So fängt der berühmte Roman Jacob und sein Herr von Denis Diderot an. So könnten wir 200 Jahre danach immer noch anfangen: Anybody out there? Hallo, hört mich da jemand? Und wie kommen wir zueinander? Natürlich von ohngefähr wie das gewöhnlich der Fall ist. Wer sind Sie denn? - Wer sind Sie denn?, könnten Sie ja jetzt fragen. Und ich stelle mir mal vor, Sie führen auf der Autobahn von Köln nach Bergisch Gladbach im lifestylefarbenen Opel-Corsa. Und womöglich haben Ihnen die einführenden Ausführungen des dienstführenden Redakteurs gefallen. Und im diffusen Dunst eines funktionstrüben Sonntagnachmittags gefällt Ihnen die Vorstellung, ein gutes Viertelstündchen lang den geistigen Abenteuern des Abendlandes zu lauschen. Aber, seien Sie ehrlich, würden Sie auf die Frage, wer Sie sind, wohin sie fahren, und worum es sonst so geht, sich zu so neckisch beliebigen Antworten hinreißen lassen wie: weißmansje? oder naund? oder seisdrum oder ungefährzufällig? Gewiß doch nicht. Sie wissen schließlich, daß Sie 35 Jahre alt sind, blond - aber deshalb noch lange keine Blondine, zischeln Sie dem Radioquasselkopp zu. Außerdem höre ich Sie sagen: Ich höre gerade Radio, wo von mir die Rede ist, außerdem besuche ich meine Mutter, die ein bißchen kränkelt. Und ich hier am Mikrophon, der ich Sie gar nicht kenne, ich denke mir, Sie ärgern sich außerdem vielleicht gerade über so einen BMW-Fuzzi, der so dicht auffährt, um vielleicht endlich mal etwas anderes zu berühren als seinen rasenden Autonomiekäfig. Und womöglich geht Ihnen durch den Kopf, daß Ihr redseliger Liebesgefährte gerne von Diderot schwämt. Zugegeben - alles Spekulation. Aber weiß man's? Außerdem kennen wir uns gar nicht und werden uns mutmaßlich auch nie treffen. Aber, reizende Dame im lifesylefarbenen Opel Corsa, ich werde Ihnen noch kurz eines der bestgehütetsten Geheimnisse unserer Zivilisation verraten: Sie haben keine Ahnung, wer Sie denn nun sind, bzw. Sie haben nur Ahnungen oder vielmehr Sie sind viele: Eine, die mir lauscht und zugleich von BMW-Fahrern genervt wird, Sie sind Autofahrerin und Tochter, die ihre Mutter besucht, eine 35jährige, blond, wenn auch nicht Blondine, und vielleicht tragen Sie ja auch ein Kind unterm vielzitierten Herz, ohne es bereits zu wissen. Sie sind viele. Beinahe möchte ich sagen: eine endlose, allerdings auch grundlose Hypothese. Die Beweggründe, die sie dazu bringen, Ihren Opel durch eine zwar schwer beschilderte, aber deshalb noch lange nicht verständliche Gesellschaftslandschaft zu steuern, können Sie sich aussuchen, aber ihre Wahl werden Sie nur durch eine neue Wahl erklären können. Kurz, Sie sind ein schlechter Kronzeuge ihrer selbst. Aber andere gibt es nicht. Keiner weiß, wer Sie sind. Bis über Ihr Ende hinaus werden von Ihnen stets nur konkurrierende Versionen kursieren.
Bevor ich mich jetzt von Ihnen verabschiede, liebe Unbekannte, die mir schon fast ans Herz gewachsen ist, auch wenn ich Sie nur erfunden habe, um die Frische eines ziemlich alten Buches im anekdotischen Spaziergang zu demonstrieren, bevor ich Sie also ihrem Schicksal überlaße, versichere ich Ihnen: Ich wollte Sie nicht erschrecken. Allein, es war unvermeidlich, denn auf unserem von Kontrolltürmen überschatteten Lebensgelände und in unserer apparatebestückten Welt gilt allein der Gedanke, wir befänden uns auf einem langen Blindflug durchs Labyrinth als sicheres Anzeichen keimenden Irrsinns. Adieu, meine Liebe, gleiten Sie ruhig dahin. Die Zeiger der Armaturen beruhigen Sie. Wenn die Sonne mal kurz hinter den Wolken verschwindet, spiegelt sich vielleicht Ihr Gesicht auf dem Glas des Tachos: Es sieht so aus, als hätten Sie die Kontrolle und wüßten, was Sie kontrollieren - doch: wer sind Sie: Kapitänin oder Gast?
"Und ich lege hier meine Feder nieder; (...) Laut gewissen Schriften, die ich in Händen halte, könnte ich zwar das Fehlende ielleicht ergänzen; aber wozu das? Man kann sich nur für das interessieren, was man für wahr hält. Indes weil es zu kühn sein würde, ohne weitere Untersuchung über die Gespräche Jakobs, des Anhängers von dem System des Fatalismus, und seines Herrn, ein Urtheil zu fällen (...), so will ich diese Memoiren mit aller der Anstrengung des Geistes und aller der Unparteilichkeit, deren ich fähig bin, von neuem durchlesen, und nach acht Tagen euch, meinen Lesern, mein Endurtheil bekannt machen, wobey ich mir aber voraus bedinge, meine Meinung zurücknehmen zu dürfen, sobald ein Klügerer mir beweist, daß ich mich betrogen habe."
"Am Ende der bunten und köstlichen Odyssee von Jakob und seinem Herren hüllt sich der Erzähler all der kuriosen Begebenheiten und Räuberpistolen in Skepsis. Alles entspräche nur einem vorläufigen Kenntnisstand, der überdies bloß persönlich und methodisch nicht gesichert sei. Und ich darf den künftigen Leser schon jetzt darauf vorbereiten, daß eine ganz entscheidende Sache nicht berichtet wird, nämlich Jakobs Liebesgeschichte. Zwar hebt er hundertmal an, Sie zu erzählen, aber ebenso oft wird er unterbrochen, fällt ihm sein Herr ins Wort oder ein überraschendes Ereignis in die Parade. Denn Jacob und sein Herr palavern nicht auf der Bühne der Philosophie, sondern beim Durchstreifen der Welt und auf der Suche nach Jacobs Liebesgeschichte.
Da meine rollende Zuhörerin bald in Bergisch Gladbach angekommen sein wird, bleibt mir nicht genug Zeit von diesem Paar zu schwärmen, daß gegen Ende des 18. Jahrhunderts schwatzend durch die Gegend reitet und in aller, aber wirklich aller Beiläufigkeit die Welt auf den Kopf stellt. Dabei kommen keineswegs revolutionäre Phrasen über ihre Lippen. Im Gegenteil, der Herr verprügelt gelegentlich seinen Diener, den das manchmal schert und manchmal nicht. Das ist seine Freiheit, die indes über durchaus erhebliche Machtmittel verfügt. Denn der Herr ist ohne seinen Diener nichts. Wenn der Knecht nicht spurt, kann der Herr ihn totschlagen, aber über wen wäre er dann noch Herr? Und wenn er selbst sein Pferd striegeln muß was unterscheidet ihn dann noch vom Knecht?
Nicht umsonst heißt Jakob Jakob und nicht bloß Knecht, der Herr aber bloß und immer nur Herr, denn Jakob kennt die Macht seiner Knechtschaft. Er ist Individuum, der Herr soziale Rolle. Und meine blonde Corsa-Lenkerin wird jetzt denken: Na bravo, die Sklaven sind frei, leider in Ketten, was kriegt die Radiostimme eigentlich vom Arbeitgeberverband? Leider nichts, darf ich sagen, möchte allerdings die Hoffnung hinzufügen, daß etwas mehr Sinn für die Dialektik der Freiheit solche Verbände teurer zu stehen käme als die mechanischen Aufwallungen bleicher Sozialdemokratie. Außerdem ist der Diener Jakob nicht glücklich als Diener, sondern weil er nicht Herr ist, sondern Herr seines Herrn. Und nebenbei bemerkt, es geht hier nicht um eine Betriebsanleitung für die neue oder alte Mitte, sondern um einen Roman, der davon erzählt, daß die Dinge nichts mit ihrem Namen zu tun haben oder mit dem, was sonst noch draufsteht. Auf ihrem denkwürdigen Ritt durch das Frankreich ihrer Tage begegnen die beiden Nachfahren von Don Quixotte und Sancho Pansa auf Mönchen, Huren, Räubern, die selten ihren Berufsbezeichnungen Ehre machen. In Diderots Roman beginnt, was den französischen Roman noch mindestens ein Jahrhundert lang unter dem Dampf schier unerschöpflicher Erregung hält: die staunende Besichtigung der real exisitierenden Wirklichkeit, die Landvermessung in Prosa. Es beginnt damit überhaupt der Siegeszug der Gattung Roman.
Was allerdings für Diderot so auch nicht ganz stimmt, denn auf dem Umschlag von Jakob und sein Herr steht gar nicht Roman drauf. Allerdings mischt sich unüberhörbar ein Erzähler in den Dialog von Jakob und seinem Herrn ein. Frank und frei bekennt er sich als Erfinder seiner beiden plaudernden Helden und läßt uns teilhaben an den technischen Problemen eines Erzählers, der erwägt, seine Helden in einen Unfall oder in eine tolle Liebesnacht zu verwickeln, um sie dann doch lieber in eine wilde Prügelei zu schicken, an deren Ende er uns bekundet, er wüßte auch nicht, warum die Geschichte jetzt so gelaufen wäre. Was für ein Erzähler, der solche Hinweise gibt: "Es ist klar, wie der Tag, daß ich keinen Roman schreibe, weil ich das aus der Acht lasse, was ein Romanschreiber zu nutzen gewiß nicht ermangeln würde. Wer es für wahr nimmt, was ich da sage, irrt vielleicht weniger, als wer es für Mährchen hält."
Zweihundert Jahre später werden sogenannte Nouveaux Romanciers aus Frankreich, die sich dann in der ganzen Welt fortgepflanzen, ehrfürchtig bestaunt und mit Preisen überhäuft, weil sie mit genau jener Poetik von Diderots Erzähler die furchterregenden Programme einer umstürzlerischen literarischen Avantgarde konstruieren, die nie jemanden verwirrt und nie das Geringste umgestürzt haben. Allerdings möchte ich damit nicht behaupten, Diderots Roman sei immer noch aktuell oder mindestens so aktuell wie heutige Erzählkunstakrobaten. Ich würde eher sagen, er steht uns erst noch bevor, sollten wir je auf die Idee kommen von der Literatur anderes als ihren alimentierten Schwanengesang zu verlangen. Diderot jedenfalls wollte nämlich gar keine Kunst machen und schon gar nicht die Literatur zu einer Enklave seelischer Lustbarkeit in einer tüchtig funktionierenden Welt. Der Glaube an die Kunst als Nachfolgeorganisation der Religion fehlt ihm ganz - so verblüffend ganz, daß man glaubt, das Abendland hält mal die Luft an. Und in seinem Artikel über Kunst in der großen Enzyklopädie hält Diderot böses Gericht über die wertende Einteilung der Künste in freie und mechanische:
"Dieser Unterschied, obwohl gut begründet, rief eine schlechte Wirkung hervor; denn er setzte das Ansehen sehr achtbarer und nützlicher Menschen herab und bestärkte uns in einer natürlichen Faulheit, die uns schon von vorneherein allzu sehr zu dem Glauben neigen ließ, daß eine beständige, ununterbrochene Beschäftigung mit wahrnehmbaren, materiellen Einzelgegenständen eine Entwürdigung des menschlichen Geistes bedeute und daß die Ausübung, ja sogar das Studium der mechanischen Künste erniedrigend sei, weil die Erforschung solcher Gegenstände mühsam, das Nachdenken über sie unedel, ihre Darstellung schwierig, ihr Austausch entehrend, ihre Zahl unerschöpflich und ihr Wert gering sei. (...) Dieses Vorurteil trug dazu bei, die Städte mit hochmütigen Schwätzern und unnützen Betrachtern und das Land mit unwissenden, faulenzenden und anmaßenden kleinen Tyrannen zu füllen. (..) Man hat die Männer, die uns eingeredet haben, wir seien glücklich, weitaus mehr gelobt als die Menschen, die dafür gesorgt haben, daß wir tatsächlich glücklich wurden. Wie wunderlich sind doch unsere Urteile! Wir fordern, daß man sich nützlich mache, und verachten die nützlichen Menschen."
Inzwischen, meine sehr verehrten Hörerinnen und Hörer, hat mich unsere blonde Opel-Corsa-Pilotin per Handy wissen lassen, ihr reiche es allmählich. Erst preiste ich diesen Diderot an, weil in seinem Roman bis zum Schluß Jakobs Liebesgeschichte nur angefangen wird, doch sie möchte allmählich mal erfahren, was denn daran toll sein soll und was denn sonst eigentlich in diesem Roman steht. Noch zwei Minuten, dann drehe sie mir den Redehahn per Sendersuchtaste ab. - Gemach, Verehrteste, ich freue mich, daß wir jetzt über das Geschwirr des Äthers doch so eng aneinander geraten sind, - beinahe hätte ich gesagt: von ungefähr. Doch ich will Sie nicht provozieren, wohl aber meinerseits zurückfragen: Wissen Sie mittlerweile, wer Sie sind? Kommen Sie mir bitte nicht mit den Geschichten, die Sie für Gründe halten. Das hatten wir schon. Und sehen Sie, genau davon handelt Diderots Roman, der kein Roman sein will: daß wir das nicht können - uns in die Deckung irgendeiner Wahrheit bringen. Jakob - der gewitzte Held - kennt eigentlich nur eine reichlich schlichte Lebensmaxime, und die verdankt er auch noch seinem früheren Hauptmann, der erkannt zu haben glaubte, daß alles, was uns hernieden Gutes oder Böses begegne, dort oben geschrieben stehe. Das klingt sehr streng und klingt nach allem, was das Abendland seit 2000 Jahren bis heute zusammenhält: Irgendwo modert die Schriftrolle der Wahrheit, aber deren Text verstehen nur Päpste, Kaiser oder Philosophen - denen heute die Dreifaltigkeit von Dichtern, Bankern und Experten entsprechen mag. Aber Jakob, dem es erschreckend an dienender Demut fehlt, zieht daraus einen atemberaubend anderen Schluß:
"Weil man, in Ermangelung an Kenntnis von dem, was dort oben geschrieben steht, weder weiß, was man thun soll, noch was man thut, und seinen Grillen folgt, die man Vernunft nennt, oder seiner Vernunft, die oft nichts weiter ist, als eine gefährliche Grille, welche bald zum Guten, bald zum Bösen ausschlägt."
Lassen Sie also ruhig Ihr Handy zirpen, liebe lifestylemobile Dame jetzt kurz vor Bergisch Gladbach: welche Grille hüten Sie denn gerade? Sind Sie nicht deshalb so sauer, weil ich Ihnen keine sauber abgepackten Erkenntnisse oder Wallungsblumen überreiche? Sie machen sich doch beinahe in Ihre adretten Strumpfhosen, wenn sich Ihnen auf leisen Socken die Ahnung nähert, daß Sie keine Ahnung von sich haben. Kein Text. Nirgendwo, wo Ihr süßes letztes Geheimnis eingeschrieben stünde. Und wissen Sie, warum ich diesen Diderot so liebe und seine Romane, die keine sind: Weil keine Zeile den Göttern abgetrotzt ist, an die Sie, Verehrteste, zwar auch nicht mehr glauben, aber ohne die sie sich gleich im Meer schwarzer Gleichgültigkeit versinken fühlen. Sie harren im Zustand der Erbsünde. Oder modern gesprochen: Sie laufen als ungedeckter Scheck durch die Welt. Sie harren der gerechten Strafe, aber einstweilen halten Sie es für Ihr Verdienst, daß man sie noch nicht aufgespürt hat.
Nichts Letztes wissen zu können, heißt im schönsten Sinne, nicht im Schatten der ewig ausstehenden Wahrheit leben zu müssen. Was Sie, liebe wütende Hörerin, die ich Sie dennoch bitte bei Ihrem nächsten Anruf eine Nummer zwecks weiterer Klärung zu hinterlassen, was Sie von Jakob lernen könnten, ist Leben ohne Gebrauchsanweisung und Sinngerichtshöfe. Dafür allerdings gibt es keine Gebrauchsanweisung und deshalb lehnt der Erzähler von Jacob und sein Herr jede Zuständigkeit für Ihre Erbauung ab. Er hat Ihnen nichts zu erklären und möchte Sie nicht bezirzen mit den Tröstungen einer Geschichte, wo sich alles fügt, weil er die Welt nicht zeigt, sondern zeigt, wie er sie produziert, wie Jakob mit der Welt in Berührung kommt, weil er sie für seinen Herrn betritt, während der Herr das Schicksal dessen erleidet, der von der Welt nur in Kenntnis gesetzt werden will. Wissen Sie, bei Diderot finden Sie in schönster und leichtester Form den ketzerischsten Traum der ganzen Welt: Leben ist kostbares Vergehen. Und übrigens bekomme ich durchaus Lust - von ungefähr natürlich - mit Ihnen zusammen, kostbar zu vergehen. "Weil er es war, weil ich es war", heißt es bei Montaigne über die Freundschaft. Könnten Sie das als Liebe leben?
Ich gebe zu, jetzt werde ich zu privat und beginne die Fäden zu verwirren, deren Tragkraft ja alleine darin besteht, daß mir irgend jemand seine geneigte Aufmerksamkeit schenkt. Ehrlich gesagt, liegt die Schwierigkeit auch ein wenig an Diderot oder vielmehr daran, daß er unvorstellbar quer zu unseren Weltbildern steht. In der Enzyklopädie lobt er grimmig die Nützlichen und warnt vor den selbsternannten Abgesandten des Tiefsinns. Ja, aber wo rangiert denn Denis Diderot selbst auf diesem Feld? Gehörte er nicht zu denen, die ihrem Jahrhundert das neueste Licht der Erleuchtung angezündet haben: die Aufklärung, ein Meisterwerk philosophischer Schöpferkraft. Vielleicht war Diderot nicht nur der erleuchtetste Kopf des Erhellungsunternehmens, mit einiger Sicherheit war er der Nützlichste und der Fleißigste, denn er hat in jener vielbändigen Antibibel der Aufklärung nicht nur fleißig geschrieben, sondern die große Enzyklopädie sogar mitherausgegeben. Das hat ihn nicht nur ins Gefängnis, in tausenderlei obrigkeitstaatliche und permanente finanzielle Schwierigkeiten gebracht; in seinen naturwissenschaftlichen, technischen, philosophischen und literarischen Werken steckt ein unermeßliches Arbeitspensum, aber kein Hauch von Faustischem. Man hat gesagt, die Enzyklopädie habe das Wissen ihrer Zeit anschaulich zusammengefaßt und zugänglich gemacht. In Wahrheit hat sie jede frühere Vorstellung von Wissen überschritten und ihren Begriff verändert. Bis ins kleinste Informationsdetail lassen die vielen Bände des Lexikons die Welt aus der Welt entstehen. Kein Gott weit und breit, auch keine Dämonen, keine Säfte des Guten oder andere Garantiemächte. Die Welt besteht aus ihren eigenen Gründen und Folgen, sie verändert sich. Die Wirklichkeiten haben nur vorübergehenden Bestand und ihre Darstellungen auch. Die Enzyklopädie dekretiert keine neuen Prinzipien aus himmlischen Beobachtungslagen. Sie zeigt die Dinge, aber weniger um eine letztgültige Inventur aller bekannten Dinge und Begriffe vorzunehmen, sondern sie lehrt sie mit eigenen Augen und Fragen zu sehen. Verstehen heißt nicht, die Dinge im Namen der Wahrheit zu entdecken, sondern ein Gespräch zu entfachen, was sie uns sein können. Morgen gibt es andere Fragen und andere Dinge.
Und da setzt der Betriebsunfall der Aufklärung ein, den - so fürchte ich - nur Aufklärer gesehen haben. Der Mensch findet sich in diesem gigantischen Buch nur als Stichwort unter anderen Stichworten wieder. Und da steht, er kann nur deuten, was er sieht und erfinden, was er damit macht und auch sich selbst muß er immer wieder deuten. Das ganze kolossale Wissenskompendium schickt am Ende auf das Abenteuer des Vorläufigen und Vergänglichen. Als Diderot 1784 im Alter von 71 Jahren starb, durfte man sagen, er hat sein reiches Leben lang das Glück der Vergeblichkeit genossen. Aber er hat sehr genau gespürt, daß die alteuropäische Dunstglocke aus Religion, ewigen Ideen und anderen Wahrheitstempeln schwer auf den Seelen lastete. Seine Romanparodie Jakob und sein Herr handelt davon, daß die Vernunft kein Heilsweg ist, sondern ohne die List des Glücks auch nur ein fundamentalistisches Dogma. Natürlich wollte er das nicht beweisen, sondern als Hypothese der Freundlichkeit heiter durchspielen.
Die Ausgabe von Denis Diderots Fastroman Jacob und sein Herr, die jetzt in Hans Magnus Enzensbergers bibliophiler Reihe herausgekommen ist, tut alles dafür, das Buch als preziös entrückte Kostbarkeit zu verkaufen. Im gediegen designten Klassikerlook lesen wir die Übersetzung von Mylius aus dem Jahre 1792, die die Umständlichkeiten eines uns entrückten Deutsch bis in die Orthographie getreulich bewahrt, zwei rabbeigaben - ein zeitgenössischer Nachruf auf Diderot und seine von der ochter geschriebene Lebensgeschichte -, all das reicht nicht aus, das Buch m Orkus abendländischer Kunstsinnigkeit zu verklappen. Im Gegenteil, im Textbauch gluckst der Spott über den Raritätenfake.
Bevor ich mich jetzt von Ihnen verabschiede, liebe Unbekannte, die mir schon fast ans Herz gewachsen ist, auch wenn ich Sie nur erfunden habe, um die Frische eines ziemlich alten Buches im anekdotischen Spaziergang zu demonstrieren, bevor ich Sie also ihrem Schicksal überlaße, versichere ich Ihnen: Ich wollte Sie nicht erschrecken. Allein, es war unvermeidlich, denn auf unserem von Kontrolltürmen überschatteten Lebensgelände und in unserer apparatebestückten Welt gilt allein der Gedanke, wir befänden uns auf einem langen Blindflug durchs Labyrinth als sicheres Anzeichen keimenden Irrsinns. Adieu, meine Liebe, gleiten Sie ruhig dahin. Die Zeiger der Armaturen beruhigen Sie. Wenn die Sonne mal kurz hinter den Wolken verschwindet, spiegelt sich vielleicht Ihr Gesicht auf dem Glas des Tachos: Es sieht so aus, als hätten Sie die Kontrolle und wüßten, was Sie kontrollieren - doch: wer sind Sie: Kapitänin oder Gast?
"Und ich lege hier meine Feder nieder; (...) Laut gewissen Schriften, die ich in Händen halte, könnte ich zwar das Fehlende ielleicht ergänzen; aber wozu das? Man kann sich nur für das interessieren, was man für wahr hält. Indes weil es zu kühn sein würde, ohne weitere Untersuchung über die Gespräche Jakobs, des Anhängers von dem System des Fatalismus, und seines Herrn, ein Urtheil zu fällen (...), so will ich diese Memoiren mit aller der Anstrengung des Geistes und aller der Unparteilichkeit, deren ich fähig bin, von neuem durchlesen, und nach acht Tagen euch, meinen Lesern, mein Endurtheil bekannt machen, wobey ich mir aber voraus bedinge, meine Meinung zurücknehmen zu dürfen, sobald ein Klügerer mir beweist, daß ich mich betrogen habe."
"Am Ende der bunten und köstlichen Odyssee von Jakob und seinem Herren hüllt sich der Erzähler all der kuriosen Begebenheiten und Räuberpistolen in Skepsis. Alles entspräche nur einem vorläufigen Kenntnisstand, der überdies bloß persönlich und methodisch nicht gesichert sei. Und ich darf den künftigen Leser schon jetzt darauf vorbereiten, daß eine ganz entscheidende Sache nicht berichtet wird, nämlich Jakobs Liebesgeschichte. Zwar hebt er hundertmal an, Sie zu erzählen, aber ebenso oft wird er unterbrochen, fällt ihm sein Herr ins Wort oder ein überraschendes Ereignis in die Parade. Denn Jacob und sein Herr palavern nicht auf der Bühne der Philosophie, sondern beim Durchstreifen der Welt und auf der Suche nach Jacobs Liebesgeschichte.
Da meine rollende Zuhörerin bald in Bergisch Gladbach angekommen sein wird, bleibt mir nicht genug Zeit von diesem Paar zu schwärmen, daß gegen Ende des 18. Jahrhunderts schwatzend durch die Gegend reitet und in aller, aber wirklich aller Beiläufigkeit die Welt auf den Kopf stellt. Dabei kommen keineswegs revolutionäre Phrasen über ihre Lippen. Im Gegenteil, der Herr verprügelt gelegentlich seinen Diener, den das manchmal schert und manchmal nicht. Das ist seine Freiheit, die indes über durchaus erhebliche Machtmittel verfügt. Denn der Herr ist ohne seinen Diener nichts. Wenn der Knecht nicht spurt, kann der Herr ihn totschlagen, aber über wen wäre er dann noch Herr? Und wenn er selbst sein Pferd striegeln muß was unterscheidet ihn dann noch vom Knecht?
Nicht umsonst heißt Jakob Jakob und nicht bloß Knecht, der Herr aber bloß und immer nur Herr, denn Jakob kennt die Macht seiner Knechtschaft. Er ist Individuum, der Herr soziale Rolle. Und meine blonde Corsa-Lenkerin wird jetzt denken: Na bravo, die Sklaven sind frei, leider in Ketten, was kriegt die Radiostimme eigentlich vom Arbeitgeberverband? Leider nichts, darf ich sagen, möchte allerdings die Hoffnung hinzufügen, daß etwas mehr Sinn für die Dialektik der Freiheit solche Verbände teurer zu stehen käme als die mechanischen Aufwallungen bleicher Sozialdemokratie. Außerdem ist der Diener Jakob nicht glücklich als Diener, sondern weil er nicht Herr ist, sondern Herr seines Herrn. Und nebenbei bemerkt, es geht hier nicht um eine Betriebsanleitung für die neue oder alte Mitte, sondern um einen Roman, der davon erzählt, daß die Dinge nichts mit ihrem Namen zu tun haben oder mit dem, was sonst noch draufsteht. Auf ihrem denkwürdigen Ritt durch das Frankreich ihrer Tage begegnen die beiden Nachfahren von Don Quixotte und Sancho Pansa auf Mönchen, Huren, Räubern, die selten ihren Berufsbezeichnungen Ehre machen. In Diderots Roman beginnt, was den französischen Roman noch mindestens ein Jahrhundert lang unter dem Dampf schier unerschöpflicher Erregung hält: die staunende Besichtigung der real exisitierenden Wirklichkeit, die Landvermessung in Prosa. Es beginnt damit überhaupt der Siegeszug der Gattung Roman.
Was allerdings für Diderot so auch nicht ganz stimmt, denn auf dem Umschlag von Jakob und sein Herr steht gar nicht Roman drauf. Allerdings mischt sich unüberhörbar ein Erzähler in den Dialog von Jakob und seinem Herrn ein. Frank und frei bekennt er sich als Erfinder seiner beiden plaudernden Helden und läßt uns teilhaben an den technischen Problemen eines Erzählers, der erwägt, seine Helden in einen Unfall oder in eine tolle Liebesnacht zu verwickeln, um sie dann doch lieber in eine wilde Prügelei zu schicken, an deren Ende er uns bekundet, er wüßte auch nicht, warum die Geschichte jetzt so gelaufen wäre. Was für ein Erzähler, der solche Hinweise gibt: "Es ist klar, wie der Tag, daß ich keinen Roman schreibe, weil ich das aus der Acht lasse, was ein Romanschreiber zu nutzen gewiß nicht ermangeln würde. Wer es für wahr nimmt, was ich da sage, irrt vielleicht weniger, als wer es für Mährchen hält."
Zweihundert Jahre später werden sogenannte Nouveaux Romanciers aus Frankreich, die sich dann in der ganzen Welt fortgepflanzen, ehrfürchtig bestaunt und mit Preisen überhäuft, weil sie mit genau jener Poetik von Diderots Erzähler die furchterregenden Programme einer umstürzlerischen literarischen Avantgarde konstruieren, die nie jemanden verwirrt und nie das Geringste umgestürzt haben. Allerdings möchte ich damit nicht behaupten, Diderots Roman sei immer noch aktuell oder mindestens so aktuell wie heutige Erzählkunstakrobaten. Ich würde eher sagen, er steht uns erst noch bevor, sollten wir je auf die Idee kommen von der Literatur anderes als ihren alimentierten Schwanengesang zu verlangen. Diderot jedenfalls wollte nämlich gar keine Kunst machen und schon gar nicht die Literatur zu einer Enklave seelischer Lustbarkeit in einer tüchtig funktionierenden Welt. Der Glaube an die Kunst als Nachfolgeorganisation der Religion fehlt ihm ganz - so verblüffend ganz, daß man glaubt, das Abendland hält mal die Luft an. Und in seinem Artikel über Kunst in der großen Enzyklopädie hält Diderot böses Gericht über die wertende Einteilung der Künste in freie und mechanische:
"Dieser Unterschied, obwohl gut begründet, rief eine schlechte Wirkung hervor; denn er setzte das Ansehen sehr achtbarer und nützlicher Menschen herab und bestärkte uns in einer natürlichen Faulheit, die uns schon von vorneherein allzu sehr zu dem Glauben neigen ließ, daß eine beständige, ununterbrochene Beschäftigung mit wahrnehmbaren, materiellen Einzelgegenständen eine Entwürdigung des menschlichen Geistes bedeute und daß die Ausübung, ja sogar das Studium der mechanischen Künste erniedrigend sei, weil die Erforschung solcher Gegenstände mühsam, das Nachdenken über sie unedel, ihre Darstellung schwierig, ihr Austausch entehrend, ihre Zahl unerschöpflich und ihr Wert gering sei. (...) Dieses Vorurteil trug dazu bei, die Städte mit hochmütigen Schwätzern und unnützen Betrachtern und das Land mit unwissenden, faulenzenden und anmaßenden kleinen Tyrannen zu füllen. (..) Man hat die Männer, die uns eingeredet haben, wir seien glücklich, weitaus mehr gelobt als die Menschen, die dafür gesorgt haben, daß wir tatsächlich glücklich wurden. Wie wunderlich sind doch unsere Urteile! Wir fordern, daß man sich nützlich mache, und verachten die nützlichen Menschen."
Inzwischen, meine sehr verehrten Hörerinnen und Hörer, hat mich unsere blonde Opel-Corsa-Pilotin per Handy wissen lassen, ihr reiche es allmählich. Erst preiste ich diesen Diderot an, weil in seinem Roman bis zum Schluß Jakobs Liebesgeschichte nur angefangen wird, doch sie möchte allmählich mal erfahren, was denn daran toll sein soll und was denn sonst eigentlich in diesem Roman steht. Noch zwei Minuten, dann drehe sie mir den Redehahn per Sendersuchtaste ab. - Gemach, Verehrteste, ich freue mich, daß wir jetzt über das Geschwirr des Äthers doch so eng aneinander geraten sind, - beinahe hätte ich gesagt: von ungefähr. Doch ich will Sie nicht provozieren, wohl aber meinerseits zurückfragen: Wissen Sie mittlerweile, wer Sie sind? Kommen Sie mir bitte nicht mit den Geschichten, die Sie für Gründe halten. Das hatten wir schon. Und sehen Sie, genau davon handelt Diderots Roman, der kein Roman sein will: daß wir das nicht können - uns in die Deckung irgendeiner Wahrheit bringen. Jakob - der gewitzte Held - kennt eigentlich nur eine reichlich schlichte Lebensmaxime, und die verdankt er auch noch seinem früheren Hauptmann, der erkannt zu haben glaubte, daß alles, was uns hernieden Gutes oder Böses begegne, dort oben geschrieben stehe. Das klingt sehr streng und klingt nach allem, was das Abendland seit 2000 Jahren bis heute zusammenhält: Irgendwo modert die Schriftrolle der Wahrheit, aber deren Text verstehen nur Päpste, Kaiser oder Philosophen - denen heute die Dreifaltigkeit von Dichtern, Bankern und Experten entsprechen mag. Aber Jakob, dem es erschreckend an dienender Demut fehlt, zieht daraus einen atemberaubend anderen Schluß:
"Weil man, in Ermangelung an Kenntnis von dem, was dort oben geschrieben steht, weder weiß, was man thun soll, noch was man thut, und seinen Grillen folgt, die man Vernunft nennt, oder seiner Vernunft, die oft nichts weiter ist, als eine gefährliche Grille, welche bald zum Guten, bald zum Bösen ausschlägt."
Lassen Sie also ruhig Ihr Handy zirpen, liebe lifestylemobile Dame jetzt kurz vor Bergisch Gladbach: welche Grille hüten Sie denn gerade? Sind Sie nicht deshalb so sauer, weil ich Ihnen keine sauber abgepackten Erkenntnisse oder Wallungsblumen überreiche? Sie machen sich doch beinahe in Ihre adretten Strumpfhosen, wenn sich Ihnen auf leisen Socken die Ahnung nähert, daß Sie keine Ahnung von sich haben. Kein Text. Nirgendwo, wo Ihr süßes letztes Geheimnis eingeschrieben stünde. Und wissen Sie, warum ich diesen Diderot so liebe und seine Romane, die keine sind: Weil keine Zeile den Göttern abgetrotzt ist, an die Sie, Verehrteste, zwar auch nicht mehr glauben, aber ohne die sie sich gleich im Meer schwarzer Gleichgültigkeit versinken fühlen. Sie harren im Zustand der Erbsünde. Oder modern gesprochen: Sie laufen als ungedeckter Scheck durch die Welt. Sie harren der gerechten Strafe, aber einstweilen halten Sie es für Ihr Verdienst, daß man sie noch nicht aufgespürt hat.
Nichts Letztes wissen zu können, heißt im schönsten Sinne, nicht im Schatten der ewig ausstehenden Wahrheit leben zu müssen. Was Sie, liebe wütende Hörerin, die ich Sie dennoch bitte bei Ihrem nächsten Anruf eine Nummer zwecks weiterer Klärung zu hinterlassen, was Sie von Jakob lernen könnten, ist Leben ohne Gebrauchsanweisung und Sinngerichtshöfe. Dafür allerdings gibt es keine Gebrauchsanweisung und deshalb lehnt der Erzähler von Jacob und sein Herr jede Zuständigkeit für Ihre Erbauung ab. Er hat Ihnen nichts zu erklären und möchte Sie nicht bezirzen mit den Tröstungen einer Geschichte, wo sich alles fügt, weil er die Welt nicht zeigt, sondern zeigt, wie er sie produziert, wie Jakob mit der Welt in Berührung kommt, weil er sie für seinen Herrn betritt, während der Herr das Schicksal dessen erleidet, der von der Welt nur in Kenntnis gesetzt werden will. Wissen Sie, bei Diderot finden Sie in schönster und leichtester Form den ketzerischsten Traum der ganzen Welt: Leben ist kostbares Vergehen. Und übrigens bekomme ich durchaus Lust - von ungefähr natürlich - mit Ihnen zusammen, kostbar zu vergehen. "Weil er es war, weil ich es war", heißt es bei Montaigne über die Freundschaft. Könnten Sie das als Liebe leben?
Ich gebe zu, jetzt werde ich zu privat und beginne die Fäden zu verwirren, deren Tragkraft ja alleine darin besteht, daß mir irgend jemand seine geneigte Aufmerksamkeit schenkt. Ehrlich gesagt, liegt die Schwierigkeit auch ein wenig an Diderot oder vielmehr daran, daß er unvorstellbar quer zu unseren Weltbildern steht. In der Enzyklopädie lobt er grimmig die Nützlichen und warnt vor den selbsternannten Abgesandten des Tiefsinns. Ja, aber wo rangiert denn Denis Diderot selbst auf diesem Feld? Gehörte er nicht zu denen, die ihrem Jahrhundert das neueste Licht der Erleuchtung angezündet haben: die Aufklärung, ein Meisterwerk philosophischer Schöpferkraft. Vielleicht war Diderot nicht nur der erleuchtetste Kopf des Erhellungsunternehmens, mit einiger Sicherheit war er der Nützlichste und der Fleißigste, denn er hat in jener vielbändigen Antibibel der Aufklärung nicht nur fleißig geschrieben, sondern die große Enzyklopädie sogar mitherausgegeben. Das hat ihn nicht nur ins Gefängnis, in tausenderlei obrigkeitstaatliche und permanente finanzielle Schwierigkeiten gebracht; in seinen naturwissenschaftlichen, technischen, philosophischen und literarischen Werken steckt ein unermeßliches Arbeitspensum, aber kein Hauch von Faustischem. Man hat gesagt, die Enzyklopädie habe das Wissen ihrer Zeit anschaulich zusammengefaßt und zugänglich gemacht. In Wahrheit hat sie jede frühere Vorstellung von Wissen überschritten und ihren Begriff verändert. Bis ins kleinste Informationsdetail lassen die vielen Bände des Lexikons die Welt aus der Welt entstehen. Kein Gott weit und breit, auch keine Dämonen, keine Säfte des Guten oder andere Garantiemächte. Die Welt besteht aus ihren eigenen Gründen und Folgen, sie verändert sich. Die Wirklichkeiten haben nur vorübergehenden Bestand und ihre Darstellungen auch. Die Enzyklopädie dekretiert keine neuen Prinzipien aus himmlischen Beobachtungslagen. Sie zeigt die Dinge, aber weniger um eine letztgültige Inventur aller bekannten Dinge und Begriffe vorzunehmen, sondern sie lehrt sie mit eigenen Augen und Fragen zu sehen. Verstehen heißt nicht, die Dinge im Namen der Wahrheit zu entdecken, sondern ein Gespräch zu entfachen, was sie uns sein können. Morgen gibt es andere Fragen und andere Dinge.
Und da setzt der Betriebsunfall der Aufklärung ein, den - so fürchte ich - nur Aufklärer gesehen haben. Der Mensch findet sich in diesem gigantischen Buch nur als Stichwort unter anderen Stichworten wieder. Und da steht, er kann nur deuten, was er sieht und erfinden, was er damit macht und auch sich selbst muß er immer wieder deuten. Das ganze kolossale Wissenskompendium schickt am Ende auf das Abenteuer des Vorläufigen und Vergänglichen. Als Diderot 1784 im Alter von 71 Jahren starb, durfte man sagen, er hat sein reiches Leben lang das Glück der Vergeblichkeit genossen. Aber er hat sehr genau gespürt, daß die alteuropäische Dunstglocke aus Religion, ewigen Ideen und anderen Wahrheitstempeln schwer auf den Seelen lastete. Seine Romanparodie Jakob und sein Herr handelt davon, daß die Vernunft kein Heilsweg ist, sondern ohne die List des Glücks auch nur ein fundamentalistisches Dogma. Natürlich wollte er das nicht beweisen, sondern als Hypothese der Freundlichkeit heiter durchspielen.
Die Ausgabe von Denis Diderots Fastroman Jacob und sein Herr, die jetzt in Hans Magnus Enzensbergers bibliophiler Reihe herausgekommen ist, tut alles dafür, das Buch als preziös entrückte Kostbarkeit zu verkaufen. Im gediegen designten Klassikerlook lesen wir die Übersetzung von Mylius aus dem Jahre 1792, die die Umständlichkeiten eines uns entrückten Deutsch bis in die Orthographie getreulich bewahrt, zwei rabbeigaben - ein zeitgenössischer Nachruf auf Diderot und seine von der ochter geschriebene Lebensgeschichte -, all das reicht nicht aus, das Buch m Orkus abendländischer Kunstsinnigkeit zu verklappen. Im Gegenteil, im Textbauch gluckst der Spott über den Raritätenfake.