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Istanbuls Sommerfrische

Laut, bunt und stickig - das verbindet man allgemeinhin mit Istanbul. Aber es geht auch anders. Die Prinzeninseln bieten eine willkommene Abwechslung vom Großstadttrubel.

Von Stephanie Müller-Frank |
    Noch bevor alle Taue eingeholt sind, scheint Istanbul weit weg: An der Reling drängeln sich die Passagiere, halten ihr Gesicht in die Morgensonne und werfen den Möwen große Brocken Sesamkringel zu. Bunte Kopftücher flattern im Fahrtwind, ein Kellner serviert türkischen Tee in schmalen Tulpengläsern.

    Im Treppenaufgang zum Oberdeck stapeln sich Koffer, Säcke und verschnürte Kisten mit Sonnenstühlen, Spülschwämmen, Tütensuppen. Proviant aus der Stadt, der jetzt bis zum Herbst reichen muss. Zwischen dem Gepäck spielen zwei Jungen fangen, ihre Wangen sind gerötet vom Toben – und wohl auch von der Vorfreude. Auf der Stufe schmust ein Liebespärchen, andere lesen Zeitung, die meisten müssen stehen.

    Auf einer Holzbank in der Kabine sitzt – unbeeindruckt von all dem Gedränge um sie herum – ein Pärchen Mitte siebzig. Während er aus dem Fenster in die Wellen blickt, rückt die ältere Dame unauffällig ihr Kopftuch mit Blumenmuster zurecht.

    "An die Fähre haben wir uns gewöhnt. Für uns ist das wie Busfahren."

    Ihr Bruder nickt zustimmend.

    "Wir fahren mit der Fähre, um unsere Strom- und Wasserrechnung zu bezahlen. Sechs Monate im Jahr leben wir hier auf den Prinzeninseln, auf Heybeli Ada, die anderen sechs in Trabzon am Schwarzen Meer, wo wir herkommen."

    Allerdings kommen die beiden nicht im Sommer – wie all die anderen Feriengäste, die einen freien Tag, eine Woche oder den kompletten Sommer von Juni bis September auf den Inseln verbringen – sondern im Winter. Sobald die Saison beginnt, werden die Geschwister abreisen und ans Schwarze Meer zurückkehren, erzählt Mehmet Ismailoglu, hebt kurz seine weiße Schirmmütze an und wischt sich mit einem Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn. Nicht, weil ihnen hier etwas fehlen würde, sondern weil es ihnen im Sommer schlicht zu heiß – und auch zu voll wird.
    "Wir haben hier eigentlich alles. – Nur wenn plötzlich ein Notfall passiert oder jemand stirbt, dann wird es schwierig. Denn nachts fahren die Fähren nicht."
    Lange Zeit lebten auf den Prinzeninseln nur Möwen und Mönche. Ihren Namen verdanken die Inseln einem Brauch aus byzantinischen Zeiten: Unliebsame Königskinder, die bei der Thronfolge im Weg standen, wurden angeblich auf das Archipel acht Seemeilen vor Istanbul verbannt. Damals muss es hier sehr einsam gewesen sein – bis im Jahr 1846 die Dampfschifffahrt erfunden wurde. Und mit den Schiffen die reichen Griechen Istanbuls kamen, um hier, im Marmarameer, ihre anmutigen Sommerresidenzen zu errichten. So wurden die Inseln nach und nach zum Rückzugsort der Istanbuler Hautevolée: Man fuhr Kutsche, flanierte in lauen Sommernächten entlang der Uferpromenaden und feierte in Kasinos und Kaffeehäusern.

    Rund fünfzehntausend Bewohner leben heute auf den Prinzeninseln, im Sommer steigt die Zahl auf das Zehnfache. Wer die Hitze, den Lärm, das Chaos Istanbuls nicht länger erträgt, der ersteht einfach eine Fahrkarte für den Preis von zwei Bustickets und macht sich auf zum Schiffsanleger. Keine Stunde braucht die Fähre bis zu den neun Inseln, die sich im Marmarameer wie eine Perlenkette aneinanderreihen. Schon von weitem sind die bewaldeten Hügel, die einsamen Buchten und am Hang aufsteigenden Holzhäuser zu erkennen. Noch aber sind die meisten Fensterläden verschlossen, die prächtigen weißen Villen mit ihren Badestegen wirken aus der Ferne wie eingemottete Filmkulissen.

    Endlich legt die Fähre in Buyük Ada an. Noch bevor man eine Kutsche sieht, hört man sie. Und riecht sie – oder besser gesagt: die Pferde. Es müssen eine Menge sein. Ein ganzer Fuhrpark. Und tatsächlich: Direkt hinterm Schiffsanleger stehen die Kutschen in Reih und Glied. Fünf nebeneinander, dahinter noch mal jeweils zehn.

    Die Pferde ruhen aus, fressen Hafer aus Säcken, die ihnen um den Hals geschnürt sind. In einigen Kutschen haben sich die Fahrer zu einem kurzen Nickerchen ausgestreckt. Die meisten Kutscher aber sitzen auf kleinen Höckerchen im Schatten, trinken Tee und spielen Rummy.

    "Wir müssen alle warten, bis wir an der Reihe sind. Dort oben sitzt der Chef. Wenn du ankommst, schreibt er deine Wagennummer auf seine Liste. Und sobald du dran bist, ruft er deine Nummer auf. Dann kann es losgehen. Schau, jetzt ruft er die 72 auf – die Zulassungsnummer steht hinten auf der Kutsche. Jetzt ist also der Kutscher mit der 72 an der Reihe und kann neue Fahrgäste einsteigen lassen."

    Nedim Caner sitzt auf dem Bock seiner Kutsche und liest Zeitung. Vom Sonnendach, das rundum mit Fransenbordüren verziert ist, baumelt ein runder blau-grüner Glasstein: In der Türkei ein beliebter Talisman gegen den bösen Blick. Der darf in keinem Taxi – und so auch in keiner Kutsche – fehlen. Einige sind darüber hinaus noch mit einer türkischen Flagge im Fond geschmückt. Die Sonne hat die hellblauen, mintgrünen oder zuckerwattenrosa Polster der Droschken ausgeblichen. Autos sind auf den Prinzeninseln verboten. Und so, sagt Nedim Caner, sind die Kutschen hier kein Relikt, das nur noch Touristen benutzen.

    "Arme Leute, reiche Leute, Politiker – jeder fährt hier Kutsche. Es ist das Taxi der Inseln, und auch das Privatauto. Nur die Touristen finden es aufregend, Kutsche zu fahren. Die Menschen hier fahren morgens mit der Kutsche zur Arbeit und abends zurück. Oder sie lassen ihren Besuch von mir am Fähranleger abholen."

    Die Stammkunden sind, neben den Touristen, die wichtigste Einnahmequelle für Nedim Caner. In den drei, vier Monaten, die die Saison auf den Inseln dauert, fährt er von früh bis spät Kutsche, sieben Tage die Woche. Denn im Winter muss ich von dem leben, was ich im Sommer eingefahren habe, sagt der 32-Jährige und streicht sich über das gebügelte Hemd. Sein Schnauzer ist akkurat gestutzt, der Akzent verrät seine anatolische Herkunft. Die Kutsche hat ihm sein Vater vererbt. Trotzdem musste er noch einen offiziellen Führerschein machen.

    "Man nimmt Fahrunterricht – so wie für einen gewöhnlichen Autoführerschein. Und am Ende macht man eine Prüfung wie beim Autofahren. Sehen Sie, hier sind meine beiden Führerscheine: Das hier ist mein normaler Führerschein und das ist der für die Pferde: Der Kutscherführerschein."

    In Zukunft sollen die Kutscher auch einen Englischkurs absolvieren, um sich besser mit den ausländischen Touristen verständigen zu können. Viele seiner Kollegen lehnen das ab, Nedim Caner freut sich darauf. Er spricht gerne mit Menschen von überall her. An seinen Sohn will er den Beruf aber nicht weitergeben.

    "Nein, mein Sohn soll studieren. Wir konnten das nicht, als wir jung waren. Droschke fahren hat eine lange Tradition und ist ein schöner Beruf – aber es ist keine regelmäßige Arbeit. In den drei Monaten verdient man nicht genug fürs ganze Jahr. Und die Pferde muss man ja auch den Winter über versorgen."

    Über den Lautsprecher ertönt die Nummer von Caners Kutsche. Die Fahrt kann losgehen. Er nimmt die Zügel auf und lässt seine beiden Schimmel lostraben. Die Fransen beginnen zu wippen, der laue Fahrtwind greift einem sanft in die Haare.

    Es geht vorbei an hölzernen Villen mit geschnitzten Säulen, ausladenden Veranden und Balkonen. An einigen Häusern blättert das morsche Holz ab, die meisten aber strahlen in weiß, gelb, rosa. Und warten mit geschlossenen Fensterläden auf die Ankunft der Sommerfrischler aus Istanbul.

    Die Straße führt aus dem Ort heraus in einen duftenden Pinienhain, der sich langsam den Hügel hinaufwindet. Die Pferde fallen in Galopp, der Kutscher lässt sie laufen. Fayton heißen hier die Droschken – benannt nach dem griechischen Gott, der sich für einen Tag den Sonnenwagen seines Vaters ausleiht und ihn gen Himmel lenkt. Hier sind die Hufe der Pferde ganz irdisch mit dicken Stücken von Autoreifen beschlagen, damit sie sich möglichst lautlos bewegen. Staatsgründer Atatürk persönlich hatte im Jahr 1928 das Autoverbot verhängt – so sehr liebte er die Stille auf den Prinzeninseln.

    So schwer es fällt, die Kutsche zu verlassen – das letzte Stück hinauf zur griechisch-orthodoxen Wallfahrtskirche Hagios Giorgios muss man zu Fuß zurücklegen. Und alle Touristen – ob Türken oder Ausländer, ob Muslime, Christen oder Juden – halten sich daran. Denn nur dann, so heißt es, darf man sich etwas wünschen. Vielleicht ist der Weg aber schlicht zu steil für die Kutschen.

    Oben angelangt erfüllt der Blick alle Wünsche: Über die Wälder der Nachbarinseln reicht er, über den Bosporus, über die zubetonierten Hügel der Vororte auf der asiatischen Seite bis hin zur Altstadtkulisse von Istanbul. Kein Wunder, dass die Teestube mit Aussicht weitaus besser besucht ist als die Wallfahrtskirche.

    Vier Frauen kommen aus der dunklen Kirche und zücken ihre Sonnenbrillen. Sie haben Kerzen angezündet, erzählt eine von ihnen, auch wenn sie alle vier Musliminnen sind. Kann nicht schaden, sagt Yadigar Köseogl und lacht. Aber jetzt folgt das eigentliche Ritual, für das sie hergekommen sind: Sie holt ein Stück Stoff aus der Tasche, schneidet es in vier Streifen und verteilt es unter den Frauen.

    "Wir schneiden das für unsere Wünsche – ein Stück Stoff oder Papier. Das binden wir dann um einen Baum, damit unsere Wünsche in Erfüllung gehen. Und wenn sie das tatsächlich tun, dann kommen wir nächstes Jahr wieder her und verteilen Zucker an die anderen Leute, um unseren Dank zu zeigen."

    Die vier sind Kolleginnen, Lehrerinnen aus Istanbul. Eine nach der anderen knotet ihr Stück Stoff an einen der Pinienbäume auf dem Hügel. Die sind bereits über und über behangen mit bunten Stoffstreifen, die Enden flattern munter im Wind. Mujgan Yilmaz sucht eine freie Stelle, hält kurz inne und macht einen Knoten in den Stoffstreifen.

    "Wir Frauen wünschen uns natürlich, dass unsere Töchter einen guten Ehemann finden – oder unsere Söhne eine gute Frau. Man kann sich aber auch wünschen, dass man ein Examen besteht, ein Haus findet oder einen Job. Alle Arten Wünsche sind möglich. Ich habe mir etwas für meine Tochter gewünscht – für ihr Glück."

    Was genau sie ihrer Tochter gewünscht hat, darf sie natürlich nicht verraten. Mujgan Yilmaz schüttelt ihre dunklen Locken. Denn dann geht der Wunsch ja nicht in Erfüllung. So, Zeit für ein Picknick, ruft sie den anderen zu und hält Ausschau nach einem Plätzchen mit schönem Blick.

    Von hier oben, auf der Spitze des Hügels, wirken die Kiesstrände und einsamen Buchten auf der Nachbarinsel Heybeli Ada besonders idyllisch. Fünf junge Männer aus den Niederlanden haben sich Fahrräder geliehen, um sie zu erkunden. Nur an Proviant haben sie offenbar nicht gedacht. Ein Café oder ein Supermarkt am Straßenrand aber gibt es nicht. Dafür Ramaszan. Der Elfjährige sitzt auf einer verlassenen Steinmauer fernab vom Hafen – zu seinen Füßen ein Wägelchen, das die Frauen hier sonst für ihre Markteinkäufe hinter sich herziehen. Als die Radler um die Kurve biegen, springt er schnell von der Mauer, holt mehrere Wasserflaschen hervor und verkauft sie routiniert an die erstaunten Touristen. Als die wieder auf ihre Räder steigen, lässt er sich ein paar Worte entlocken.

    "Eigentlich mag ich die Touristen nicht so. Die lassen ihre Abfälle überall liegen und machen Lärm. Die tuten mit ihren Hörnern auf den Rädern oder klingeln die ganze Zeit, wenn sie an Häusern vorbeikommen. Aber wenn sie nicht kämen, könnte ich auch kein Wasser verkaufen. Die kaufen alles: Wasser, Cola, Saft und Fleisch für ihre Picknicks, fürs Grillen."

    Obwohl er erst elf ist und seine Hose ein Loch ziert, wirkt Ramaszan überhaupt nicht verlegen. Immer wenn er schulfrei hat, erzählt er, kommt er hierher, um sich etwas Geld zu verdienen.

    Plötzlich kommt eine Kutsche um die Kurve gebogen. Ohne Fahrgäste. Ob Ramaszan auch schon mal mit einer gefahren ist? Auf die Frage hin schnalzt er verächtlich mit der Zunge und reckt stolz sein Kinn in die Luft.

    "Warum sollte ich mit einer Kutsche fahren? Ich habe doch ein Fahrrad. Für die Kutsche müsste ich ja bezahlen. Und oft gibt es auch Unfälle – wenn sie die Pferde einfach nicht stoppen können. Die haben ja keine Bremse."

    Ramaszan ist auf Heybeli Ada geboren, sein Vater arbeitet hier als Lastenträger. In Istanbul war er zwar schon mal, aber er mochte die Stadt nicht.

    "Ich finde es schöner hier auf der Insel. Hier fahren keine Autos und es ist so still."

    Ein Schmetterling setzt sich auf seine linke Hand, Ramaszan ermuntert ihn sanft zum Weiterfliegen und klatscht einmal in die Hände. Zurück zur Arbeit. Neues Wasser holen.

    Auf den Hügeln von Heybeli Ada liegen zwei Friedhöfe direkt nebeneinander: Der eine ist der muslimische, der andere der griechisch-orthodoxe Friedhof. Seit dem Zypern-Konflikt 1974 ist sein Gitter am Eingang mit einem Vorhängeschloss verriegelt. Damals verließen die meisten Griechen die Prinzeninseln. Aber auch schon vorher wurde die Utopie von einer kosmopolitischen Gesellschaft auf den Inseln zerstört: Erst der Genozid an den Armeniern 1915, dann der Istanbuler Pogrom gegen seine griechischen Bewohner 1955, die Ausweisung aller Griechen ohne türkischen Pass neun Jahre später. Viele Holzvillen verwaisten – der Gräber ermächtigte sich das Unkraut.

    Heute haben die meisten Holzvillen neue Besitzer, aber auch auf dem muslimischen Friedhof sind viele Gräber von Gras überwuchert und scheinen der Natur überlassen. Die Alteingesessen wollen auf der Insel begraben werden, erzählt Ferit Kara, während er mit einer Hacke die trockene Erde auflockert, aber ihre Kinder sind meist weggezogen – in die Stadt oder ins Ausland. Der Mann Ende 30 kommt ein bis zweimal im Monat mit der Fähre von Istanbul nach Heybeli Ada, um hier auf dem Friedhof frische Gräber auszuheben – je nach Bedarf.

    "Es ist etwas umständlich, hierher zu kommen. Es ist so weit weg. Bis man hier ist und wieder zurück, das dauert. Und wenn du das Boot verpasst, musst du eine ganze Stunde warten. Es ist nicht so wie ein Minibus, der jede Minute fährt. Mittlerweile kenne ich den Fahrplan auswendig und verpasse die Fähre nicht mehr."

    Der Friedhofsgräber arbeitet lieber in der Stadt – da spart er sich den Anfahrtsweg. Auch wenn viele ihn um seinen idyllischen Arbeitsplatz beneiden. Ferit Kara grinst verlegen, sein Gesicht ist von der Sonne gegerbt, trotz der schweren, körperlichen Arbeit wirkt er eher schmächtig.

    "Letztlich ist die Arbeit dieselbe. Mir ist es gleich, ob ich die hier mache oder woanders. In Istanbul ist meine Arbeit nicht anders. Auch da ist es friedlich und still auf dem Friedhof. "

    Ferit Kara setzt sich auf den marmornen Grabstein und zündet sich eine Zigarette an. Über den Gräbern wiegen sich die knorrigen Äste der Pinienbäume im Wind – und immer wieder blitzt zwischen ihnen das Türkisblau der Wellen hervor.

    "Wenn ich Zeit habe, rauche ich eine Zigarette mit Blick aufs Meer. Ich schaue aufs Wasser und ruhe mich kurz aus."