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Isis entschleiert

"Ich betrachte mich nicht als einzigen Autor dieses Buches", schreibt Ulrich Holbein. Ein bescheidener Satz, ein gigantisch untertriebener Satz. Denn von Holbein selbst stammt so gut wie nichts in diesem Roman: "Isis entschleiert" besteht ausschließlich aus Zitaten. Original ist nichts darin - aber alles originell. Das Motiv für diese ungewöhnliche Selbstentäußerung? Holbein gibt es in einem kleingedruckten Nachtrag preis und stellt es uns frei, ihm zu glauben oder nicht. Er nennt es das "Prinzip Fetzenfisch". Dieser Meeresbewohner tarnt sich, um nicht von seinen Feinden gefressen zu werden, als Ansammlung loser Fetzen. Um also, soll man wohl folgern, nicht von seinen Kritikern zerrissen zu werden, schmückt sich Fetzenfisch Holbein mit fremden Schuppen. Denn nur diese, nicht das Eigentliche trifft dann die Kritik. Solche Demutsgesten hätte der Autor eigentlich gar nicht nötig. Hat er doch sein Buch in einem weiteren Anhang wirksam gegen jegliche Attacke immunisiert, indem er die prominentesten deutschen Kritiker zu einer Runde versammelt und hymnische wie vernichtende Urteile über "Isis entschleiert" abgeben lässt. Natürlich widersprechen sie sich nach Kräften, und natürlich haben sie alle recht: der Gustav Seibt mit dem Satz: "Alle gelungenen Formulierungen in diesem Buch dürften sich als Zitate herausstellen", aber auch der Wilfried F. Schoeller: "Ich denke, alles was man jetzt sagt, ist sozusagen Bestandteil des Textes." Das gilt natürlich auch für die Rezension, die Sie gerade hören.

Martin Ebel |
    Was aber, werden Sie nun fragen, will der Dichter, der kein Dichter ist, sondern ein Zweitverwerter, was will Ulrich Holbein uns damit sagen? Dass wir alle sowieso nur aus zweiter Hand leben? Dass es, weil alles schon gesagt ist, nichts Eigenes mehr zu sagen gibt? Dass er mit seinem Kompilation Tradition und Moderne versöhnen will, nämlich die ehrwürdige Gattung der Florilegien, der Blütenlesen, mit dem avantgardistischen Biss der Collage? Besser als "versöhnen" passt allerdings "verhöhnen" zu Holbein, dem nordhessischen Waldschrat mit dem enzyklopädischen Kopf. Am besten passt "verhohnepipeln" zu ihm, und das tut er mit diesem Romanunikum mit Geschick und Erfolg. Eine Handlung hat das Buch zwar auch - ein Held, der mal Walter, mal Willi Müller, auch mal Hölzenbein und sehr oft Ulrich oder Uli heißt, macht sich auf, um die Wahrheit zu suchen, also nach schillerscher Tradition den Schleier der Isis zu lüften. Dies aber, weiß der Bildungsbürger, ist noch keinem Sterblichen gelungen. Es gelingt auch Holbeins Helden nicht, und schon gar nicht dem Leser, denn den foppt der Autor, indem er ihm nicht einen, sondern gleich sieben Blicke gewährt: Hinter dem Schleier verbirgt sich - die Ekstase oder der Tod, die Apokalypse oder die Selbstauflösung, also Alles und Nichts. Und damit hat sich auch der Erzählfaden aufgelöst. Thema und Form, die Suche nach der Wahrheit hinter dem Schleier und die Suche nach dem Autor hinter den Zitaten, das fällt hier aufs Schönste zusammen.

    Und aufs Ulkigste. Denn natürlich rollt Holbein in "Isis entschleiert" keinen erkenntnistheoretischen Felsen im Schweiße seines Angesichts steile Erzählhänge hoch. Es ist vor allem ein Spiel, und sein Spiel macht Spaß. Alles hat der Spiel- und Zitiertrieb infiziert, vom Vorwort über die Danksagung, vom Buchumschlag bis zur Biografie des Verfassers (die stammt aus dem Munzinger-Archiv), alles ist aus zweiter Hand, alles schon mal dagewesen. Selbst der Titel: "Isis entschleiert" - so hieß schon eine Abhandlung von H. P. Blavatsky.

    Bei der Wahl der Quellen, aus denen er schöpft, ist Holbein äußerst großzügig. Theologisches, Philosophisches, Literarisches von unterschiedlicher Qualität stehen neben Zeitungsartikeln, Werbesprüchen und Alltagsschnipseln. Holbein zitiert Adorno und den Dalai Lama, die deutsche Bundesbahn und Beipackzettel, Rudolf Steiner und immer mal wieder auch sich selbst. Der Effekt ist meist, wie nicht anders zu erwarten, ein komischer. Wobei die Komik den Zitaten selbst entspringen kann oder ihrem absichtsvollen Ineinanderrasseln. Ein Beispiel für viele: ein in drastischer Detailliertheit geschilderter Liebesakt aus der Feder des Franzosen Guillaume Apollinaire: (..."darunter verschlangen die behaarten Lefzen der Fotz gierig das strotzende Glied, das beim Hochgehen glitschig und fast ganz zum Vorschein kam") und dann unmittelbar Thomas Mann: "- worüber wir aber den Schleier des Zartgefühls und menschlicher Rücksichtnahme werfen".

    Hinter dem Schleier des Spaßes lauert der Ernst, mit der Frage nämlich, ob nicht jeder Satz durch seine Nachbarsätze eine neue Bedeutung erhält, ja ob nicht auch sein Wert von seiner Umgebung geprägt wird. Was aber ist ein Satz, wenn er nur andere reflektiert? Darüber, und auch darüber, ob das Zitat ein traditionalistisches oder eine modernistisches Stilmittel sei, lässt sich mit Holbein trefflich debattieren. Und auch wiederum nicht: Denn was ist noch Zitat, wenn alles Zitat ist? Der Schleier der Isis mag noch zu lüften sein, wenn auch unter Todesgefahr. Der Schleier der Maja ist unzerreißbar (aber schon Schopenhauer, weiß Holbein, hat die beiden verwechselt). Am Ende findet der Autor sogar noch Kraft zu einem furiosen Fugato, einer literarischen Engführung, die Nietzsches Gedanken der "Ewigen Wiederkehr des Gleichen" auf wahrhaft kongeniale Weise illustriert: Durch die ewige Wiederkehr der gleichen Zitate in lediglich wechselnder Reihenfolge, Äußerungen von Meister Eckhart und Heidegger, Ror Wolf und Willi Müller, Milan Kundera und den Berichten des zehnjährigen Ulrich Holbein aus einem Schullandheimaufenthalt: "Nach dem Aufstehen, Waschen, Essen, Draußenspielen, Essen, Ruhen, Draußenspielen, Essen und Waschen gingn wir ins Bett."

    Ein Zitat übrigens habe ich bei Holbein vermisst - gerade weil es sein verrücktes Unternehmen so schön auf den Punkt bringt. Es stammt von dem polnischen Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec und lautet: "Von den meisten Büchern bleiben bloß Zitate übrig. Warum also nicht gleich nur Zitate schreiben?"