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Israels Geschichte in acht Minuten

"Sieben jüdische Kinder", das sind sieben kurze Szenen in acht Minuten, ein Schnelldurchgang durch die Geschichte des israelischen Volkes. Die Dramatikerin Caryl Churchill, 1938 in London geboren, reagiert damit auf die aktuellen Ereignisse in Gaza. Und das Erstaunliche: Trotz dieser Dringlichkeit ist es kein plakatives Agitpropstück geworden, sondern wirkliches, bohrendes Theater.

Von Matthias Thibaut | 07.02.2009
    Ein Theaterstück über den Gazakonflikt hatte gestern abend im Londoner Royal Court Theatre Premiere - eine so schnelle Reaktion auf aktuelle Zeitereignisse ist selbst im wendigen britischen Theater eine Seltenheit. Aber Autorin Caryl Churchill brannte der Stoff offensichtlich unter den Nägeln. Die 70-jährige Autorin ist die Grande Dame unter den englischen Theaterautoren der Nachkriegszeit, seit den 50er Jahren die Speerträgerin eines epischen Zeittheaters in der Tradition von Berthold Brecht - aber sie war auch unter denen, die im Januar vor der israelischen Botschaft gegen die Luftangriffe auf Gaza zogen.

    Kann Theater so schnell erfolgreich auf eine so umstrittene Krisensituation reagieren und mehr erreichen, als Emotionen aufpeitschen? Matthias Thibaut hat die erste Aufführung der Stückes angesehen - das weniger als zehn Minuten dauert.

    Schnelligkeit ist Teil der Wirkung bei diesem Stück. In ihr ist Zorn bewahrt, über das Geschehene, aber auch über die Machtlosigkeit des Theaters. Theater will die Welt ja nicht nur kommentieren, wenn die Ereignisse vorbei sind, es will eingreifen, verändern.

    Von Brecht bis hin zu den Theatergruppen, die in den 80er Jahren auf Londoner Bühnen gegen das Apartheidregime agierten oder den obskureren Stücken über Guantanamo oder Terror, die man jetzt in Londoner Fringe Theatern sehen kann. Aber unterm Strich ist das britische politische Theater in einer Dekade Labourregierung selbstgefälliger geworden: Das letzte große Politikstück von David Hare, "Gethsemane", war ein Flop, weil die Labour Regierung, die da beleuchtet wurde, längst historisch ist. Es fehlte die Dringlichkeit.

    Bei Caryl Churchills Zehn-Minuten Stück kann man das nicht sagen. Es ist aus der Not herausgeboren, jetzt etwas zu sagen, sofort. Selten wurde ein wohl ein Theaterstück so schnell umgesetzt, drei Wochen vom Schreiben zur ersten Aufführung. Es dauerte acht Minuten, wird nach dem regulären Abendprogramm aufgeführt, der Eintritt ist kostenlos. Man findet auf dem Sitz den Text zum Mitnehmen, und jeder darf das Stück kostenlos aufführen, sofern hinterher für die Palästinenser gesammelt wird.

    Und nun das Erstaunliche: Trotz dieser Dringlichkeit, dieser Parteilichkeit, ist es kein plakatives Agitpropstück geworden, kein gefühliger Hilfsappell, sondern wirkliches, bohrendes Theater: Weil das Stück diejenigen reden lässt, die im Zentrum der Anklage stehen - die Israelis. "Sieben jüdische Kinder" - das sind sieben kurze Szenen, sieben Kapitel, ein Schnelldurchgang durch die Geschichte des israelischen Volkes.

    Die Kinder selbst kommen nicht vor, nur die Erwachsenen, die darüber reden, was sie den Kindern - immer Mädchen - sagen sollen. Jeder Satz , von einem knappen Dutzend Schauspielern vorgetragen, beginnt mit "Sag ihr" oder "Sag ihr nicht". Die ersten Sätze gehören ins Konzentrationslager. "Sag ihr, es ist ein Spiel. Mach ihr keine Angst. Sag ihr nicht, dass sie sie töten werden". Die letzten Sätze: "Sag ihr, wir töteten die Babies aus Versehen. Sag ihr nichts über die Armee. Sag ihr, ich bin froh, dass es nicht sie ist", gehören in die Gegenwart.

    Juden werden sich wehren gegen diese Darstellung ihrer Geschichte als einer Verhärtung, in der sie von Opfern zu Tätern, von Verfolgten zu Verfolgern, von Gehassten zu Hassern werden. Aber die Sätze, die da gesprochen werden, führen tief in die Wirklichkeit des Palästinenserkonflikts, weil Churchill mahnt, dass jede Generation der nächsten ihre Geschichte vermitteln und sie rechtfertigen muss.

    Es ist ein genialer, paradoxer Erfolg - weil das Stück nicht nur schnell, sondern auch dauerhaft ist. Weil Anklage in Mit-Leiden und Verständnis, und Agitation und Empörung in echtes Theater verwandelt werden.