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Jack Freak Pictures

120 Werke zeugen von der Faszination für das Stereotype, der Union Jack symbolisiert Sehnsucht und Horror gleichermaßen. Die riesige Serie Jack Freak Pictures des Künstlerpaar Gilbert and George ist nun zum ersten Mal nahezu vollständig zu sehen.

Von Carsten Probst | 24.02.2011
    Die Ankündigung der Hamburger Deichtorhallen hat sich nicht als Übertreibung erwiesen. 120 zumeist großformatige Arbeiten von Gilbert & George verwandeln die Nordhalle in eine Art bizarrer Kathedrale. Die wie üblich in kleine Tableaus aufgeteilten Bilder mit ihren unzählig wiederholten Motiven haben tatsächlich etwas von Kirchenfenstern. Die schiere Masse an Motiven und Bildern, der ständige Wechsel aus symbolischer Überfrachtung und Redundanz lässt den Besucher zunächst abprallen, ehe man in den zirkulierenden Bilderkosmos der beiden Künstler hineingesogen wird. Die beiden Gentlemen sind selbst da in Freizeitanzügen in gedecktem Braun und Grün, sie posieren für Kameras und zelebrieren ein paar Figuren aus ihrer Vergangenheit als Living Sculptures. In immer gleichen Haltungen setzen oder stellen sie sich auf, als seien sie eine jeweils nicht ganz perfekte Kopie des anderen. Wer ihre Bilderserien kennt, der ahnt, dass sie das Spiel mit Kopie und Sampling seit den siebziger Jahren zur monströsen technischen Perfektion getrieben haben.

    In Hamburg ist nun also zum ersten Mal die riesige Serie der Jack Freak Pictures nahezu vollständig zu sehen. Gilbert & George kennt man, aber wer zum Teufel soll dieser Jack Freak sein?
    Wie immer sind es die Künstler selbst. Oder genauer gesagt: Jack Freak ist überhaupt keine Person, sondern ein Zustand, ein zwischen Geschichte und Gegenwart delirierendes Bewusstsein. Es verliert sich in der Sehnsucht nach Zugehörigkeit und gesellschaftlicher Geborgenheit einerseits und den Chimären des Nationalismus und Militarismus, der staatlichen Repression und des Renegatentums andererseits. Sehnsucht und Horror symbolisieren sich gleichermaßen im Union Jack, der britischen Staatsflagge, die mehr oder weniger explizit in den meisten der Bildtafeln auftaucht, einmal als Anzugmuster, einmal als Straßenbelag, als wilde, baumgleiche Verästelung im Hintergrund oder als patriotisch-religiöses Mandala in einer großformatigen Rosette. Jack Freak Pictures sind eine zwanglose, nicht chronologisch gehängte Folge von Zustandsbeschreibungen, in die Gilbert & George immer wieder als Protagonisten der Stimmung eintreten. Einmal in ihrer normalen Gestalt gestikulierend: lakonisch, humorvoll, furchtsam, beobachtend. Dann monströs verzerrt zu Robotern, Monstern, Kugelgesichtern, die sich auf Schulhöfen, öffentlichen Plätzen, in den Straßen des Londoner East End herumtreiben oder Tänze und merkwürdige Figuren aufführen.

    Sie werden umgeben von Attributen der Britishness, der Tradition viktorianischer Sportmedaillen, den Orden des Empires, der Natursymbolik, den staubigen Straßen der Stadt. Mit heraldischen Symbolen haben sich Gilbert & George schon früher gern umgeben, aus schierer Faszination für das Stereotype, für die Symbolik der Macht und ihre ornamentale Strenge. Der Union Jack, selbst ja so etwas wie ein Sampling aus mehreren Flaggen, oszilliert zwischen Herrschaftszeichen und abstraktem Ornament, aus dem die Kompositionen der Bilder von Gilbert & George hervorwuchern. Und je länger man sich zwischen diesen wuchernden, konvulsivischen und zugleich so überaus fein berechneten Großtafeln herumtreibt, desto mehr vermittelt sich der ungeheuerliche Energiestau, der ihnen eigen ist, die Kraftanstrengung, innerhalb des immer selben Bildrasters Vergangenheit und Gegenwart, Tradition und Moderne, Sehnsucht und Horror irgendwie zusammenzubringen.

    Aber das Ergebnis dieses skurril anmutenden Vorhabens ist keine Versöhnung, keine überzeitliche Bildformel, sondern eine Explosion der Bilder, eine Entfesselung der ihnen innewohnenden Kräfte. Das Ergebnis dieser Entfesselung ist, wie immer bei Gilbert & George, unbekannt.