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IS-Terror Irak
Jesiden auf der Flucht

Im Irak haben die Milizen des Islamischen Staates (IS) 1,6 Millionen Menschen mit ihrem Terrorregime in die Flucht geschlagen. Unter welch dramatischen Bedingungen, zeigt das Schicksal einer jesidischen Familie aus Sinjar.

Von Reinhard Baumgarten |
    Zahlreiche Menschen stehen um zwei große Töpfe, aus denen Essen ausgegeben wird.
    Jesidische Flüchtlinge aus dem Nordirak werden in der kurdischen Stadt Dohuk versorgt. (AFP / Safin Hamed)
    Es ist heiß in Sharya. Im Schatten eines Rohbaus waschen Frauen der Khalaf-Familie ihre Kilims. Seit knapp drei Wochen leben sie in der Kleinstadt gut 15 Kilometer südlich der Provinzhauptstadt Dohuk im Nordirak. 25 Personen leben auf einer Baustelle, die Hälfte davon sind Kinder.
    Der jüngste Spross der Khalaf-Familie ist gerade mal 14 Tage alt. Der kleine Temil kam kurz nach der Flucht aus dem Dorf nahe Sinjar zur Welt. Die Khalaf-Familie musste ihr Zuhause aufgeben, um dem möglichen Tod durch Extremisten der Terrormiliz Islamischer Staat zu entkommen, erzählt der 40-jährige Khalaf Hodeida Khalaf.
    "Sie sagten, wir sind der Islamische Staat. Wir werden Euch zeigen, wie ein Islamischer Staat früher mal ausgesehen hat. Sie haben erklärt, sie würden die Herrschaft in dem Gebiet übernehmen und die Menschen schützen. Das Gegenteil war der Fall. Wir haben nicht geglaubt, dass sie so schlimme Sachen mit uns machen würden."
    Anfang August hatte die Khalaf-Familie noch mehr als vier Dutzend Mitglieder. Viele sind verschollen, verschwunden oder sind ermordet worden, sagt Khalaf Hodeida Khalaf.
    "Schreckliche Dinge. Sie haben Menschen verstümmelt, enthauptet, Arme und Beine abgetrennt. Sie haben Frauen das ungeborene Kind aus dem Leib geschnitten."
    In der Nacht vom 3. auf den 4. August hat die Terrormiliz Islamischer Staat die vorwiegend von Jesiden bewohnte Stadt Sinjar überrannt. Die angrenzenden Dörfer gerieten nach und nach auch unter die Kontrolle der Extremisten. Die Khalaf-Familie hat sich bis zu ihrer Flucht von Landwirtschaft und Viehzucht ernährt.
    "Wir haben gehört, dass unsere arabischen Nachbarn unser Vieh genommen haben - Kühe und Schafe. Sie sollen auch Sachen von uns gestohlen haben."
    Eng seien sie einst mit ihren sunnitisch-arabischen Nachbarn befreundet gewesen, versichert Khalaf Hodeida Khalaf. Man habe sich gegenseitig geholfen, besucht und zu den Feiertagen der jeweils anderen Glaubensgemeinschaft alles Gute gewünscht. Ist nach dem Einfall der sunnitischen Extremisten ein Zusammenleben mit den nicht-jesidischen Nachbarn noch vorstellbar?"
    "Mit denen? Sehr schwer. Wie können wir mit Menschen leben, die unsre Freunde waren, uns dann getötet haben, unsere Frauen entführt, vergewaltigt und versklavt haben. Zusammenleben mit denen? Das ist vorbei. Nie wieder."
    Die kleine Nour hat Fieber. 16 Monate ist das Mädchen alt. Es leidet an Durchfall. Eine ernste Sache bei 44 Grad im Schatten.
    Schau Dich hier um, sagt Nours Vater. Die Hitze, der Schmutz, wir leben auf einer Baustelle.
    Die Stadt Zakho, im äußersten Norden Iraks unweit der türkischen Grenze ist zur Endstation Hoffnung für Zehntausende Jesiden geworden. Inas Kerim – sie ist 18.
    "Wir haben hier keine Zukunft. Wir wollen weg. Wir wollen nichts, kein Geld, kein gar nichts. Wir wollen nur einen sicheren Platz. Wir wollen, dass die Lage gut wird, damit wir heimgehen können, um unsre Sachen zu verkaufen, damit wir etwas Geld haben, um raus zu gehen."
    Raus aus dem Land ihrer Ahnen. Zu viel Horror, zu viel Terror, zu viel Gewalt haben diese Menschen erleben müssen. Keiner der befragten jesidischen Flüchtlinge will im Irak bleiben, erklärt der 47-jährige Mattu.
    "So was wie Menschenrechte gibt es nicht in arabischen Städten. Menschenrechte gibt's nur in Europa, Deutschland und Israel - überall außer hier. Immer wieder erleben wir wegen Rasse und Religion ethnische Säuberungen."
    Knapp 400.000 Jesiden sollen im Nordirak auf der Flucht sein. Gegen Angehörige dieser Glaubensgemeinsaft gebärden sich die Extremisten der Terrormiliz Islamischer Staat besonders ruchlos.
    "Hier hat es eine humanitäre Katastrophe gegeben: Vergewaltigungen, Enthauptungen mit dem Schwert. Nebenan ist ein Flüchtling, dessen Bruder und Vater von den Extremisten Leuten gefasst wurden. Ein paar Tage später haben wir den enthaupteten Vater auf Facebook identifiziert. Das war ein Mann, der an Gott glaubte. Sie haben ihn enthauptet, weil er nicht konvertieren wollte. Du musst konvertieren, ansonsten wirst Du vergewaltigt oder die machen Sachen mit Dir, über die ich gar nicht sprechen will."
    Völlig mittellos seien sie die meisten Flüchtlinge nach Zakho gekommen, stellt Volker Echtermeyer fest. Im Auftrag der deutschen Hilfsorganisation Help sondiert der pensionierte Chirurg aus Minden die Lage der Flüchtlinge.
    "Hier in Zakho sind allein geschätzte 150.000. Die Zahl geht nach oben. Ich weiß, dass 79 Schulen in dem Gesamtdistrikt sind, in denen 40.000 Menschen untergebracht sind, die aber wieder raus müssen aus den Schulen, da in einem Monat die Schule anfängt. Man hat keine Lösung für das Problem. Wir hatten ein Gespräch mit dem Gouverneur, über den alles läuft, auch Beschaffungsmaßnahmen der Medizin usw. Das sind politische Gespräche. Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich denke, sie enden mit einer Goodwill-Erklärung, aus der man keine Schlüsse ziehen kann. Man ist ein bisschen konzeptlos, das ist mein Eindruck."
    Die Regierung der Autonomen Region Kurdistan ist mit der Situation völlig überfordert. Sie leistet in Zakho kaum Hilfe. Doch die einheimische Bevölkerung hilft so gut es geht, spendet Teppiche, Vorhänge und Decken, bringt Lebensmittel und Kochutensilien.
    15 Personen sei ihre Familie noch groß, sagt Kasham aus Sindjar. Zwei Cousins sind von IS-Terroristen ermordet worden. Nie wieder wolle sie unter Arabern leben, beschwört die 42-Jährige auf dem nackten Beton im Erdgeschoß eines Rohbaus.
    Man kann's nicht Camps nennen. Es sind katastrophal gestaltete Unterkünfte in Rohbauten, auf freien Plätzen, an Garagen, an Tankstellen.
    Deutschland, Europa, die USA – dort wollen die traumatisierten Jesiden von Zakho hin. Die Augen noch voller Schmerz können sie nicht sehen, wie hoch die Mauern der Festung Europa sind.