Nach Ostende fährt man heute meist, wenn man die Fähre nach England nimmt. Ende des 19. Jahrhunderts aber war das ein mondäner Badeort. James Ensor ist dort aufgewachsen und zeitlebens geblieben, mit einer kurzen Unterbrechung zwecks Ausbildung an der Brüsseler Akademie. Ein Einsiedler mit Atelier auf dem elterlichen Dachboden, ein Außenseiter, der spät doch noch geehrt und sogar Baron wurde. Aber was heißt das schon? Der Vater war Säufer, die Mutter hatte einen Souvenirladen, wo Muscheln ebenso wie japanische Fächer und Karnevalsmasken verkauft wurden; und als Ansammlung von Masken erscheint bei Ensor die gesamte bürgerliche Gesellschaft, in einer seltsam verwischten Malweise und in bleichen Farben.
Die Basler Ausstellung enthüllt ein paar bislang unterbewertete Aspekte im Werk des James Ensor, geboren 1860: Natürlich kann man da vieles als symbolistisch und manches als surreal auffassen – aber, Entschuldigung, hat man mal die genialen Seestücke des jungen Ensor wahrgenommen? Die frühen, tristen, dunkelbraunen Intérieurs, wo die gesamte dekadente Mattigkeit des abtretenden Bürgertums zu Hause ist? Die virtuosen Kreidezeichnungen des noch nicht 20-Jährigen, der nach Daumier, Rembrandt und Delacroix kopierte und später mit wenigen Strichen Akte oder seltsame Insektenschwärme fabrizierte?
Gleich im ersten Saal sehen wir einen in milchigem Licht liegenden Badewagen am öden Strand, den der 16-jährige Ensor gemalt hat, daneben ein graues spätimpressionistisches Seestück, bei dem die schon fast abstrakt aufgefassten Streifen von Strand und Meer wie mit dem Messer aufgespachtelt scheinen. Dann die Dächer von Ostende, die mit ihren hellen Himmeln wie eine Vorwegnahme der großen Stadtansichten von Kokoschka wirken. Und natürlich die großformatige "Austernesserin", die – wegen der sexuell konnotierten Austern – 1882 ein Skandal war, aber im Grunde ein verkapptes Stillleben ist, eine in schimmernden Farben gemalte Feier der Dinge, der Flaschen, Teller, Flüssigkeiten, Früchte, Blumen und weißen Tischtücher.
Von solchen Freundlichkeiten geht es geradewegs in die Albträume: zu den Totenköpfen, Insekten mit menschlichem Antlitz, den bildfüllenden Massenaufmärschen einsamer Schädel vor einer Kathedrale. Die Ausstellung versucht, im Wechsel zwischen Malerei und Papierarbeiten einen Rhythmus zu finden; die ganze lange Raumflucht ist abwechselnd mit Ölbildern, Zeichnungen und dann wieder mit der für Ensor wichtigen Druckgrafik bespielt. Manches an dieser Inszenierung wirkt etwas zäh, aber das liegt auch an den vielen kleinformatigen Papierarbeiten, die oft – klaustrophobisch - mit ganzen Massen von Figuren vollgestellt sind – wie der "Einzug Christi in Brüssel", das hier als Radierung zu sehen ist.
Obgleich man in Basel die "Masken" titelgebend in den Vordergrund rückt, also das, was man kennt, ist Ensors Beschäftigung mit dem Licht fast noch wichtiger. Von den Hell-Dunkel-Kontrasten der frühen Zeichnungen geht es zu monumentalen Gemälden wie der "Vertreibung aus dem Paradies", wo Adam und Eva zwei erdbraune kleine Gestalten sind, über die ein vage anthropomorpher Gott in einem Lichtsturm hinwegbraust. Schlimmer noch und blutig zerfasert der "Fall der rebellischen Engel" von 1890.
Trotz dieser angstvollen Weltsicht malt Ensor sich selbst ein Jahr später ganz sachlich vor der Staffelei, zeigt Wellen und Lichtschwingungen über der Stadt oder beschaut in kühlen Stillleben Früchte und Krustentiere.
Zentral dann der Karneval der untergehenden Großbourgeoisie, der sich über viele Jahre durchs Werk zieht, die Skelette, Pierrots, Gehenkten und Masken. Sie sind im letzten Saal majestätisch inszeniert – wobei diese den Tod höhnisch ins Bild setzenden Werke immer noch rätselhaft sind, irritierend und fremd. Die wahren Gesichter dieser Damen und Zylinderträger sind meist maskenhafter als die Masken; nimmt man dazu die bärtigen Hexen, die vogelgesichtigen Teufel, die sieben Todsünden, die schlechten Ärzte, dann ist von dem Ästheten Ensor, der mit Fernand Khnopff studierte, nur noch der Paniker und Paranoiker Ensor übrig. Kubin, Klee und Nolde haben sich an Ensor aufgeladen, und sein Spätwerk entstand, als Marcel Proust die verlorene Zeit suchte. In dieser Ausstellung aber siegt das Groteske und Makabre, und in Erinnerung bleibt jenes verzerrte Selbstporträt, in dem James Ensor sich als Jesus zeigt, als grimassierenden Schmerzensmann.
Die Ausstellung "Die überraschten Masken" ist noch bis zum 25. Mai 2014 im Kunstmuseum Basel zu sehen.