Samstag, 27. April 2024

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Jahresbericht "Reporter ohne Grenzen"
"Journalisten werden zu Feinden"

"Die Situation der Pressefreiheit ist schlechter geworden", fasst Christian Mihr, Geschäftsführer von "Reporter ohne Grenzen", zusammen. Schuld sei die zunehmende Anzahl von verfallenden Staaten und privaten Gewaltakteuren. Journalisten würden in den Augen von Milizen wie IS oder Drogenkartellen zu Feinden, weil sie unangenehme Informationen vermittelten.

Christian Mihr im Gespräch mit Stefan Koldehoff | 16.12.2014
    Die verurteilten Journalisten in einem Käfig vor Gericht
    Sieben Jahre Haft: 2014 wurden Al-Jazeera-Reporter in Ägypten verurteilt. (dpa / picture-alliance / Tarek Wajeh / Almasry Alyoum)
    Stefan Koldehoff: 37 Prozent mehr Entführungen von Journalistinnen und Journalisten im Jahr 2014, verglichen mit dem Vorjahr. Das ist wohl die erschreckendste Zahl der Jahresbilanz, die die Organisation Reporter ohne Grenzen heute veröffentlicht hat. 119 Entführungen gab es weltweit, jeden dritten Tag eine also, die meisten davon in der Ukraine, dann folgen Libyen und Syrien. 178 Journalisten sind zurzeit in Haft, die meisten davon in China. Und: 66 Journalisten, 19 Bürgerjournalisten und 11 Medienmitarbeiter wurden wegen ihrer Arbeit in diesem Jahr getötet. Ich habe Christian Mihr, den Geschäftsführer des Verbandes Reporter ohne Grenzen, gefragt: Entführungen und Tötungen sind wahrscheinlich die schlimmsten Gräuel, mit denen Sie zu tun haben. Wie steht es denn insgesamt 2014 um die Pressefreiheit?
    Christian Mihr: Na ja, weltweit ist die Pressefreiheit tatsächlich unter einem sehr großen Druck, und ich würde sogar fast sagen, die Situation der Pressefreiheit ist schlechter geworden, und da gibt es ein paar Ursachen, die sich eigentlich schon seit mehreren Jahren abzeichnen. Eine Ursache ist, dass wir es weltweit eigentlich immer mehr mit zerfallenden Staaten zu tun haben, im Prinzip das staatliche Gewaltmonopol, das es ja oft gibt, das auch Rechte und auch Sicherheiten irgendwie garantiert, in vielen Ländern der Welt eigentlich nicht mehr existiert und wir private Gewaltakteure wie Drogen-Guerilla, wie ISIS in Irak/Syrien beobachten, wie in Somalia, wie in Pakistan, die im Prinzip Pressefreiheit nicht als ein schützenswertes Gut betrachten qua Staatswillen, sondern das sind alles private Akteure. Und das ist sicherlich eine weltweite Entwicklung, die zu einer Verschlechterung auch beigetragen hat.
    Koldehoff: Das sind die Rahmenbedingungen. Warum werden Journalisten dann zu Zielen? Warum werden sie zu Feinden?
    Mihr: Na ja, Journalisten werden natürlich zu Feinden, weil sie Informationsvermittler sind und Informationen vermitteln, die manchen Kriegsparteien oft ein Dorn im Auge sind, und das ist wirklich die ganz fatale Entwicklung auch der jüngsten Jahre, dass auch verbriefte Rechte, auch völkerrechtlich verbriefte Rechte von Journalisten von solchen privaten Gruppen, Guerilla-Gruppen, Terrorgruppen im Prinzip noch nicht mal im Ansatz mehr ernst genommen und respektiert werden und im Prinzip einer Logik folgen, "Wenn Du nicht für mich bist, dann bist Du gegen mich", und zwingen Journalisten, Partei zu ergreifen. Und das ist natürlich ein Angriff auf das Wesen des Journalismus, denn Unabhängigkeit ist eine wesentliche Voraussetzung für Journalismus.
    Repressionswelle in der Türkei
    Koldehoff: Gerade in der vergangenen Woche kamen wieder erschreckende Meldungen aus der Türkei, die kein zerfallender Staat ist, die als Demokratie gerne wahrgenommen werden möchte. Mehr als 100 Journalisten sind dort von Staatswegen verhaftet worden. Das passt eigentlich nicht in Ihr Erklärungsraster, oder?
    Mihr: Na ja, doch. Wir beobachten natürlich auch, das ist sozusagen eine weitere Ursache. Wir haben eine wesentliche Ursache und eine weitere Ursache ist, dass wir natürlich autoritäre Muster in vielen Ländern sehen, und in der Türkei sehen wir natürlich viele Rückschritte in den vergangenen Jahren. Das ist aber ja auch sozusagen nur ein weiterer Mosaikstein in der Repressionswelle, die wir in der Türkei beobachten, die Festnahmen, die wir da jetzt gerade gezählt haben.
    Koldehoff: Herr Mihr, Reporter ohne Grenzen veröffentlicht dann relativ schnell immer Hinweise auf solche Aktionen und bittet um Solidaritätserklärungen. Welche Erfahrung hat Ihre Organisation damit gemacht? Was bewirken diese Appelle? Werden sie wahrgenommen?
    Mihr: Unterschiedlich. Aber wir machen tatsächlich in vielen Fällen die Erfahrung, dass gerade das Nennen von Einzelfällen, das Nennen von einzelnen Journalistennamen, die in einer Bedrohungssituation sind, die eine Bedrohungserfahrung erlebt haben, manchmal trotzdem auch ein Schutzmechanismus ist für Journalisten, die ein Angriffsziel sind, ein potenzielles Angriffsziel sind, und das ist zumindest auch eine Lektion, die wir haben, weswegen wir auch immer wieder natürlich Namen öffentlich machen. Davon abgesehen ist natürlich jeder einzelne Fall, der ganz traurig ist, wichtig für unsere politische Arbeit in Gesprächen mit Regierungen, dass wir auch auf die Fälle hinweisen können, die wirklich vielleicht symbolisch sind für ein generelles Problem, und das ist die Straflosigkeit für Verbrechen an Journalisten. Und da ist natürlich jeder einzelne dokumentierte Fall auch hilfreich letztlich, um langfristig was zu bewirken und zum Beispiel auch vielleicht darauf hinzuwirken, dass die UNO-Resolutionen, die es ja gibt gegen Straflosigkeit, vielleicht dann doch noch mal besser umgesetzt werden, als sie das bislang werden.
    Koldehoff: Erfahren Sie da ausreichend Unterstützung aus der Politik? Wenn Reporter ohne Grenzen auf Einzelschicksale hinweist, beteiligt sich dann beispielsweise die Bundesregierung?
    Mihr: Das ist unterschiedlich. Ich würde sagen, es gibt immer Länder, in denen es einfacher ist, in denen es der Bundesregierung einfacher fällt, sich zu engagieren, dort wo die politischen und wirtschaftlichen Interessen geringer sind. Es gibt aber auch Länder, in denen es schwieriger ist. Auf der praktischen Ebene arbeiten wir zum Teil auch wirklich kooperativ da mit dem Auswärtigen Amt zusammen, wenn es zum Beispiel um die Flucht geht von Journalisten aus Aserbeidschan, um nur mal ein Land zu sagen.
    Koldehoff: Der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.