschaftlichen Wandels, der seit mindestens 20 Jahren im Gange sei, und nicht als Auftakt zu gesellschaftlichem Wandel. Sie spricht von einem Votum für die Wahrheit. Irland habe sich von der moralischen Unredlichkeit gelöst, die früher galt, und die ihre Wurzeln in der autoritären Ausprägung des irischen Katholizismus hatte. Das individuelle Gewissen werde stärker berücksichtigt. Soziologen sprächen von einer protestantischeren Form des irischen Katholizismus, und sie sehe das auch so.
    Stimme des Gewissens, Stimme der Bischöfe
    Pater Gerry O'Hanlon, ein jesuitischer Theologe, teilt diese Sicht. Er erwähnt die Ergebnisse einer Wählerbefragung, wonach nur 12 Prozent der Wähler insgesamt und nur 28 Prozent der Reformgegner ihr Verhalten mit ihren religiösen Überzeugungen begründeten: Die unterstellte Befugnis der Katholischen Kirche, dem Staat Vorschriften zu machen, sei zerstört. O'Hanlon führt aus, die irische Ausprägung der Kirche habe das Gewissen zugunsten moralischer Imperative vernachlässigt. Die anti-intellektuelle Natur der irischen Kirche habe sie schlecht auf die Moderne vorbereitet.
    Die Bischöfe glaubten, sie müssten bloß die moralischen Richtlinien geben und begründen, warum diese in Gesetze gegossen werden sollten - Katholiken würden das dann ausführen. Doch das sei nicht mehr der Fall. Die Kirche sei in vier bis fünf Fragen besiegt worden und habe ihre Autorität verloren. Sie könne gar nicht mehr autoritär sein.
    Der Jesuitenpater beruft sich auf Thomas von Aquin und Kardinal Newman: das individuelle Gewissen müsse wieder mehr gelten. Er hofft auf eine Rückkehr zu einer synodalen Kirche, in der mehr Stimmen erhört werden, und verweist auf entsprechende Anstöße des amtierenden Papstes. Doch er erkennt keine Einsichten unter Irlands heutigen Bischöfen: Sie sähen den Bischof noch immer altmodisch als Stimme der Diözese, der frei entscheiden könne, die Stimmen der Gläubigen zu erhören oder nicht. O'Hanlon kommt zum Schluss, die Emanzipation der irischen Gesellschaft und des irischen Staates sei auch eine Chance: Nicht nur der Staat sei jetzt von Altlasten befreit, sondern auch die Kirche - falls sie weise vorgehe.
    Rosenstrauch als Vorbild
    Paradoxerweise kommt David Quinn zu ähnlichen Schlussfolgerungen, wenn auch aus gänzlich anderen Gründen und mit radikal anderen Konsequenzen. Quinn war Chefredakteur der Katholischen Zeitung Irlands und leitet nun das katholische Iona-Institut. Bildet dieses Referendum einen Schlusspunkt? Nein, wehrt er ab, aber es werde Jahrzehnte brauchen, sich von diesem Ergebnis zu erholen. Da müsse man langfristig denken.
    Die Auffassung, dass der katholische Glaube und die irische Kultur nahezu deckungsgleich seien, sei überholt. Dieser kulturelle Katholizismus sei zu einer leeren Hülle geworden. Quinn verweist auf Schönwetterkatholiken, die zwar die Kommunion für ihre Kinder wollten, sich aber von den Glaubenssätzen der Kirche distanzierten. Diese Überreste müssten entsorgt werden. So wie ein Rosenstrauch sich besser und gesünder entwickle, nachdem er radikal zurückgeschnitten worden sei. Quinn empfiehlt der irischen Kirche, sich weitgehend aus dem Schulwesen zurückzuziehen, das sie nominell noch immer kontrolliert, und die verbleibenden Schulen dafür zu echten katholischen Bildungsstätten zu machen.
    Auch Quinn erkennt die Chance der Befreiung für die Kirche, falls sie nicht in ihre herkömmliche Trägheit zurückfalle. Doch die Varianten der Befreiung, die der Feministin Smyth, dem Jesuiten O'Hanlon und dem Katholiken Quinn vorschweben, könnten unterschiedlicher nicht sein.